Die private Vorgeschichte
Bilder aus dem Lehrer-Kollegium meines Vaters, 50er Jahre (Fotos privat).
Eine Konferenz
Zentral: Direktor „Peach“ Paul Müller
Ein eher privates Treffen
Mein Vater, nach einem Chor-Konzert, entspannt mit Frau und Kind (*1950), ihm zur Seite zwei Kollegen: „Eule“ Klaus und „OWB“ Oberwahrenbrock, etwa 1956. Meine Mutter datierte Fotos oft mit dem Hinweis: „Das war nach seiner ersten (oder zweiten) Operation.“
Die offizielle Präsentation
1.Reihe ganz links und ganz rechts:
Artur Reichow (1901-1959) ← Ltg. Winkler → Hellmuth Dempe (1904-1990)
(Lebensinhalt: Übungen für das komplexe Klavierspiel)
(Lebensinhalt: die Wahrheit des einfachen Lebens)
„Unsere“ letzten 50er Jahre:
Mein Vater und meine Mutter, Spätsommer 1957, im Café Freudental, vor seiner letzten Operation. Wird alles neu? Das neue (alte) Holz-Haus am Paderborner Weg 26 – auf der anderen Seite der Bielefelder „Promenade“, also der Stadt zugewandt – hatte ihm (oder vor allem ihr?) einen Lebenswunsch erfüllt. Nur zum Schein hatte er damals fürs Foto auch noch einen Pinsel in die Hand genommen.
oben Artur, unten (v.r.n.l.) Gertrud, Jan, Bernd
Es muss dieses letzte Kaffeetrinken gewesen sein, bei dem Hellmuth Dempe hinzustieß, wie meine Mutter berichtete: die beiden Kollegen diskutierten und gerieten in Streit. Worüber? Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie über pädagogische, disziplinarische Fragen völlig unterschiedlicher Ansicht waren: mein Vater autoritär, leicht aufbrausend, Dempe philosophisch, auf sokratisches Gespräch vertrauend, zumindest „offiziell“. Wahrscheinlich beide mit Hang zur Rechthaberei. Oder war es „der vegetarische Gedanke“? (Buch Seite 90). Brisant auch für meine Mutter, ebenso Dempes Verehrung für Albert Schweitzer. Dempe war 3 Jahre jünger als mein Vater, hatte aber zum Zeitpunkt des Streitgesprächs – im Gegensatz zu ihm – noch 30 Jahre der Entwicklung vor sich. Und wenn man meint, er habe sich an einige unantastbare philosophische Autoritäten geklammert, „im Anschluss an Platon“, so mag eine Passage über die“ sokratische Methode“ uns aufklären: da gebraucht er zwar ungeniert die Formulierung von einem möglichen „geistigen Führer des Volkes“, spricht aber zugleich von einer notwendigen „Reinigung [dieser Methode] von den mancherlei Fehlern und Zufälligkeiten, mit denen sie ihr Schöpfer ins Leben gerufen und entwickelt hatte.“
Ich hätte damals, als ich selbsttätig die Lektüre des Fischerbuchs „Sokrates im Gespräch“ begonnen hatte (1955), dann mit dem rde-Band „Der Tod des Sokrates“ von Romano Guardini (1958) und drei Bänden Schleiermacher-Übersetzungen fortfuhr und mich dauerhaft für das Thema begeisterte, von Dempe ernsthaft lernen können. Oder auch gerade nicht, – während es tatsächlich einem vorübergehenden Lehrer wie Karl Ernst Nipkow mit der AG „Moderne Lyrik“ spielend gelang. So dass ich mich zugleich von Albert Schweitzer und seiner Bach-Frömmigkeit verabschiedete, für die der alternde Dempe noch in diesem späten Buch treuherzige Elogen schrieb.
Die Übungen der Breithaupt-Methode, der unser Vater am Klavier anhing, lehnten wir ab (mein älterer Bruder und ich), weil sie nicht zur absoluten Selbständigkeit der Finger zu führen schien. Aber wie er schwor ich später auf eine Sammlung von konzentrierten Einzel-Übungen (André Stoyanov), mit deren Hilfe ich glaubte allen technischen Schwierigkeiten des Klaviers gewachsen zu sein. S.a. hier.
Zu Dempes Schrift
Der Herausgeber seiner Schriften wurde Frieder Lötzsch, – Theologie-Professor in Münster, interessanterweise ein ehemaliger Klavierschüler meines Vaters. Bei einem Treffen der Ehemaligen im Bielefelder Ratsgymnasium hatte er einen Tisch mit eigenen Schriften aufgestellt. Wir haben jedoch bei dieser Gelegenheit unsere Kindheitsbekanntschaft nicht aufgefrischt.
