Nichts macht neugieriger als ein Witz, den jemand aus irgendeinem Grund partout nicht erzählen will.
Und so geht es mir mit dem Gerücht, dass der berühmte antike Redner und Politiker Cicero Witze in der Redekunst, die er wie kein anderer beherrschte und beschrieben hat, sehr wichtig fand, dass uns aber angeblich kein einziger davon witzig erscheint.
So schreibt jedenfalls Peter L. Berger (1998), während er sich auf einen Essay von Joachim Ritter (1940) bezieht:
Das Komische hängt immer von der Lebenswelt ab, in der es sich ereignet. Man kann nicht über Witze aus Lebenswelten lachen, die man nicht begreift. Deshalb ist es beispielsweise schwierig für den modernen Leser, irgendeinen Humor in den vorgeblich komischen Episoden zu entdecken, die Cicero schildert. Die besten jüdischen Witze verpuffen in China. Und was einer Gruppe von Bauarbeitern höchst komisch erscheint, amüsiert Mitglieder der anglistischen Fakultät Harvard kaum, und vice versa.
Quelle Peter L. Berger: Erlösendes Lachen / Das Komische in der menschlichen Erfahrung / Walter de Gruyter, Berlin New York 1998
Und schon interessiert mich nichts mehr als Ciceros Gelächter, mehr als das Homerische, das wohl nur die Götter betraf und vor allem als laut und nicht enden wollend beschrieben wird. Im altsprachlichen Gymnasium, das ich einst besuchen durfte oder musste, war das Lachen kein Thema; es entstand spontan auf Seiten der Schüler, vorwiegend durch Albernheit und mutwillige Störung des Unterrichts. Oder auch als Scheinantwort, z.B. auf die ernste Frage des Lehrers, was denn die Inschrift „Deo et literis“ (sic!) über dem Eingang bedeute: „Gott und den Litern!“
Ich habe mir jetzt wenigstens einige weiterführende Quellen zusammengesucht, so dass ich für eine echte Antwort auf die Frage zu Ciceros Witz gewappnet bin (paratus sum).
Allgemein zu „De Oratore“ bei Wikipedia HIER
Der Text deutsch (und lateinisch) HIER (Egon und Gisela Gottwein)
Ein anderes Beispiel (am anderen Ort Übersetzung & Kommentar von Dr. Raphael Kühner. Stuttgart, 2. Auflage, 1873) :
240. Es gibt zwei Arten des Witzigen, von denen die eine sich mit der Sache, die andere sich mit dem Wort beschäftigt. Mit der Sache, wenn man etwas als eine Anekdote erzählt, wie du, Crassus, einst von dem Memmius*, er habe dem Largius ein Stück aus dem Arm gebissen, als er sich mit ihm zu Tarracina um ein Mädchen gezankt hatte. Die Erzählung war schneidender Spott, aber ganz von dir selbst erdichtet. Zum Schluß fügtest du hinzu, in ganz Tarracina hätten damals an allen Wänden die Buchstaben L. L. L. M. M. geschrieben gestanden. Auf deine Frage, was das bedeuten solle, habe dir ein alter Mann aus der Stadt gesagt: ‘Largius’ Linke letzt Memmius’ Maulgier **.’ 241. Ihr seht, wie witzig, wie artig, wie rednerisch diese Art des Lächerlichen ist, mag man nun eine wahre Geschichte erzählen können, die man jedoch mit kleinen erdichteten Zügen versetzen muß, oder mag man etwas erdichten. Eine vorzügliche Eigenschaft in dieser Art des Witzes besteht darin, daß man das Geschehene so veranschaulicht, daß die Sitten dessen, von dem man erzählt, seine Sprache, alle seine Mienen ausgedrückt werden, so daß die Zuhörer meinen, die Sache geschehe und ereigne sich eben jetzt vor ihren Augen.
*Gaius Memmius, im Jahr 111 v. Chr. Volkstribun, war ein hämischer Ankläger ein mittelmäßiger, aber beißender Redner sowie auch ein beißender Liebhaber. Siehe Cicero, Brutus 36, 136, und Vom Redner II 70, 283. Günstiger urteilt über ihn Sallustius, lugurtha 27 und 30. Er wurde vom Volkstribunen Saturninus ermordet. – Der hier genannte Largius ist unbekannt. – Tarracina war eine Stadt in Latium, früher Anxur genannt.
**Im Original steht: lacerat lacertum Largi mordax Memmius, d. h. es zerfleischt den Arm des Largius der beißige Memmius. Um in der Übertragung die Anfangsbuchstaben der angegebenen Worte festzuhalten, mußte ich etwas freier übersetzen, indem ich lacerat durch letzt, d. h. verletzt, lacertum durch Linke, mordax durch Maulgier wiedergab.
Darüberhinaus gibt es noch eine im Internet nachlesbare Seminar-Arbeit über Ciceros Humortheorie, die zu weiteren Schritten ermutigt und den Blick auf die vorhandene Sekundärliteratur lenkt:
Die Humortheorie in Marcus Tullius Ciceros “De oratore” von Franziska Scheiner – Universität Duisburg Essen Fakultät für Geisteswissenschaften – Germanistisches Institut WS 2012/2013 – auffindbar HIER
ZITAT (Seite 8)
Cicero ist einer der ersten, der den Witz überhaupt als relevant für die Rhetorik die [der] Gerichtsrede einstufte. Hierzu muss bemerkt werden, dass sich das antik[e] römische Gerichtswesen wesentlich vom heutigen Gerichtswesen unterschied. In Rom waren direkte Rededuelle vor Gericht oder im Senat nur erfolgreich, wenn die Angriffe auf den Gegner absolut nichts mit dem tatsächlichen Tatbestand zu tun hatten. Die andere Person musste persönlich diskreditiert werden und dies ging laut Cicero, der zu dieser Einsicht aus persönlicher Erfahrung gekommen war, besonders gut dadurch, dass man die andere Person niveauvoll lächerlich machte und mit kleinen Spitzen in der Rede [zu] verunsicherte.
