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Schrei nicht so!

Verhaltene Emotionen

Zu den einfacher gestrickten Leidenschaften (anders als die durch singende Menschen vermittelten) gehören solche, die sich in Geschrei artikulieren, und ganz besonders, wenn die Schimpfkanonade mit einem Schlag auf den Tisch endet. Oder mit einer Serie von Schlägen, die den entsprechend verkürzten Satzteilen angepasst sind. Man denke an Chruschtschow, der einen Schuh zuhilfenahm. In der Musik nennt man solche Akzente Sforzato, ein Wort, das selbst Laien sofort einleuchtet, wenn auch aus falschen Gründen.

Oft wird Beethoven als Erfinder angesehen, obwohl der Effekt schon früher im „Stum und Drang“  und vor allem bei Carl Philipp Emanuel Bach zu finden ist; er gehört auch als Zielpunkt zum berühmten Mannheimer crescendo und zur „Rakete“ (wie am Anfang der ersten Klaviersonate von Beethoven, ebenso seines ersten Klaviertrios).

Bis zum Beweis des Gegenteils nehme ich allerdings an, dass Beethovens widerborstige Impulse auch zu der Idee führten, den erwarteten Höhepunkt ins Gegenteil zu verkehren, nämlich statt einer Fortissimo-Passage ein piano subito vorzuschreiben.

Ich kam jetzt darauf, als ich mir die Klaviersonate op. 14,1 wieder vornahm, die ich in meiner Jugend versucht habe (weil sie auf die Pathétique folgte), dann im Berliner Studium aber gründlicher studierte. Ich meine mich zu erinnern, dass mich dieser „Effekt“ störte. Ebenso wie die Tatsache, dass eine schöne Sonate mit echten Stolpersteinen durchsetzt schien, die nicht begründet waren. Vgl. „kurze Glatteis-Momente“ (Igor Levit) siehe hier Episode 9 (insgesamt hörenswert!), seltsam bei ihm in der Durchführung, um die es mir eigentlich geht, das hohe oktavierte G (statt E) – ein Versehen? oder ein Moment des Übermuts (beim Abbruch).

Anfang

Durchführung bis 1 Takt vor dem fraglichen Ton

Das Subito p nach „cresc.“ und „rinf“ Mitte der fünften Zeile. Es ist so, als ob der Höhepunkt zu heikel ist, ihn offen auszukosten, deshalb so plötzlich leise und zurück zum pp, – ein Geheimnis?

Natürlich wird man bei Theodor W. Adorno fündig, er hat das Phänomen anhand einer Violinsonate beschrieben, die ich hier vorwegnehme:

hier: bei 13:42 abrufen (Allegretto con Variazioni) op.30,1 letzter Satz der Sonate A-dur / man studiere ab 17:43 auch die feine Dynamik der Variation V (Minore), wenn einem crescendo unvermittelt ein piano folgt, – warum?

ZITAT

Es wird zu den Anliegen der Arbeit [Adornos am Beethoven-Buch] gehören, eine Reihe der tonsprachlichen Eigentümlichkeiten Beethovens zu erklären. Hierher gehören die sforzati. Sie bezeichnen durchweg einen Widerstand des musikalischen Sinnes gegen das allgemeine Gefälle der Tonalität, stehen aber zu diesem in einem dialektischen Verhältnis d.h. gehen oft aus harmonischen Ereignissen hervor, z.B. im Variationenthema von op.30, No.1 aus der Verzögerung des Eintritts der Tonika im 4. Takt um 1 Viertel. Entsprechend werden auch nach längeren Spannungen meist die sforzati »aufgelöst«, d.h. nun die guten Taktteile, wie zum Ausgleich, überbetont (Ibd. Takt 6  u. 7). Weiter die Sitte ein crescendo auf 1, und dem Höhepunkt, mit einem piano abzuschließen (oft bemerkt). Wahrscheinlich Mittel der in der stufenarmen und begrenzten Harmonik stets sehr schwierigen Verknüpfung. Anstatt daß es schließt und dann (brüchig) ein Neues beginnt, wird durchs p der Schluß verweigert – man könnte von dynamischem Trugschluß reden – zugleich Widerstand gegen das Gefälle der Kadenz. (…) [123]

Ob nicht die sforzati, die spätestens von op. 30 an systematisch gehandhabt sind, bereits Choks, Ausdruck der ichfremden Gewalt des bloß Seienden (oder der den Formen und damit sich selbst entfremdetetn Subjektivität), jedenfalls von radikaler Entfremdung, Erfahrungsverlust sind? (…) [125]

Quelle Theodor W. Adorno: Beethoven / Philosophie der Musik / Suhrkamp Frankfurt am Main 1993  (Seite 87f)

Adorno schreibt „spätestens“ von op. 30 an, man kann aber unschwer erkennen, dass in den Klaviersonaten der Bruch in der Dynamik spätestens mit op. 14 Nr.1 beginnt (also 1798/99), während die vorhergehende Sonate Pathétique op. 13 noch geradlinig mit dem Crescendo und den Sforzati umgeht

Anders jedoch die „Lösung“ im letzten Satz der Sonate op.14,1, vgl. Anfang und letzte Seite:

Als werde hier das verweigerte Ziel des Crescendos der ersten Zeile endlich doch noch ins rechte Licht gerückt: im Fortissimo…

Die tolle „Geschichte“ dieses Satzes wäre leicht erzählt, samt der Verselbständigung der Linke-Hand-Triolen im Mittelteil des Satzes. Ganz am Ende gewinnt (doch noch) die „Comodo“-Normalität – mit einer dezenten chromatischen Auflösung des Themas.