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Gendern wird nichts ändern

Ist es erlaubt, inkorrekt zu sein?

Solinger Tageblatt 8. Januar 2022

Es ist natürlich nicht unsere Solinger Zeitung, die so regelkonform gendert, sondern höchstwahrscheinlich die Pressestelle der Düsseldorfer Tonhalle. Ich würde mich ohnehin nicht beschweren, ich stolpere nur, denke über Solingen und die Vorbildfunktion der nächstgelegenen Großstadt nach, eher wohlwollend auch über die zunehmende Zahl der Dirigentinnen im internationalen Kulturbusiness. Als ich kürzlich den Namen einer griechischen Dirigentin las, schloss ich messerscharf, dass sie womöglich im Schlepptau des männlichen Stars Currentzis aufgetaucht und/oder bemerkenswert hübsch sei. Selbstverständlich schäme ich mich dafür und würde das nie schriftlich von mir geben. Neulich habe ich allerdings in einer anderen Sache an das Tageblatt geschrieben und mich über den täglichen Abdruck von (zumeist alttestamentarischen) Bibelversen aus der copyrightgeschützten Sammlung der Herrnhuter Brüdergemeinde beschwert. Sie schienen (scheinen) mir wild zusammengewürfelt  und ohne jeden geistigen oder geistlichen Nährwert. Ich blieb ohne Antwort und schäme mich nun meiner versehentlich bekundeten Intoleranz. So muss ich höllisch aufpassen, wenn ich einen ZEIT-Artikel von Navid Kermani hervorhebe, der sich kritisch mit dem Gendern befasst und mit dem Koran beginnt. „Mann, Frau, völlig egal“, hier leider nur hinter Bezahlschranke zugänglich.

Ich habe gegoogelt, um einige  vielleicht abweichende Positionen kennenzulernen (Toleranzgebot). Zum Beispiel die folgende im Archiv des Deutschlandfunks, vorgetragen immerhin aus einer – so vermute ich – professionell gläubigen Perspektive hier. Ich hatte an sich den Verdacht, dass die Frauen in der betreffenden Sure nicht deswegen ausdrücklich benannt sind, weil Gerechtigkeit geübt wird, sondern gerade weil sie in der betreffenden Quelle als das andere Geschlecht thematisiert werden sollen. Ich recherchiere also im Gesamttext, durchaus unter Vorbehalt, da ich die Korrektheit der Übersetzungen nicht beurteilen kann. In jedem Fall werde ich dann vor allem den Artikel von Navid Kermani vorurteilslos studieren, zumal ich seine schöne, im Parlament vorgetragene Rede auf unser Grundgesetz gelesen und mir dieses spontan angeschafft habe (siehe hier). Jetzt schaue ich in meine (wissenschaftliche) Koran-Ausgabe, ohne zu prüfen, ob diese Ausgabe (Rudi Paret 1962) wirklich noch dem neuen theologischen Stand entspricht. Also: offen für alle Vorbehalte, es ist nur ein erster Leitfaden, der mir etwas über das Umfeld der Aussagen mitteilt. Die zu vergleichende Stelle beginnt bei Vers 35, aber schon vorher wurden „die Frauen“ gesondert angesprochen:

Vielleicht war ich wohl etwas voreilig, ich muss keine eigenen Interpretationen versuchen, Navid Kermani stellt selbst gegen Ende seines ZEIT-Artikels die Frage: „Aber verwirft nicht bereits der Koran das generische Maskulinum?“ und antwortet:

Nein, er ignoriert es in einem spezifischen Kontext zu einem bestimmten Zweck, in diesem und vielen anderen Versen, die von der feministischen Exegese deshalb zu Recht hervorgehoben werden. Soweit bekannt, ist der Koran der erste arabische Text überhaupt, der Frauen direkt anspricht, und die Überlieferung berichtet von männlichen Hörern, die deswegen überaus irritiert waren. In der Regel jedoch, also dort, wo das Geschlecht der Hörer nicht eigens herausgestellt werden soll, belässt es der Koran bei der männlichen Form. Anders gesagt: Wie in jeder Dichtung setzt der Bruch die Regel voraus.