Aus dieser Forderung folgt bereits, dass hier der Witz als Witz nicht „autonom“ behandelt wird, sondern als Mittel zu einem einzigen Zweck, nämlich den Gegner herabzusetzen. Das ist wohl auch der Grund, weshalb Ciceros „Witze“ in unserer Gesellschaft nicht zünden: sie sind meilenweit vom Prinzip der „political correctness“ entfernt, es werden keine unbekannten Fakten präsentiert, keine Widersprüche aufgedeckt, aus denen sich eine humoristische Sich ergäbe, sondern es werden unangenehme Assoziationen ins Spiel gebracht, die ein schadenfrohes Lachen auslösen. Ein wesentlicher Faktor des Witzes fehlt: der befreiende Charakter.
Interessant ist zum Beispiel die Begründung, weshalb ein Witz, der einen körperlich klein geratenen Menschen treffen sollte, als bloße Possenreißerei negativ beurteilt wird:
245. Es trat ein winzig kleiner Zeuge auf. ‘Ist es erlaubt, eine Frage an ihn zu richten?’ sagte Philippus. Hierauf erwiderte der Vorsitzer des Gerichtes, der Eile hatte: ‘Nur mach es kurz!’ Da sagte jener: ‘Du sollst dich nicht beschweren. Ein kleines Ding will ich nur fragen.’ Ein witziger Einfall! Aber zu Gericht saß Lucius Aurifex, der selbst noch kleiner war als der Zeuge. Das ganze Gelächter wandte sich gegen den Richter, und so erschien der Witz als eine Possenreißerei. Also das, was eine Person treffen kann, die wir nicht getroffen wissen wollen, gehört, mag es auch noch so hübsch sein, seinem Wesen nach in das Gebiet des Possenhaften.
Der Übersetzer fügt hinzu, dass der verwendete Ausdruck „perpusillum rogabo“ doppeldeutig ist, da „perpusillum“ sowohl Maskulinum (“Einen winzig kleinen Menschen werde ich fragen”) als auch Neutrum (“Nur eine Kleinigkeit werde ich fragen”) sein kann.
Aber die negative Beurteilung trifft diesen Wortwitz nur deshalb, weil er zufällig auch auf den noch kleineren Richter bezogen werden konnte.
Quelle Raphael Kühner 1873 (wie oben, Seite 189)
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Humor im frühen Italien
ZITAT
Scherze sind eine weitere Form der Kommunikation; man fängt an, die Geschichte ihrer Konventionen zu schreiben [Buchhinweise]. Sie unterscheiden sich gewiß beträchtlich von Epoche zu Epoche. Wenn wir ins Italien der frühen neuzeit reisen könnten, hätten wir vermutlich große Schwierigkeiten mit einem Humor, der heutzutage praktisch auf Kasernen (und Colleges, ihr zivile gegenstück) begrenzt ist. Sogar am Hof von Urbino, wie er in Castigliones Hofmann – stark idealisiert – beschrieben wird, bewarf man sich bei Tische mit Brotkügelchen. Handfeste Späße der verschiedensten Art waren sehr beliebt. Zahlreiche Quellen bestätigen den Hang für die burle oder beffe. Vergleicht man die Motive der italienischen Kurzgeschichte jener Zeit, der novella, mit denen von Volkssagen und Erzählungen aus anderen Ländern, so zeigt sich, daß die Italiener besonders von Kniffen und Gaunerei fasziniert waren, insbesondere aber vom Thema der Demütigung des Opfers (Rotunda, 1942). Handfeste Späße waren eingebaut in italienische Landhäuser wie die Medici-Villa in Pratolino aus dem sechzehnten Jahrhundert, wo der Gastgeber seine ahnungslos im Garten lustwandelnden Gäste durchnässen, die Zuschauer zum Schauspiel machen konnte. [Seite 17]
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Castigliones Gespür für die Dramaturgie des Alltagslebens ist bereits erwähnt worden (S.20). Seine Erörterung der Stellung des Lachens in einer kultivierten Gesellschaft, einschließlich seiner Definition des Komischen als „einer gewissen Mißbildung“ (una certa deformità) ist berühmt. Es ist jedoch bekannt, daß Castiglione in diesem Abschnitt Cicero folgt, und daß sein Hauptziel nicht so sehr darin besteht, die Sitten und Gebräuche seiner Welt zu interpretieren als vielmehr, sie zu ändern. Auf jeden Fall bleibt Castiglione ein entscheidender Zeuge für das Verhalten, das er ablehnt. [Seite 27 f]
Quelle Peter Burke: Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock / Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1986 ISBN 3 803135338
Nachtrag 24. Juli 2021
Ein Artikel im Solinger Tageblatt ist in diesem Zusammenhang interessant (incl. Buchhinweis):
Hinweis auf DENNIS PAUSCH: „Virtuose Niedertracht. Die Kunst der Beleidigung in der Antike“ Verlag C.H.Beck.