Betrifft: Klaus Heinrich (1927-2020)
Dies ist eigentlich die Fortsetzung des allzu lang geratenen Artikels hier, in dessen Anfang soeben auch noch Neues gewandert ist…
Mein Anliegen war in diesem Fall zunächst nur: Stoff zu sammeln gegen die Propagierung einer lediglich digitalen Erfahrung der Musik, zugunsten einer im weitesten Sinne taktilen, körperlichen Beziehung. – Das losgelöst von solchen direkten Kontakten vorgestellte bloße Hören verleitet zu der Vermutung, man bewege sich damit auch schon im Vorhof reinen Geistes. Und nur noch ein Türchen sei zu öffnen. Allerhand eigene Irrtümer fallen mir dabei ein, gerade auch solche, die durch die „Avantgarde“ verursacht wurden. Der Gedanke an Weberns natur-mystische Ideen. Ebenso die voreilig esoterische Inspiration durch die neue Physik… Aber jetzt ist ein bedeutender Religionsphilosoph gestorben, von dessen Bedeutung ich keine Ahnung hatte. Erst die Nachrufe machen mich darauf aufmerksam, und so fehlt in meiner Reaktion der Trauergestus.
Zitat aus dem Resumee eines interessanten Gespräches, das Hier beim Deutschlandradio Kultur abzurufen ist. Der ausgedruckte Text stammt vermutlich ebenfalls von René Aguigah.
Digitalisierung bedroht die Selbsterfahrung
Die Digitalisierung – als ein mit der Globalisierung verwandtes Phänomen – sei zunächst ein Gewinn an technischen Möglichkeiten. Das Problem bestehe darin, dass diese Möglichkeiten „zentral werden und sozusagen uns vorgaukeln, die Substanz unserer Humanität zu sein“ – auch wenn zukünftige Generationen damit „vielleicht fertig werden“. Die „Mühsal“ der menschlichen Gattung sei historisch an erster Stelle auf die Überwindung von Raum und Zeit gerichtet gewesen. Für die Selbsterfahrung sei es jedoch entscheidend, zeitliche und räumliche Distanzen zu erfahren: „Ich muss Räume durchstreifen können, sonst kann ich mich selber nicht als ein räumliches Wesen wahrnehmen.“ Die Digitalisierung erzeuge eine bloße Illusion von Ort- und Zeitlosigkeit: „Ich kann nicht so tun, als wäre ich raumlos und zeitlos an irgendeiner anderen Stelle.“
Eine zentrale Gefahr sieht Heinrich im dadurch bedingten Schwund an Übersetzungsbedarf: Seit dem Beginn sprachlicher Verständigung sei diese auch, „bei jedem Laut“, ein Übersetzen gewesen. Sprachliche Übersetzung gelte „für die dunkelsten Regungen des Leibes“ ebenso wie für geistige Vorgänge. „Und Sprache als Übersetzung ist eigentlich das Medium, dessen wir zur Eroberung unserer Selbst und der Welt bedürfen, aber auch zum Sich-Zufriedengeben mit sich selbst und der Welt.“ Vor diesem Hintergrund sei es klar, dass „wo es keine Übersetzungsschwierigkeiten mehr gibt, wo Raum und Zeit als Transporteure dieses Übersetzens mehr oder minder ausgeschaltet sind, eine ungeheure Begrenzung, auch Verarmung der Triebwesen, die wir sind eintritt.“
Mit der Digitalisierung falle eine rasante Zunahme von Mobilität und Telekommunikation mit einem „Verlorengehen der leiblichen Präsenz“ zusammen, die „für uns, als Triebwesen, so ungeheuer viel bedeutet“. Dies zeige sich schon in den ersten „Sprachübungen“ der Gattung, die auch leiblich aufgenommen worden seien: Zwischenmenschlicher Kontakt basiere „unterhalb der Sprache“ auf einer „leiblichen Verständigung“ – wie sich etwa zeige, wenn wir uns unwillkürlich umdrehen, wenn uns jemand beobachtet oder in Ausnahmesituationen. Dafür fehle in den Vorstellungen der modernen Physik eine adäquate Erklärung – stattdessen, überlasse man das einer pseudowissenschaftlichen „Parapsychologie“. Für Heinrich ist das ein Beispiel für die unabgeschlossene Aufgabe der (Selbst-)Aufklärung: „Unsere Aufklärung tappt noch immer, auch dort, wo sie naturwissenschaftliche Aufklärung ist, auf unbekannten Pfaden – die sie bekannt machen sollte.“
Ich habe diesen Philosophen – wie gesagt – erst durch die Nachrufe der vergangenen Tage kennengelernt, zunächst durch JMR, der mich neugierig gemacht hat. Dann vor allem durch FAZ, auch SZ, aber vor allem heute durch die Kolumne von Peter Kümmel in der ZEIT. Allerdings hat mich nun auch das Wort „Parapsychologie“ wachgerüttelt. Habe ich etwa geschlafen? Früher wurde dann immer Shakespeare zitiert „…mehr Dinge zwischen Himmel und Erde…“, vermutlich falsch oder inhaltlich verzerrt. Er ist als Schauspieler und Dramatiker keine zitierbare Instanz: eine andere Figur seiner Dramen könnte das Gegenteil sagen und würde prompt nicht affirmativ zitiert.
