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Träume der späteren Generation

CORONA-ZEITEN / ZITAT aus dem Twitter-Traum-Tagebuch JMR

Bei meinem Urgroßvater kolportiere ich ja gerne, er habe sich beim Anbringen der Antenne auf dem Dach den Tod geholt. Aber immer wieder wird das bestritten.

Jedenfalls heute war es so:

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#24 – 8:51 vorm. · 17. Apr. 2020·Twitter Web App

M. ist da, in seiner Rolle als Intendant entsteigt er den orangen Bahnen von Soundcloud – obwohl gestern die Spuren von Final Cut Korridore meines Home Office gewesen waren -, um mich hinzuweisen, ich müsse auch #hören. Eine nicht zur Kränkung gemeinte Frage, aber

(1/11) leicht kränkend. Ob ich die ? kenne – sagt er wirklich „Vögel“, so platt wie selbstverständlich? Da er als Intendant hier ist, bestätige ich, jaja natürlich, und wie zum ersten Mal bemerke ich, wirklich träume ich mich das erkennen, #Coronaträume müssten ja nicht verbal

(2/11) geschehen, sondern könnten sehr wohl #Gehörtes sein. Und warum hätte „ausgerechnet ich“ das nicht gewusst, träume ich. – Dabei ist der Hauptschauplatz – Schnitt? – ein mehrstöckiges, nur oben angemietetes Haus mit einem von abschüssigen Dächern umrahmten Innenhof. Römi-

(3/11) sche Villa? Über diese Dächer muss man (muss ich) rutschen, um ohne Störung der Besitzerfamilie, eines Vaters und eines Sohns, unseren Teil zu verlassen. Eventuell wissen sie noch nicht beide von der Vermietung und ich möchte niemanden (den Sohn nicht?) erschrecken oder

(4/11) verärgern. Wobei: deswegen Dachrutschen? Spielt mein Urgroßvater Heinrich Arnhölter eine Rolle, und sein Haus auf der Lohe mit der Werkstatt unten und der Wohnung im nur über die zentrale Dielentreppe erreichbaren Obergeschoss, es ist nur ein Frühkindheitsbild, und sein

(5/11) legendärer #Tod infolge winterlicher Dachkletterei zu Radioantenneninstallationszwecken, mit über 80, an der Lungen (sic) Entzündung? – Es sind mehrere Menschen dort versammelt, im Obergeschoss des jetzigen Traums, wie zu einer Festivaleröffnung doch in typischer Baumarkt-

(6/11) besucherkleidung. Ist das das von M. kuratierte Festival? Ich begegne P., die mich mit vorwurfsvollem Blick – und nicht aus „ihren“ Augen, sie passen nicht in das Gesicht, – begrüßt; sie hätte „etwas von mir spielen können“, ich hätte mich „aber“ gemeldet haben müssen. Ich

(7/11) wundere mich, dass sie, früher meine Instrumentallehrerin, mich ausschließlich als Komponisten oder irgendwelchen Urheber anzusehen scheint. Ist das eine Verschiebung durch #HomeOffice und #Quarantäne? #Verschiebung also sowohl in der Zeit, vom Damals in eine verpasste

(8/11) Zukunft, wie eine Verschiebung des Arbeitsfeldes (sic)? Ein klassischer Ratgebertraum, Selbsthilfe insofern, und ich erwache vor sieben an den Überlegungen, ob es stimme, dass die Verbalisierung (in Echtzeit, während Genese!) ein Problem für (!) die Träume sei. (Bei

(9/11) Tageslicht würde ich sagen: genau das Gegenteil ist wahr, aber selbst „genaue Gegenteile“ sind reine Sprachkonstrukte.) – „7:45 – Anstehender Weckruf“, steht um 7:43 auf der Oberschicht meines Handys, aber es war ohnehin geknebelt und stumm, auch die SONY DREAM

(10/11) MACHINE hatte noch mit keinen Coronazahlen geweckt. Später beim Aufschreiben, jetzt, sind es die Dunkelziffern aus Wuhan.

(11/11) 20200417 #Coronaträume

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Erinnerung JR

Ich kenne das Haus und den Ursprung dieser Traum-Geschichte. Es handelt sich um meinen Großvater, der vielleicht aber auch so erhalten bleiben will, wie ich ihn gesehen habe. Alles hat mit dem Ende des Krieges zu tun und mit meinen Anfängen, der allmählichen Erweiterung des Bewusstseins. Auch besorgniserregende Fieberträume müssten darin vorkommen. Todesängste, mit Märchen vermischt, nicht genau datierbar, aber etwa zwischen 1943 und 1948. Reisen, zuerst nur, um im Haus der Großeltern sicher zu sein, satt zu werden (der Krieg rückte näher), den Onkel kennenzulernen, ohne zu wissen, dass dies erste auch das letzte Mal war; später – fluchtähnlich – in 7 Tagen von Greifswald nach Bad Oeynhausen, eine endgültige Schwerpunktverlagerung von Ost nach West, Nord nach Süd.

