Schlagwort-Archive: Masse und Macht

Ein schwieriger Stoff

Wie sich die thematisch „enge“ Dissertation einem Leser öffnet

Ich will die Gründe nicht nennen, weshalb man rätselhafterweise manches nicht attraktiv findet, was einen selbst betrifft. Beinahe merkt man’s gar nicht, man legt es schnell beiseite. Mit stillen (Selbst)Vorwürfen vielleicht oder einer arroganten Abwertung („Das braucht man heute nicht mehr“ oder „Darauf hat die Welt nicht gewartet“). Im folgenden Fall wusste ich, dass ich es dabei keinesfalls bewenden lassen darf, es würde sich erschließen. Wie auch immer es „anmutet“, diese Autorin muss einfach auch in ihrer frühen Zeit eine gute Arbeit geschrieben haben. (Das antiquarisch erstandene Exemplar ist, wie man sieht, nicht ideal lesbar.)

 

Ehe ich den Titel verrate, der mich motivierte (andere abstoßen mag), will ich mich auf den notwendigen Wissensstand bringen: Von Goethe ist die Rede, von einem frühen Drama („Die natürliche Tochter“), das ich nicht kenne (wozu habe ich drei Ausgaben der sämtlichen Werke), darin von Parteienkampf, von Massen und Mächten, die außerhalb der Individuen, die auf der Bühne stehen, agieren. Stichwort: Französische Revolution. Es sind politische Konstellationen, die bis heute nachwirken. Jedenfalls interessiert mich die Masse als Kunstfigur, sobald sie auf der Bühne zum Tragen kommt. (Aber auch in der Demokratie.) Ich komme aber zufällig von Wagners „Lohengrin“ hierher, von einem starken Jugendeindruck, nämlich der faszinierenden Wirkung des Männerchores, der von Elsas Verhalten bei der Traumerzählung fasziniert ist (siehe im Blog hier). Anachronistisch an dieser Stelle, aber wirksam als Erinnerung. Ich begebe mich in den betreffenden Goetheband und beginne mitten im Nachwort.

Da ist ja schon alles beisammen, was man als Vorwissen braucht. Das Nachwort von Walther Migge in der dtv-Goethe-Gesamtausgabe von 1963. Auch die Autorin wird das zur Zeit  ihrer Dissertation (1971) präsent gehabt haben. Und der anspruchsvolle Titel einer Arbeit, die bei dieser Themenlage ansetzt und sie durch die Geschichte verfolgen will, ist vollkommen angemessen: Hannelore SchlafferDramenform und Klassenstruktur / Eine Analyse der dramatis persona „Volk“.

In Stuttgart gelesen:

 Sergej Liamin Programmheft Lohengrin

Zuhaus nachgeschlagen:

 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen

Dies etwa – oder: etwas in dieser Richtung – würde sich mir erschließen. Aber es kam ganz anders, mein Fehler war zu denken, dass ein Problem nur darin lag, das Volk auf die Bühne zu stellen und an der Handlung teilnehmen zu lassen. Goethes „Natürliche Tochter“ jedoch zeigt gegen die (unausgesprochene) Absicht des Autors, dass es da eine unüberwindliche Sperre gab: auf der einen Seite „die Staatsaktion der tragédie classique, die sich unter gleichgestellten Personen sichtbar auf der Bühne darstellte“, auf der anderen Seite die neuen, anonymen Kräfte, „die nicht mehr auf der Bühne als Figuren vorführbar sind, die aber das dort nach dem traditionellen Schema agierende Personal in Frage stellen und zur Selbstreflexion zwingen“ (Seite 1).

Beide Kategorien vereinen sich im Thema der Revolution. Dieser geschichtliche Inhalt, der Umsturz einer Gesellschaftsordnung, wird zugleich wieder zum gattungspoetischen Problem. Jede Bedrohung der gattungsspezifischen Klasse richtet sich gegen die Gattung selbst. In der tragédie classique erscheint Revolution daher in ihrer äußerlich chaotischen Form.

Die Revolution erscheint bei Goethe nur in plastischen, bedrohlichen Naturbildern.

Ausdrücklich spricht der König von der Notwendigkeit, den tatsächlichen Inhalt der chaotischen Zerstörung zu verdrängen. (…)

Symptomatisch für die Verdrängung dieser eigentlich ’notwendigen‘ Figur in einem Drama über Revolution ist in der Natürlichen Tochter der Übergang vom vierten zum fünften Aufzug. Zwischen dem Schluß des vierten und dem Beginn des fünften Aktes bittet Eugenie das Volk, ihr zu helfen.

  Es handelt sich um die folgende Stelle im Drama:

„Und riefst du nicht das Volk zur Hilfe schon? / Es staunte nur dich an und schwieg und ging.“ 

Später (Seite 22) heißt es es bei der Autorin:

Die Uneinigkeit des Volkes bewirkt, daß es nach außen keine eindeutige Meinung kundtun kann, sprachlos ist. Die Interpretation der Natürlichen Tochter hat uns gezeigt, daß es, weil sprachlos, aus einer Tragödie der strengen Form tatsächlich verdrängt werden kann. Sprachlosigkeit des Volkes meint aber nicht seine völlige Stummheit auf der Bühne; sie meint vielmehr die Unfähigkeit, als Dialogpartner den anderen Figuren entgegenzutreten.

Die „Natürliche Tochter“ entstand ab 1799, aber schon in der Figur des Volkshelden Egmont hatte sich bei Goethe (ab 1775) dieser Blick aufs Volk abgezeichnet, -interessant, auf welche Weise sich das im Danton (Büchner 1835) dahin entwickelt, dass der „Held“ sich als Nachkomme der komischen Figur im traditionellen Drama ausweist.

 H.Schlaffer: Dramenform und Klassenstruktur a.a.O.

Das Zitat [12] im Text stammt aus Denis Diderot: Dorval und ich, in: D.D., Ästhetische Schriften, hg. Friedrich Bursenge, Frankfurt/M. 1968, Bd.1, S.209 f.

(Fortsetzung folgt)