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David Garrett nicht loben können

Musikkritik

Um es vorwegzunehmen: er kann virtuos Geige spielen. Er beherrscht die – für den „Normalgeiger“ – höchst bewundernswerte Kunst, sich nicht einspielen zu müssen. Er kauert eine halbe Stunde oder länger in der Small-Talk-Show, dann steht er auf, greift die Geige und fetzt den Hummelflug so leicht dahin, dass einem die Haare fliegen. Wie kann er das? Ich weiß, bei Julia Fischer geht es genau so (wie neulich zu sehen, aber sie spielte eben nicht den Hummelflug, sondern einen atemberaubenden Hindemith-Satz – und sprach nicht ohne Ironie den Gastgebern ihre Anerkennung aus, weil solch eine Klassik-Rekord-Länge – per Vertrag gesichert – hier möglich war). In meiner Studienzeit ging die Legende um, Ruggiero Ricci habe die Paganini-Capricen ohne Schnitt veröffentlicht, er traf im Studio ein, nahm die Geige aus dem Kasten, spielte von Nr. 1 bis Nr. 24  und packte wieder ein. „Wollen Sie nicht nochmal abhören?“ „Warum!?“ – So die Legende. Klar, er war ein Virtuose, ein Künstler war er nicht.

Ich habe vor Jahren in einer WDR-Sendung die von Ulrich Beetz eingespielten Schubert-Sonatinen verglichen mit solchen, die Gidon Kremer aufgenommen hatte, im Blindversuch sozusagen, und war (bin) absolut sicher, dass niemand sagen kann, wer wann spielt. Ich hätte auch nie gezögert, einen Namen zu nennen, wenn es um den größten Mozart-Pianisten unserer Zeit ging: Alexander Lonquich. Und wer geigt die wunderbarste Frühlingssonate? Leonidas Kavakos. Und wer den schönsten Brahms? Daniel Gaede. Mein einziger Fehler wäre: mit Superlativen überraschen wollen, um jeden Preis verblüffen wollen. Denn es geht ja nun mal nicht ohne Differenzierung. Die Erlebnisse, auf die ich mich beziehe, haben lange gedauert, sind wiedergekehrt, haben Verlässlichkeit bewiesen. In einer Medienwelt der Rankingmanie hat es Sinn, gegen den Trend zu bewerten. –

Bei David Garrett denke ich als erstes an den Geiger, der in Lederausrüstung an einem Kran hängend wie ein recht massiver Engel vom Himmel herabschwebt, Rock-Schlager in Oktaven hackend und fortwährend lächelnd. Unerträglich, sein Brahms interessiert mich nicht. Das ist alles. Wer kann mich überreden zu differenzieren? Er will die Klassik halt auch noch können, auf der Bühne vor seinem Lieblingspublikum stehend, nun endlich auch seriös, aber lässiger als andere, und er sagt dazu: „Ich hoffe, es wird euch gefallen.“ Ein Riesenproblem für die Musikkritik. Er wirkt lieb und bescheiden. Und er hat die Technik. Aber er hat keine Glaubwürdigkeit.

Und nun macht sich Julia Spinola an die Arbeit, seinen Brahms-Auftritt in Worte zu fassen. Ich habe oft beklagt, dass die ZEIT nicht angemessen über klassische Musik berichtet. Nun haben wir aber alles beisammen, was dazugehört: eine hervorragende Journalistin und einen Interpreten, dessen Sympathiewerte so unbezweifelbar sind wie sein Mangel an Klassikkompetenz .

Dieser Brahms kennt kein Sehnen, keine Verheißungen und keine Erfüllung. Er kommt nirgendwo her und will nirgends hin, hat keine Krisen und keine Geheimnisse. Er klingt nicht nur ernüchternd nuancenarm (Garrett liebt das stabile Mezzoforte), sondern auch bestürzend sinnentleert.

Woran liegt das? Zunächst einmal daran, dass Garrett den musikalischen Verlauf nicht als Entwicklung auffasst, sondern als Reihung melodischer Aussagen und harmonischer Zustände. In seinem Spiel klingen die Themen beim ersten Auftreten ganz genauso wie in den Wiederholungen, ganz gleich, durch welche Höhen und Tiefen sie in der Zwischenzeit gegangen sein mögen. Zweitens laufen Garretts Phrasierungen relativ stereotyp ab: In melodischen Aufschwüngen wird der Spitzenton stets über ein leichtes Portamento erreicht, Steigerungen unterstreicht er durch gewisse Eintrübungen der Intonation, und am Phrasenende folgt dann der Rundbürstenschliff.

Quelle DIE ZEIT 19. März 2015 Seite 56 Habt mich lieb! David Garrett will endlich wieder als seriöser Musiker verstanden werden und geht mit den Violinsonaten von Johannes Brahms auf Tournee. Von Julia Spinola.

Dem Pianisten ergeht es noch schlimmer. – „Und daher klingt auch das von Garrett als wild und ungebändigt angekündigte Scherzo in c-Moll geradezu deprimierend alltäglich und routiniert: von Einsamkeit, gar Freiheit keine Spur.“

Ich habe David Garrett nicht mit den Brahms-Sonaten gehört, glaube aber Julia Spinola aufs Wort, selbst wenn er nächstes Mal die Wiederholungen anders spielt und sich Portamenti an den entsprechenden Stellen versagt. Man nimmt ihm das alles nicht ab und muss es halt irgendwie begründen. Ich muss es nicht unbedingt gehört haben, um es sehr treffend zu finden, wenn es am Ende heißt:

Garretts Spiel tut niemandem weh. Dieser Mann hat nichts Eitles. Er will sich mit den Brahms-Sonaten nicht selbst inszenieren, seine Interpretationen haben nichts Aufgesetztes, nichts unangenehm Geschminktes, ja nicht einmal etwas Unauthentisches. Garrett spielt, wie er ist: hübsch, ein wenig blass, unverbindlich und uncharismatisch. Er ist der Held einer Zeit, die sich vor allem fürchtet, was ihre sicheren Allerweltsgefühle durcheinanderbringen könnte. Ganz so wie Garrett selber, der sich von einem Gefängnis ins nächste begeben hat, als er sich von drillenden Eltern und Lehrern befreite, um sich einer totalitären Vermarktungsmaschinerie in den Rachen zu werfen. Die künstlerische Freiheit als Stockholmsyndrom? Dann haftet einer Figur wie David Garrett durchaus etwas Tragisches an.

Und wenn er wirklich gesagt hat, dass er hier vor seine Fans tritt, um das „Intimste“ zu offenbaren, und zwar mit Stücken, die man eigentlich nur unter Freunden im Wohnzimmer spielen könne, und es gehe darum, „jeder Note eine Bedeutung“ zu verleihen.

Ja, das kann er wirklich gesagt haben, jeder kann es sagen und die abgedroschensten Allerweltsgefühle meinen. Was man heute eben so „Emotionen“ nennt.

Das Wort „Stockholm-Syndrom“ ist ein Treffer! Wenn die Kunst uns in Geiselhaft nimmt und wir sie aus lauter Not zu lieben beschließen…