Der engere Lebensraum, der verlorene Sohn, das Enkelkind, die erste Urenkelin…

 1943

 1963

 sein Haus, seine Fabrik sein Mist, sein Viehstall

Er igelte sich ein, hörte intensiv Radio und hoffte auf die Wiederkehr seines Sohnes, der auch Tischler sein sollte.

Wie kam der eigensinnige Mann ums Leben? Manchmal hatte er blaue Lippen. Er wollte hundert Jahre alt werden, sie aber wollte ewig leben (sie wusste: „Millionen jetzt lebender Menschen werden nie sterben“, vielleicht auch nur 144.000, er jedenfalls sollte nicht unbedingt unter ihnen sein…)

Seine Frau (*10. Juli 1887) war am 9. September 1965 gestorben. Was in ihrem Leben schlimm war: der Tod des Sohnes (wohl bei Witebsk im Sommer 1944), und wie ihr Mann im Laufe der Jahre das schöne Haus verschandelt hat. Er – als geborener Eigenbrötler (*3. Januar 1882) – schien am Ende gut allein zurechtzukommen, starb aber überraschend schon vier Monate nach ihr, am 14. Januar 1966. Die hungrigen Kühe hatten durch ihr Gebrüll die Nachbarn alarmiert. Meine Mutter fand ihn rücklings auf seiner Schlafstelle. Er hatte sich zuletzt mit der Anlage (und „Erdung“?) einer neuen Antenne für sein Radio beschäftigt, das wohl diesen neuen Platz neben ihm einnehmen sollte. Es war sein Fenster zur Welt, seit vielen Jahren verfolgte er die WDR-Sendungen („Zwischen Rhein und Weser“). Offenbar war er mehrfach zum Dachboden hinaufgestiegen (oder in den Keller hinunter) und hatte sich irgendwann zum Probehören aufs Bett gesetzt. Oder einfach um Kraft zu schöpfen.

Weitere 4 Monate später wurde übrigens in Solingen der Urenkel geboren, der jetzt seine seltsamen Coronaträume notiert, in denen der alte Vorfahre und das verkommene Haus mit Werkstatt verfremdet auferstehen und mich mit merkwürdiger Gewalt an die real erinnerten Schauplätze meiner Kindheit zurückzerren.

(JR) Als meine Kindheit schon einige Jahre zurücklag, war ich des öfteren noch bei den Großeltern, insbesondere wenn die Sklavenarbeit anlag: in der Flutmulde der Werre das Heu zu wenden oder pedantisch langsam zusammenzuharken, aufeinanderzuhäufeln, einzuladen und heimzutransportieren. Es lag noch immer – wie in früheren Ferien – ein Bann über der Tätigkeit (die wachsamen Augen des Großvaters), und wenn man dann zuhaus im Wohnzimmer (Herd und summender Wasserkessel integriert) saß und las, stundenlang, – es musste nach Arbeit aussehen -, war es wie in Quarantäne. Ich kannte niemanden „da draußen“, jedenfalls niemanden, den (die) ich hätte besuchen können, ohne langwierige Erklärungen. Ich könnte heute noch genau sagen, was ich damals gelesen habe (ich wollte gründlicher Französisch lernen): Baudelaires Übersetzungen der Geschichten von Edgar Allan Poe. Gekauft in Paris, am 1. September 1963 ! Darin hauchdünnes Schreibpapier (japanisch?). Einige eigene Übersetzungen und ein aus unbekannten Gründen abgeschriebener Text. Ich kann es kaum glauben. Warum war ich dort? Ein Wust von Erinnerungen, die ich nicht rekonstruieren möchte. Warum saß ich jetzt alleine? Freiwillig ausgeliefert der Welt des Großvaters, den Predigten der Großmutter. Die Lohe bei Bad Oeynhausen gegen Paris, Köln, Japan. Quarantäne ist das Stichwort. 

