Schlagwort-Archive: Niveau-Unterschiede

Dionysien heute? (Material)

Ist Karneval vergleichbar? Loslassen? Ischgl?

Das ganz gewöhnliche Besäufnis?

Karneval Wiki  hier

Spiel oder Sport?

Die provisorische Reihe von Stichworten ließe sich beliebig erweitern. Sie zielt aber auf Abgrenzung, nicht auf Erweiterung und Verwischung der Grenzen. Ich habe mich des öfteren mit solchen Überblendungen beschäftigt, schon um den Verdacht des vorgefassten Elitarismus zu bannen. Als sei die hohe Kunst ständig vor dem niederen Unterhaltungstrieb der Massen zu schützen. Dabei ist sie doch auch – Unterhaltung?! (Solche Behauptungen schreien nach sorgfältigen Definitionen.) Ein Beispiel aus früheren Zeiten hier. Das Spiel im Konzert und auf dem Fußballfeld. Neuerdings stand der böse Blick auf Katar Pate beim Vergleich des Kamelrennens gegen die uns vertrauteren Sportarten, insbesondere dem aktuellen Sport der Männermannschaften bei der WM in Katar. Zumal unter dem Zeichen der FIFA und der weltweiten Korruption. (Siehe hier.) Was außerdem hängenblieb: das Bild von den Scheichs, die in klimatisierten SUVs neben der Rennstrecke der Kamele mitfahren und per Knopfdruck die Peitschen der kleinen Roboter auf dem Rücken der Tiere betätigen. Ein atemberaubendes Spiel. Die Tiere sind ein wichtiger Faktor in ihrem Leben, aber noch wichtiger ist der ausgesetzte Preis, die tierische Hochleistung und das arbeitende Geld. Hauptgewinne: eine Reihe neuester SUVs.

Bei Schiller, der seine Theorie vom Spiel entwickelt, findet man auch die Aufzählung von Sportarten der Antike im Vergleich zu denen seiner Gegenwart. Ich denke dagegen an Hemingway und seine Verteidigung der Ästhetik (?) des Stierkampfes. Die quasi religiöse Feierlichkeit der Reiter, die ich im nahen Umfeld der Arena in Sevilla erlebte. Archaisch? Sakral? (Einen wirklichen Stierkampf habe ich nie gesehen.)

Anders als bei anderen Menschen: Hölderlins Trunkenheit siehe hier

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https://www.deutschlandfunkkultur.de/lois-hechenblaikner-ischgl-champagner-bad-im-skigebiet-100.html hier

Lois Hechenblaikner: „Ischgl“ Interview

Relax if you can. Après-Ski wurde einfach ein neuer Wirtschaftszweig. Das ist so ein erfolgreiches Geschäft geworden, man kann nur staunen, da werden irre Gewinne gemacht. Da geht aber nur, wenn der Gast mitmacht. (…)  Das Individuum verhält sich in der Gruppe völlig anders. Wenn dann bei einem solchen Konzert oben in Ischgl, wo dann 15.-20.000 Leute sind, entsteht natürlich eine sehr enthemmte Stimmung in einem. Dazu kommt, dass der Schnee ein Medium ist, wo man sich im doppelten Sinne des Wortes fallen lassen kann. D.d. die Erwachsenen werden wie Kinder, sehr infantile Muster treten dann auf, und dann gints da diesen Beschleuniger Alkohol, der dazukommt. Aber es ist immer so eine Mischung aus dieser Musik und eben dieser Dosis an Alkohol. Jetzt könnte man sich fragen, warum brauchen die Leute auch diese Dosis an Alkohol? (5:50) Ich war mal in Gröden in Südtirol, bei den Skirennen, und da war relativ wenig Après-Ski, und da habe ich mal nachgefragt: warum ist das so? Und da haben sie gesagt, ja, die Italiener, die gehen abends eher gepflegt essen, trinken ein Glas Wein, und das hat sich. D.h., das hat auch mit uns zu tun, oder mit der Trinkkultur, und die ist sicher in Österreich verändert mit den Deutschen, es sind auch viel Holländer drin, es sind Belgier usw., d.h. da ist einfach ein anderes soziologisch-gesellschaftliches  Verhalten anscheinend in der konsumistischen Ebene. Und ich glaube auch, dass mit Alkohol viel verdrängt wird, dass da Sorgen des Alltags sprichwörtlich weggetrunken werden. (6:04)