Was mich bewogen hat, jetzt plötzlich diesen Lehrer unserer Schule, dessen Unterricht ich nie unmittelbar genoss, als Pädagogen so ernst zu nehmen, wie nie zu Zeiten meines Vaters? Es war der differenzierte tiefere Zusammenhang der beiden Lebensverläufe (nach 2 Weltkriegen!). Und: z.B. der folgende ungeschminkte Erfahrungsbericht über die (korrigierte) sokratische Lehrmethode, – exemplifiziert ausgerechnet an einem berühmten Heraklit-Satz, der mit dem Krieg als Vater aller Dinge zu tun hat oder zu haben scheint: aus der Sicht meiner Generation gehört das Thema unzweifelhaft in den Kompetenzbereich der Väter, die aber hier im realen Leben wohl beide jedes Wort darüber vermieden.
Quelle Hellmuth Dempe: Philosophie als Lebensform – Zur Wahrheit des einfachen Lebens / Essays im Anschluss an Platon / Herausgegeben mit einem Nachwort von Frieder Lötzsch / Reihe „Philosophische Plädoyers Bd.4 LIT Verlag Berlin 2006 (Seite 13 ff)
Noch etwas erinnere ich: der zweite Musiklehrer an unserer Schule, der den furchtbar unfähigen Eulenstein (?) ersetzte, hieß Georg Scheel, der offenbar in Berlin Studienkollege meines Vaters gewesen war und ernsthafte Ambitionen als Komponist entfaltete. Er war eines Abends bei uns zu Gast und hatte vorher den Wunsch geäußert, einen eigenen Text vorzutragen: über die Zukunft der Musik in einem modernen Staat. Den Entwurf hatte er allerdings nach dem Muster Platons entwickelt, so dass sich starke Einwände ergaben (etwa: das sei reichlich totalitär, – wobei dieses Wort nicht gebraucht wurde, aber ob und wie von meinem Vater, weiß ich nicht). Irgendwie entsprach das dem Zug der Zeit, neue, alte Grundlagen hochzuheben, wozu vielleicht auch gehörte, dass die Hitler-Zeit eher als Unfall eingestuft wurde. Ohne der Vergangenheit auch nur mit einem Wörtchen zu gedenken, eher der Tatsache, dass Georg Scheel „aus dem Osten“ kam. Im Unterricht erregte er mit dem Vortrag eines Klavierstücks aus op.11 von Schönberg spöttische Aufmerksamkeit, das seinen dürftigen pianistischen Fähigkeiten entsprach (sehr kurz und thematisch auf Terz-Intervall beschränkt). Er selbst komponierte eher markig-kernig für Schul-Chor mit Quart- und Quintklängen: „Bemeßt den Schritt! Bemeßt den Schwung! Die Erde bleibt noch lange jung! Dort fällt ein Korn, das ſtirbt und ruht. Die Ruh iſt ſüß. Es hat es gut.“
Zu den Themen des Dempe-Buches (Inhaltsverzeichnis):
Die Nummern 2., 6., 8. und 13. bezeichnen im antiken Versmaß gehaltene Gedichte des Autor, immer nur Höchstes wollend, entfernt an Goethes „Urworte. Orphisch“ gemahnend, die ich noch gläubig auswendig lernte, – bevor Gottfried Benn kam und für Radikalität sorgte. Einige Zeilen aus Dempes Nr.8 : „Eines im Vielen zu sein, / vieles im Einen zu tun, / Naht dann das Schöne im Sein, / reich in dem menschlichen Kreis, glänzt es im göttlichen Licht / über dem friedlosen Streit, / und das Gerechte erblüht. / Dunkelt die leidvolle Welt, / zeigt sich Gewalt überall, / Ichsucht und Torheit und Neid. / Aber die ordnende Zahl, / Eidos und Kosmos zugleich, / weist auf den Urgrund des Alls, / der nur dem Einen gehört.“ (…)
Ich dachte und denke nicht daran, in solchen Worten über die Gegenwart nachzudenken.
In Nr. 7 „Platon und das 20. Jahrhundert“ verweile ich im Abschnitt 7.8. und vermute, dass darin die eigentlich treibende Kraft für Dempe steckt: „Gegentendenzen aus philologischer Forschung“, darin der Satz: „Die eigenartige Mathematisierung der Wirklichkeit, wie sie in der platonischen Philosophie vorliegt, wird von führenden Physikern unserer Tage, z.B. HEISENBERG, als Vorahnung heutiger atomphysikalischer Anschauungen empfunden und gewürdigt.“ (Es lag in der Zeit: JR „Einstein und das Universum“ Fischerbuch Aug.1955).
Im vorhergehenden Text geht Dempe ausführlich ein auf „Die Tübinger Schule“ mit H.J.Krämer und K.Kaiser „Platons ungeschriebene Lehre“ – zwischen Plato und Plotin, eine Sammlung, „die uns ermöglicht, die esoterische Philosophie vor Augen zu stellen“. Ich hörte zum ersten Mal, welcher Kritik die Schleiermacher-Übersetzung, der ich immer kritiklos folgte, ausgesetzt war und ist.
(Fortsetzung folgt)
https://de.wikipedia.org/wiki/Ungeschriebene_Lehre hier
Jürgen Villers hier