Abgesehen davon, dass kaum jemand sich die Mühe macht nachzuprüfen, was das Shakespeare-Zitat eigentlich an Ort und Stelle sagen will (Hamlet 1. Akt, 5. Szene), sollte man zunächst einmal hier nachlesen, wo das Thema allerdings etwas zu wortreich („8 Minuten Lesedauer“ plus 87 Kommentare) ausgebreitet wird. Oder aber – wenn man ein für allemal der Parapsychologie auf die Schliche kommen will – den entsprechenden Wikipedia-Artikel anschauen: hier. Da ist man meist schon weiter. Nicht zu vergessen: auch in unserem Ausgangsartikel ist von der „pseudowissenschaftlichen“ Parapsychologie die Rede. Aber – wovon spricht denn nun der Philosoph? Tertium datur???
Wenn ich an dieser Stelle auf seinen Buchtitel anspiele, bediene ich mich vielleicht eines Taschenspielertricks. Versuchen Sie doch, der Sache zunächst einmal an anderer Stelle näherzukommen: hier zum Beispiel. (Klaus Hartung 2002: „Denn Heinrichs Philosophie protestiert gegen das tertium non datur, im Namen des ausgeschlossenen Dritten gegen die herrschende Logik des Ausschlusses. Sie lehrt die Kunst ‚Formen als Inhalte lesen‘.“)
Im übrigen: ich rede nicht wie ein Blinder von der Farbe, ich bin ein gebranntes Kind und würde niemandem glauben, der mir jetzt erzählte „Göteborg brennt!“ Ich würde aufstehen und schreien: „Ihr Name ist – Swedenborg!“ Das Rätsel müssen Sie erstmal lösen. Dies aber ist nur eine kleine Auswahl der Lektüre meiner 6oer Jahre (ich erwähne nicht, dass ich in „Träume eines Geistersehers“ von Kant steckengeblieben bin, von C.G. Jung mit seiner Ufo-Analyse nicht viel hielt, denn anderen widerfuhr Schlimmeres: sie diskutierten ernsthaft die wirren Phantasien des Erich von Däniken). Die Bücher: eins (rot) Anfang Juni 1961, das andere (blau) am 16. April 1964.
Ich weiß nicht, was alles aufgerührt wird, wenn jemand parapsychologische Phänomene einzubeziehen scheint, und die möglichen Fehlerquellen seiner Theorie im Dunkeln belässt. Ich zitiere aus einem Buch, das der oben verlinkte Autor erwähnte, ich hatte es in meinem Blog behandelt, der 2014 verlorengegangen ist. „Die Kunst des klaren Denkens“ von Rolf Dobelli (52 Denkfehler), Hanser Verlag 2011. Am Anfang des Kapitels „Das Wunder“ wurde folgende Geschichte erzählt (Seite 96):
Am 1. März 1950, um Viertel nach sieben, sollten sich die 15 Mitglieder des Kirchenchors von Beatrice in Nebraska zur Probe treffen. Aus verschiedenen Gründen waren sie alle verspätet. […] Um 19.25 explodierte die Kirche. […] Wie durch ein Wunder kam dabei niemand ums Leben. Der Feuerwehrkommandant führte die Explosion auf ein Gasleck zurück. Doch die Mitglieder des Chors waren überzeugt, ein Zeichen Gottes empfangen zu haben. Gottes Hand oder Zufall?
