Weiteres zur Fuge BWV 886
(Entwurf 15. September / Details ab 18. September)
Spielbar, aber schwer durchschaubar:
Es handelt sich ab Takt 41 um den letzten Teil, die vierte Durchführung der Fuge; der Bass pausiert gerade, das Thema beginnt im Tenor und steht wieder in der Grundtonart. Neu ist, dass der Einsatz des nächsten Themeneinsatzes (im Bass) „zu früh“ kommt, nämlich während der Tenor noch mit der Abschlussformel des Themas in Sechzehnteln beschäftigt ist (Takt 41), eine Art Engführung. Auch im neuen Themenzitat durch den Bass widerfährt der Abschlussformel eine Veränderung: sie bleibt nicht in der Tonart, sie wendet sich nach Moll und nicht nur dies: sie begibt sich – für das bloße Ohr deutlich – auf ein abseitiges harmonisches Gebiet. Der Bass gerät gründlich „aus den Fugen“ – bis eine Fermate Einhalt gebietet. Es gibt auch für den versierten Spieler Leseschwierigkeiten, falls er nicht täglich mit fes und heses operiert: was auf der Tastatur keine anderen Töne sind als e und a, die Bach aber bei dem vorliegenden harmonischen Gang aus „orthographischen“ Gründen nicht verwenden kann. Was also tun? Ich transponiere diesen Fugenteil um einen Halbton höher, von As-dur nach A-dur, wodurch sich der Vorzeichenwald ein wenig lichtet. (Anfang und Ende der Themenzitate sind rot markiert.)
Transposition (zum besseren Verständnis des harmonischen Gangs)
Die Harmonik ab Takt 41 ist durch genau die Chromatik gekennzeichnet, die als Kontrapunkt zum Thema dieser Fuge gehört. Bei Czaczkes, der jedem Bachschen Fugenthema gewissermaßen von vornherein eine (meist) konstante Harmonik zuschreibt, sieht das in diesem Fall folgendermaßen aus:
Für mich gehört (im Augenblick! – früher wäre mir das zu zeitaufwendig erschienen) zum Übevorgang, genau dieses Beispiel nach A-dur zu transponieren. Auch nach F-dur, – da ich weiß, dass diese Fuge auf einer viel früher geschriebenen Fughetta in F-dur beruht, die nur 28 Takte umfasste. Bach hat sie für die neue Position im Wohltemperierten Clavier II auf mehr als die doppelte Länge erweitert (ein kompositionstechnisches Phänomen ersten Ranges!). Der Einfachheit halber setze ich gedanklich die drei Kreuze für A-dur anstelle der 4 b’s an den Anfang des Systems (und statt der b’s im Bass natürlich Auflösungszeichen.)
Zurück zu meinem handgeschriebenen Beispiel, das mich ja glauben macht, den harmonischen Vorgang besser zu verstehen. Mit bloßen Fingern zu begreifen! Ich wusste durchaus, dass darin der sogenannte „Neapolitaner“ eine entscheidende Rolle spielt, aber ich musste mir (und nicht nur mir …. ich denke auch an andere) seine modulatorische Bedeutung erst wieder an ein paar Zwischenübungen klar fühlbar (und verwendbar) machen. Hier zunächst eine vereinfachte Harmoniefolge ab Takt 44:
Zu Anfang dieses Taktes schlägt die rechte Hand im Zuge vorausgegangener Chromatik den H-dur-Dreiklang, der dank des liegengebliebenen Tones A in der linken Hand einen Dominantseptakkord (in Sekundlage) ergibt, der zur Auflösung strebt (gis oder g, in diesem Fall g), während die rechte Hand zugleich einen neuen Dreiklang anschlägt, der nicht Auflösung bedeutet (das wäre E-dur oder e-moll gewesen), sondern – als verminderter Septakkord – wiederum Auflösung verlangt, die nunmehr mit dem d-moll-Akkord (f im Bass) gewährt wird. Mit ihm zusammen ergeben die folgenden 5 Akkorde des Taktes eine leicht gedehnte d-moll-Kadenz, die zu Beginn des nächsten Taktes einen echten d-moll-Akkord erwarten lässt (wie er dort in Klammern steht). Stattdessen erfolgt als Trugschluss, Ausweichung, dramatische Schärfung oder wie man ihn auch auffassen will: der Neapolitaner, dem Anschein nach B-dur, mit Terz im Bass. Gerade dieser Klang verrät dem geschulten Ohr, wie es weitergehen wird: sehr bald muss die Dominante erfolgen, in diesem Fall der E-dur-Akkord, der zur Tonika zurückführt. Bach bringt tatsächlich den entsprechenden Dominantseptakkord (nach einem Zwischenakkord, der wiederum Verzögerung und Spannungssteigerung bedeutet) als übernächsten Akkord mit Fermate.
