Die folgenden beiden Büchlein haben den Tag gemeinsam, der mich in ihren Besitz gebracht hat, und so lese ich sie abwechselnd, von schwankender Neugier getrieben, und beziehe sie aufeinander oder auf anderes, das ich gelesen oder versäumt habe. Paul Valéry zum Beispiel, den Reuß gleich zu Anfang zitiert, samt dem titelgebenden Begriff „Die perfekte Lesemaschine“. Was hat das Stichwort „Körper“ damit zu tun, das ich auf Seite 52 entdecke? In dem Taschenbuch mit Valérys Gedichten und Dialogen, übersetzt von Rainer Maria Rilke, schlägt sich der „Eupalinos“ wie von selbst auf; viele Unterstreichungen seit 1962. Ich muss es mit veränderter Lebensperspektive aufs neue lesen, damals war ich zweifellos jung, halb so alt wie Valéry, als er es schrieb (1923). Jetzt bin ich um die gleiche Zeitspanne älter. Ein Misanthrop bin ich nicht geworden, aber eine Tendenz zum Einsiedlertum kann ich nicht leugnen, soweit ich auch zurückdenke. Andererseits weiß ich, dass der Überdruss an bestimmten Themen (auch an Büchern? an Menschen? frage ich heimlich) durchaus ein guter Ratgeber sein kann. „Eupalinos“ aber liest sich immer neu, und ich wundere mich, im Netz eine Rezension zu finden, als sei er erst 1995 herausgekommen (doch: bei Suhrkamp, 1962 war’s bei Rowohlt). Und der Rezensent war Martin Seel, der schon in „Eine Ästhetik der Natur“ (1991) darauf zu sprechen kam (Seite 252).
Zur Anregung:
Ziel der Ergonomie ist es, die Arbeitsbedingungen, den Arbeitsablauf, die Anordnung der zu greifenden Gegenstände (Werkstück, Werkzeug, Halbzeug) räumlich und zeitlich optimiert anzuordnen sowie die Arbeitsgeräte für eine Aufgabe so zu optimieren, dass das Arbeitsergebnis (qualitativ und wirtschaftlich) optimal wird und die arbeitenden Menschen möglichst wenig ermüden oder gar geschädigt werden, auch wenn sie die Arbeit über Jahre hinweg ausüben.
Quelle: Wikipedia hier.
Im übertragenen Sinne wird in den Geisteswissenschaften unter Genealogie eine historische Methode verstanden, welche die geschichtliche Entwicklung verschiedener Sachverhalte der Gegenwart [?] untersucht.
Quelle: Wikipedia hier.
Martin Seel, im Anschluss an eine frühere Documenta (vor 20 Jahren):
Ein Jahr nachdem die allenthalben wegen ihrer Unsinnlichkeit getadelte oder auch gepriesene documenta X ihre Pforten geschlossen hatte, wurde im Hamburger Bahnhof in Berlin eine Ausstellung eröffnet, die allenthalben wegen ihrer Sinnlichkeit gepriesen oder auch getadelt wird. Die derzeit unter dem programmatischen Titel Sensation präsentierten Werke junger britischer Künstler aus der Sammlung Saatchi haben nach den Kasseler Strapazen ein weithin hörbares Aufatmen hervorgerufen. Der Eindruck konnte entstehen, als sei die gegenwärtige Kunst von einem Schisma geprägt. Hier eine wilde, drastische und derbe, dort eine asketische, intellektuelle und moralische Kunst. Hier eine Kunst des Körpers, dort eine Kunst der Ideen.
Aber dieser Anschein trügt. Keine gelungene künstlerische Operation hat je mit der Trennung von Körper und Geist paktiert. Warum das so ist, hat niemand klarer gesagt als Paul Valéry in seinem Dialog Eupalinos oder Der Architekt aus dem Jahr 1923.