Gut, wir – als Bürger, als Staatsbürger – können es dabei bewenden lassen. Zurück ins Hier und Heute, in die Argumente des ZEIT-Artikels! Kermani sagt einiges Bedenkenswertes über den komplexen Gottesbegriff in allen Religionen, über die Sprachwissenschaft, über biologische und psychische Wirklichkeit, die sich „aus unterschiedlichen und eben auch widersprüchlichen Elementen zusammensetzt“. Ich zitiere nur einen Ansatz, der die Kunst betrifft und den ich unbedingt herauslösen und in Erinnerung halten möchte:

Keine Sprache der Welt nennt jedes Mal alle Geschlechter, wenn von einer gemischten Personengruppe die Rede ist, das wäre für die Alltagssprache zu umständlich und für die Poesie zu sperrig. Das brauchen die Sprachen auch nicht, weil sie das Gesagte nicht eins zu eins codieren. Sie sind, so formuliert es der Sprachwissenschaftler Olav Hackstein, »tendenziell ökonomische Kommunikationssysteme«, die durch Implizitheit gekennzeichnet sind: Jeder Hörer versteht, was gemeint ist, obwohl es so eindeutig keineswegs gesagt ist. Sprache funktioniert also auch und gerade durch das, was nicht gesagt, aber von den Hörern mitgedacht wird. Um Eindeutigkeit herzustellen, ist ihr Zweck zu pragmatisch und sind ihre Mittel allzu begrenzt.

Neben allen sprachlichen und ästhetischen Gründen ist das auch der Grund, warum ich das Gendern nicht etwa als emanzipatorisch wahrnehme, sondern als eine geistige wie politische Regression. Geschlechtszuschreibungen gehen nicht in zwei, sie gehen aber auch nicht in 27 Kategorien auf. Zu meinen, man könne mittels der Sprache jederzeit jedem Angesprochenen gerecht werden, verkennt nicht nur ihr Wesen; er legt die Angesprochenen überhaupt erst fest auf eine Identität. Die Vielfalt, die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur und ihrer Wahrnehmung auszudrücken ist nicht Aufgabe unserer Alltagssprache, und schon gar nicht ist es die Aufgabe irgendeiner behördlichen oder akademischen Instanz – das ist Aufgabe und sogar Daseinszweck der Literatur, der Musik, der Kunst: eine Unmöglichkeit, die auf erstaunlichste Weise dennoch immer wieder gelingt. Ein Schriftsteller wie Proust vermag alle Schattierungen und Paradoxien menschlichen Begehrens auf einer einzigen Seite zu fassen. Kleist setzt Liebe und Hass in eins, Beckett findet für das Verstummen Worte, Simone Weil denkt bei Gott zugleich an das Nichts. Literatur breitet nicht lang und breit aus, was in der Alltagssprache bündig formuliert werden könnte. Im Gegenteil, sie schafft bewusst Lücken, durch die die Einbildungskraft des Lesers ins Werk gezogen wird.

Quelle DIE ZEIT 5. Januar 2022 Seite 46 / Mann, Frau, völlig egal Das generische Maskulinum wird immer seltener benutzt und verstanden, bald wird es ganz verschwunden sein. Das ist schade, denn es erlaubt sehr viel sprachliche Differenzierung. Seine Abschaffung wird die Gleichberechtigung keinen Schritt voranbringen. Von Navid Kermani.

P.S. Die Zeitungsnotiz zu Anfang dieses Blog-Artikels finde ich übrigens ganz in Ordnung, zumal sie mit der Genderfrage leichtfüßig umgeht. Wäre es noch besser, wenn das Foto eine Frau zeigen würde? Stünde dann auch drüber: Dirigentinnenporträt? Ich weiß von Komponistinnen, die auf keinen Fall bei expliziten Frauenfestivals gespielt werden wollen. Sie wollen unter dem generischen Maskulinum ernstgenommen werden, und gerade ohne dieses Faktum zum Thema machen zu wollen…

P.P.S. Zu dem FAZ-Artikel von Olav Hackstein finde ich im Moment keinen Link. Zur Sicherung zunächst nur diese Erinnerung: hier.