  

Mit anderen Worten: ich verliere mich in eigene Tagträume. Und bin reif für eine Fortsetzung der aktuellen Geschichte, ohne meinerseits eine Deutung zu versuchen. Der Keim der Zwietracht unter Brüdern, der nach Jahrzehnten aufging (nicht zwischen den neuen Generationen). Merkwürdig, dass Brand’s Busch auftaucht, wo ich mich meiner verwitweten Mutter entzog, die Waldterrasse, wo ich endlos Musils „Mann ohne Eigenschaften“ las, wo Ende der 90er Jahre letzte Familienfeste gefeiert wurden, scheinbar harmonisch, wie auch im Berghotel Quellental und im Stillen Frieden.

ZITAT JMR (Ansätze einer Erläuterung, work in progress)

zu dem Urgroßvater: ein typischer Fall von Vermischung des Traummotivs selbst und seiner Deutung, die meiner Theorie nach gar nicht voneinander zu trennen sind. Vielmehr geht beim Träumen, zumal morgens gegen Ende, das Träumen und die Analyse – oft schon während des Träumens (!) Hand in Hand und oft an der Hand des Wortlautes, über Assonanzen, Assoziationen und Verleser auf rein verbalem (!) Niveau. Wohl eine Gehirnfunktion. Insofern der – selbstanalytische – Befund des „Intendanten“ im heutigen Traum besonders aufschlussreich, der diese Verbalität in Frage stellt. Aber das führt jetzt zu weit.

ZITAT Fortsetzung der Traumgeschichte

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#25

„Um die Szene (=Inszenierung) zu bewältigen, müssen Sie 20% GO AHEAD LIVE gehen,“ erfahre ich, in einer Mischung aus Hören und Sehen. Diese Versalien-Titel, – „Titel“, wie das in der Filmbearbeitungssprache von FINAL CUT PRO heißt -, sehe ich dabei als Einblendung. Es

(1/9) ist dies bereits retrospektive oder „grenzwertige“ Reflexion zwischen Rückschau/Deutung und vorangegangenem Traumabschnitt, Abschnitt oder Schnitt des vorangegangenen Traums selbst also. Dieser hatte zwei szenische Komponenten gehabt, nämlich ein wohl fernmündliches

(2/9) Gespräch mit J., meinem Vater, dem ich leichtfertig zugesagt hatte, ihn „nun doch … aus dem Hotel“ abzuholen, einem Waldhotel irgendwo „oben“, etwa an Brand’s Busch in Bielefeld erinnernd. Ich komme aber gar nicht hin, denn die nächste Szene spielt, zweitens, im Eingangs-

(3/9) bereich eines „prekären“ (?) Supermarkts, etwa WalMart, über 800m2 groß und nur aus Not geöffnet, gegen „die Verordnung“. Verwirrungen beim verpflichteten Schuhwechsel, in der Nähe der ineinandergeschobenen Einkaufswagen (oder -wägen, wo bin ich denn?). Meine Füße fühlen

(4/9) sich zu warm an und jetzt sehe ich, warum: in ihren Socken, im Traum also, stecken sie schon in den geforderten (?) Wechselschuhen (!), je zwei ineinandergeschobenen alten Herrenschuhen, an der Ferse zu Pantoffeln heruntergetreten. Diese Notlösung wundert mich etwas, ich

(5/9) sehe sie aber auch an den Füßen anderer älterer Herren in grauen Jacketts und mit Schnauzbärten, von mir (ausgrenzend?) einem Soziotop zugeordnet, die mit der Situation und Schuhprovisorien mehr Erfahrung zu haben scheinen. Von Gesichtsmasken keine Spur oder Rede, aber um

(6/9) dieses Provisorium „scheint“ es mir, – we’re all in these together, #Coronaträume, – eigentlich zu gehen, als eine für den Supermarkteinkauf notwendig zu erfüllende Bedingung. Hier nun fällt mir ein, das Abholen beim Waldhotel vergessen zu haben. J. wird noch immer wartend

(7/9) dort sitzen und der Zeitpunkt meines Versprechens liegt schon „so 10, 20 Minuten“ zurück, es dürfte ihm inzwischen aufgefallen sein. So kommen die Überlegungen zu 20% GO AHEAD LIVE ins Spiel, wohl als Ausrede oder zur Erklärung meiner Versäumnis. Ich habe aber auch so viel

(8/9) zu erledigen, lächle ich wie in mich hinein.

(9/9) 20200418 8:31 vorm. · 18. Apr. 2020·Twitter Web App

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Quelle: https://twitter.com/jmarcreichow/status/1251397815663804422

Der Traum geht weiter: ein Haufen vieler Gepäckstücke…  (27. April 2020)