Relax as you can – der ganze Ort wurde dahinkalibriert. Und wenn ich mir heute Ischgl anschaue, die Gästeschicht, die da ist, sind schon sehr sehr viele … auch geschieden, 40, 50 Jahre alt, deshalb sag i auch immer: Ischgl ist so etwas wie ein hormoneller Second-Hand-Markt.“

Moderatorin (bezieht sich aufs Nachwort des Buches): da sagt ein Hotelier und Barbetreiber: man müsse mehr mit dem Penis ndenken, um neue Gäste zu werben. Hechenblaikner:

Das zeigt natürlich den völligen Realitätsverlust, die Duchgeknalltheit. (7:10) …hat damit zu tun, dass sich die Tourismuswirtschaft ja jedes Jahr neu sich hervorzubringen versucht. Jede Saison muss neu gestartet werden, das ist ein Wirtschaftszweig, der darauf angewiesen ist, dass die Gäste herkommen. (…) Tourismus ist immer ortsgebunden, die Gäste müssen immer neu angelockt werden.

(…) weil eben die Tourismuswirtschaft dazu neigt, immer den Schleier des Erhabenen, des Schönen, des Verklärten darüber zu legen (11:18)

Das Buch „Ischgl“ von Lois Hechenblaikner im Steidl Verlag, siehe hier.

https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/kulturjournal/Kulturjournal,sendung1302378.html hier

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Was war in früheren Jahrhunderten damit gemeint, wenn vom Rausch die Rede war, der Feier des Frühlings, den großen Festen zu Ehren des Weingottes Dionysos? Entfesselung?

Was habe ich in den dumpfen 50er Jahren erwartet, als ich Nietzsche zu lesen begann, an Befreiung dachte, an den Sinn der „Dionysos-Dithyramben“, als ich ihm noch alles glaubte, was er über Wagner schrieb. Die Wiederkehr einer dionysischen Kultur, eines Zeitalters der großen Erneuerung. Und dazu das Victrola Opera Book (1919), das wir einem Care-Paket aus den USA verdankten, darin Bühnenbilder und Illustrationen zu den Wagner-Götterdramen, die 1:1 kindlichen Wunschvorstellungen entsprachen. Brunhilde (auf den Knien) zu Wotan „Was it so shameful?“ Wovon sprach sie?

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Geburt_der_Trag%C3%B6die_aus_dem_Geiste_der_Musik HIER

https://de.wikipedia.org/wiki/Dionysien hier

https://www.projekt-gutenberg.org/nietzsch/dionysos/dionysos.html hier

https://www.projekt-gutenberg.org/schrempf/nietzsch/chap008.html hier

Christoph Schrempf https://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Schrempf hier

7. Kapitel

»Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«: das Dionysische Erlebnis und der Wille zur Kultur. Friedrich Nietzsche Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1922

Die Religion der Klassiker Herausgegeben von Professor D. Gustav Pfannmüller Neunter Band:
Friedrich Nietzsche Geburt der Tragödie aus Kapitel 1.

An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu Ort: in diesen Sanct-Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir die bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen. Es giebt Menschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder aus Stumpfsinn, sich von solchen Erscheinungen wie von »Volkskrankheiten«, spöttisch oder bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit abwenden: die Armen ahnen freilich nicht, wie leichenfarbig und gespenstisch eben diese ihre »Gesundheit« sich ausnimmt, wenn an ihnen das glühende Leben dionysischer Schwärmer vorüberbraust.

Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der »Freude« in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder »freche Mode« zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Weltenkünstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: »Ihr stürzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt?« –