Ich weiß, wie langweilig eine solche Beschreibung bzw. Psychologisierung von Akkordgängen wirkt. Und dies ist ja erst ein recht bescheidener Versuch. Bach ist mit seinem geballten Kunsteinsatz noch längst nicht am Ende: er nimmt Anlauf mit den folgenden Sechzehnteln in Gegenbewegung, von linker und rechter Hand zelebriert, landet in Takt 48 auf dem Quartsextakkord von A-dur. Jeder spürt, dass sich daraus die Dominante E-dur ergeben wird (Anfangsakkord Takt 49), – aber was entfesselt er in diesen zwei Takten 48/49 an Nervenkontrapunktik, Trillern, chromatischen Durchgängen, Modulation, Akkordballungen bis zur Fünfstimmigkeit, – zu schweigen von der Hauptsache: dem gewaltigen letzten Auftritt des Hauptthemas, den ich in meinem Schema schnöde ignoriert habe.
Ich habe eben geschrieben: „dem Anschein nach B-dur“, – es handelt sich nämlich beim Neapolitaner eigentlich um die Moll-Subdominante d-f-a mit dem Vorhalt b, wobei es aber fast noch zwingender erscheint, wenn dieser Vorhalt gar nicht aufgelöst wird, sondern direkt auf den Leiteton gis springt, so dass der Grundton A von oben und von unten angestrebt wird. Die Rückkehr ist doppelt plausibel! Es gilt fast als Modulationstrick, wenn man nun diesen sozusagen „zufällig“ entstandenen Akkord d-f-b als autark betrachtet und ihn als Grundlage für einen Ausflug in die B-Tonarten verwendet.
Ich erlaube mir jetzt noch einen ganz kurzen Blick auf den Neapolitaner, so simpel ich ihn nur darstellen kann, und einen zweiten Blick in Max Regers gern kritisierte Modulationslehre, in der er an unzähligen Beispielen vorgeführt hat, wie man mit Hilfe des Neapolitaners über drei vier Zwischen-Akkorde, nein, im Handumdrehen von C-dur (oder jeder beliebigen Tonart) in die allerentferntesten Tonarten modulieren kann, und sei es heses-moll.
Wir haben uns bis hierher mit harmonischen Aspekten der Durchführung IV beschäftigt, mehr noch mit eventuellen Lese- und Verständnisschwierigkeiten. Es wäre an der Zeit einen Überblick über das Ganze der Fuge zu gewinnen. Ich habe die Gliederung schon vor vielen Jahren aus dem Werk von Ludwig Czaczkes übernommen, eine große Hilfe. Ehrlich gesagt hätte ich auch jetzt wieder Schwierigkeiten gehabt, den Beginn der Durchführung III zu positionieren. Der senkrechte rote Strich in der folgenden Notenwiedergabe bezeichnet die Stelle, wo in der kurzen Frühfassung der Fuge, der Fughetta BWV 901, der Schlussakkord folgte.
Man kann dazu Angela Hewitt hören (nur hören, sofern man auf den Anblick verzichten kann), indem man Hier das externe Fenster aufruft, dort im Youtube-Video auf den Fugenanfang bei 4:35 springt und sogleich wieder hierher – zu den Noten – zurückkehrt.