Quelle DIE ZEIT 30.12.1998 Künstler, Körper, Sensationen (Link s.o. Martin Seel)
Zwei ähnlich schmale Bücher, aber keine sogenannten Taschenbücher, sind also auf den Plan getreten, unplanmäßig, unangemeldet, handlich und unwiderstehlich. Und sie evozieren am Ende alte Assoziationen, die sich heute anders anfühlen als vor vielen Jahren (Körper, Sinnlichkeit, neue Medien). jedoch: das zu überprüfen, soll Aufgabe eines anderen Artikels sein.
Roland Reuß: (Seite 53) [„Lesen als Körpertechnik“]
Der Dinghaftigkeit der Buchstaben gibt das Buch, selbst Ding, ein Zuhause. Lesen ist eine Körpertechnik, die ihr Spiel in den Koordinaten eines aufgespannten dreidimensionalen Raums hat (diese Formulierung gebraucht in jenem Sinn, in dem man von einem Keilriemen sagt, er müsse „Spiel haben“). Und das Buch ist in diesem Koordinatensystem der Ort, auf den hin das Spiel der Lektüre sich sammelt. Von Menschen für Menschen Hergestelltes. Körpersprache. Der zweidimensionale Bereich der Bildschirmschrift dagegen zerstreut.
Seite 25 [„Haptisch erfahrbare Körperlichkeit.“]
Es hat seinen genauen Grund, warum Schrift auf dem Schirm – im spezifischen Unterschied zu ihrer Präsenz im Buch – immer den Eindruck des Abphotographierten erweckt. Ihre Dimensionalität ist verkürzt. Für das pathologisch planimetrische Lesen am Schirm reicht das eine Auge des Kyklopen.
Quelle Roland Reuß: Die perfekte Lesemaschine / Zur Ergonomie des Buches / Wallstein Verlag Göttingen 2016
Auch das andere Buch weckt gleich zu Anfang fordernde Assoziationen:
Bernhard Sorg: Seite 1 [„Empirie und Geist“]
Fünf literarische Darstellungen von Misanthropie, fünf Menschenfeinde, aber nur eine Geschichte: die von seiner allmählichen Verwandlung in eine Künstlergestalt, genauer: eine Vorstellung von Kunst und Künstler, die ihr Zentrum hat in der konstitutiven Opposition von Empirie und Geist. Von Anfang an (und das heißt in diesem Kontext: von Shakespeares Timon an) ist der literarische Misanthrop durch Eigenschaften gekennzeichnet, die ihn, zu Ende gedacht, prädestinieren zum Künstler – durch den Glauben an eine dichotomische Welt, der die Fülle der Erscheinungen abwertet gegenüber einer apriorischen Idee vom Menschen und den Dingen.
Quelle Bernhard Sorg: Der Künstler als Misanthrop / Zur Genealogie einer Vorstellung / Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989
Welche Forderungen? Etwa folgende Werke zu kennen oder zu lesen: Shakespeare: Timon of Athens / Molière: Le Misanthrope / Schiller: Der versöhnte Menschenfeind / Arno Schmidt: PHAROS oder von der Macht der Dichter / Thomas Bernhard: Das Kalkwerk / Werde ich sie wirklich lesen? Ich glaube nicht. Vorläufig nicht. Wie kam ich nur drauf? Durch einen Mail-Hinweis vom Stuttgarter Schauspiel:
Zugegeben: man könnte sich in diesen etwas labyrinthischen Gedankengängen verfangen. Auf der einen Seite (Sorg) die
Vorstellung von Kunst und Künstler, die ihr Zentrum hat in der konstitutiven Opposition von Empirie und Geist.
Auf der anderen Seite (Seel) die Behauptung:
Keine gelungene künstlerische Operation hat je mit der Trennung von Körper und Geist paktiert. Warum das so ist, hat niemand klarer gesagt als Paul Valéry in seinem Dialog Eupalinos oder Der Architekt aus dem Jahr 1923.
(Fortsetzung folgt hier)