(a.a.O. Seite 196)
Wie wahrscheinlich sind solche Geschichten? Der Schweizer Psychiater C. G. Jung sah darin das Wirken einer unbekannten Kraft, die er Synchronizität nannte. Wie geht ein klar Denkender an solche Geschichten heran? Am besten m9it einem Blatt Papier und einem Bleistift. Nehmen wir den ersten Fall, die Explosion der Kirche. Zeichnen Sie viel Felder für die vier möglichen Kombinationen. Das erste Feld ist der dargestellte Fall: „Chor verspätet und Kirche explodiert“. Aber es gibt noch drei andere Kombinationsmöglichkeiten: „Chor verspätet und Kirche explodiert nicht“, „Chor nicht verspätet und Kirche explodiert“ und „Chor nicht verspätet und Kirche explodiert nicht“. Schreiben Sie die geschätzten Häufigkeiten in die Felder. Denken Sie daran, wie oft nur schon der letzte Fall passiert: Täglich, in Millionen von Kirchen, probt ein Chor zur abgemachten Zeit, und die Kirche explodiert nicht. Plötzlich hat die Geschichte mit der Explosion nichts Unvorstellbares mehr. Im Gegenteil, es wäre unwahrscheinlich, wenn es bei Abermillionen von Kirchen nicht einmal im Jahrhundert zu einem solchen Ereignis käme. Also keine Hand Gottes. Nebenbei: Warum auch sollte Gott eine Kirche in die Luft sprengen wollen? Was für eine idiotische Art von einem Gott, so zu kommunizieren?
Quelle Rolf Dobelli siehe oben (a.a.O.) und wie folgt:
Nachtrag zur Digitalisierung
Dieser Blogbeitrag könnte den Eindruck erwecken, es gehe um eine Verteufelung der Digitalisierung, und es sei an der Zeit, den Humanismus zu retten. Dabei ist er an einem Computer geschrieben, und währenddessen wird ständig das Internet genutzt: zur Absicherung von Fakten, zur Verbindung mit dem weltweiten Netz, zur Wissenserweiterung und zur Einordnung in die analoge Welt. Niemand will das Rad zurückdrehen und stattdessen ein umfangreiches buchförmiges Lexikon bemühen. Diese Fragen wurden gestern auf interessante Weise in der LANZ-Sendung gestreift oder sogar brisant thematisiert: ich empfehle (notorischen Lesern aber auch sogenannten Bildungsbürgern wie mir), die entsprechenden Passagen zu verinnerlichen. Bei Markus Lanz zu Gast: Zu Gast: Journalist Elmar Theveßen, Politikerin Dorothee Bär, Blogger Sascha Lobo, Medizinmanager Prof. Jochen A. Werner und Virologe Prof. Alexander Kekulé. Abrufbar bis 1. Juni 2021.
HIER.
Betrifft Apps, Datenschutz und „Coronaüberwachungsstaat“ (Dorothee Bär-Diskussion!) ab etwa 37:07 / Sascha Lobo über Datenschutz Google u Apple 43:45 / Verblöden unsere Kinder vor dem Apparat? Manfred Spitzer … 55:35 Internet an Schulen im internationalen Vergleich, Glasfaser-Verbreitung, Schwarz-Schilling, auch unter Angela Merkel eine Missachtung des Digitalen, Josef Kraus, 1:02:00 ein klassisch gebildeter Lehrer (siehe SZ hier) „sie daddeln da so vor sich her“ Bär: schon vom Wording her ne Katastrophe! Werner: „Wenn ich mir das Ganze ohne Herrn Spahn vorstelle, wären wir auch niemals so weit gekommen.“ Einzelpersönlichkeiten. Sascha Lobos Ironie! 1:05:40 In Deutschland Virtualitätsfeindlichkeit! Warum ist das so? Bär: Wie bei Minderjährigen? In Kindergärten schon. Lustige Collagen. Lanz: China: Künstliche Intelligenz wird ganz systematisch unterrichtet. (Frank Thelen). Die deutsche Telekom macht mehr Umsatz als Facebook! Warum geschieht nicht mehr!? Lobo: „Digitale Spiele eine Vorbereitung auf die zukünftige digitale Arbeitswelt.“ 1:11:28 Gedankenexperiment: vor 500 Jahren das vernetzte Videospiel erfunden, und heute erst ganz frisch u neu das Buch… früher hat mein Anton sich mit anderen vernetzt, Strategien gemeinsam entwickelt … jetzt sitzt er da ganz versunken, mit dem Buch, und wenn da einmal 1 Fehler drin ist, geht der nie mehr raus… Lanz: Buchdruck war damals Teufelszeug. / Lobo: Das Smartphone kann die Lösung sein für die digitale Bildung.