Bemerkenswert sind die beiden als Gegensatz I und II bezeichneten Motive, also der chromatische Viertelgang (ab Takt 3) und das Sechzehntelmotiv (ab Takt 6) und die Tatsache, dass die Sechzehntel in Takt 5 damit nichts gemein haben, da sie direkt aus dem Abschluss des Hauptthemas weiterfließen; hin zum „scheinbaren Neubeginn“ dieses Themas, der dann sogleich durch den echten Einsatz des Tenors überboten wird. Genau an dieser Stelle beginnt der Gegensatz II, dessen Bedeutung sich letztlich erst durch seine Sonderbehandlung herauskristallisiert: vor allem durch seine fugenmäßige Auszeichnung zu Beginn der Durchführung III. Es ist eine formale Stellung, die man nicht ohne weiteres versteht; denn kurz zuvor ist das Hauptthema erklungen (Takt 24 f), genau dort, wo die alte Fughetta ihren Endpunkt erreicht hatte. Ein Faktum, das wieder einmal nur Czaczkes glaubwürdig erklärt, der auch wohl als einziger die Durchführung III in Takt 27 (und nicht im Themeneinsatz Takt 24) ansetzt. Er sieht eine Parallelgestaltung der dritten zur zweiten Durchführung, – bis auf auf das Hauptthema, dessen „überzähliger“ Einsatz für die Durchführung II nachgeliefert wurde, als Bach die Fughetta erweiterte, vielleicht mit dem Vorsatz, nun das Zwischenspiel der Durchführung I, der Exposition, aus Takt 10 (bei Czaczkes „Exp.Zwsp.“) thematisch zu nobilitieren:
Quelle Ludwig Czackes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers Band II Form und Aufbau der Fuge bei Bach / Österreichischer Bundesverlag Wien 1982
Dabei beruft er sich auch auf die Kadenzerweiterung Takt 26/27, die der am Ende der Durchführung III Takt 39/40 gleicht, zudem aber auch erstmalig den Moll-Bereich eröffnet.
Alfred Dürr, der eine andere formale Deutung bevorzugt, schreibt im Vorfeld:
Bei aller Großartigkeit und eindrucksvollen Gestaltung, die, wie die reiche Harmonik vermuten läßt, die Hand des reifen Bach verraten, gibt uns die Fuge dennoch manches Rätsel auf, das sich mit den vorhandenen Zeugnissen nicht lösen läßt.
Und hebt dann, die eben behandelte Stelle betreffend, die Frage hervor,
warum Bach die Erweiterung der Fughette in Takt 24 sofort mit einem Alteinsatz (Dux) in f-moll beginnt statt des zu erwartenden, zum modulatorischen Teil hinleitenden Zwischenspiels (das dem Einsatz stattdessen folgt).
Quelle Alfred Dürr: J S Bach Das Wohltemperierte Klavier Bärenreiter 1998 Seite 379f
Erst wenn man die eigentlich offensichtliche Aufwertung dieses „Zwischenspiels“ akzeptiert: die auffällige Etablierung der hier erreichten Tonart c-moll, die fugenähnliche Abhandlung des Zwischenspielthemas, den pathetischen Fortgang der Sechzehntel in Terzen, wenn das Haupthema endlich einsetzt und an dessen Ende die Sechzehntel in die abschließende thematische Sechzehntelfigur überführt. Und nicht genug: sie quasi demonstrativ weiterlaufen lässt während der weiteren Themenzitate, letztlich bis in die Durchführung IV… erst dann hat man wohl die Ausbalancierung der Formteile sowie die gewaltige Protuberanz des Sechzehntelbasses und der dichten Harmonik in der Schlussphase recht begriffen.
(Mein Übe-Prozess ist noch nicht abgeschlossen, aber eins weiß ich: meine Fuge endet nicht abgeklärt, ins Weite schauend, sondern mit einem maximalen Forte im Hier und Jetzt.)