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Musikalische Krankheitssymptome

Man könnte aus der Haut fahren, wenn die klassische Musik zum Thema einer großen Zeitung gemacht und wieder einmal mit falschen Vorzeichen versehen wird. Der Musiker weiß es sofort, wenn da von EKG und Beethoven die Rede ist, – jetzt kommt die Cavatina aus Opus 130 und die Mär von der Herzrhythmusstörung. Wer weiß, ob wirklich ein amerikanischer Musikwissenschaftler namens Steven Whiting (University of Michigan School) in Zusammenarbeit mit einem Kardiologen namens Zachary Goldberger und dem Medizinhistoriker Joel Howell dafür verantwortlich ist, was man jetzt in der „Welt am Sonntag“ liest. Zunächst einmal: wie die Cavatina, eins der ergreifendsten musikalischen Bekenntnisse überhaupt, charakterisiert wird als „das Ohr umschmeichelnd wie leichter Frühlingswind, der durch die Wipfel streicht“, ein Satz, der zunächst alles aufbiete, „um in einen seligen Schlummer hinüberzugleiten.“ Doch nach etwa dreieinhalb Minuten sei es damit vorbei: „Die Streicher sind dann zwar immer noch nicht laut, doch ihre Klangwogen schwellen nun an. Der Komponist gibt ihnen auch in der Partitur ausdrücklich die Anweisung, dass sie ‚beklemmend‘ spielen sollen. Zum Einschlafen eignet sich das nicht mehr, denn jetzt bekommt man Angst, danach nicht mehr aufzuwachen. Berechtigterweise, wie Forscher jetzt herausgefunden haben. Denn Ludwig van Beethoven verarbeitete in der Cavatina wohl seine Herzrhythmusstörungen. Und nicht nur dort, sondern auch in anderen Kompositionen.“

Zunächst einmal die Lautstärke: zweimal erreicht dieser Satz ein forte, nämlich in Takt 27 und 36, aber nicht an dieser Stelle, über der auch nicht als Spielanweisung „beklemmend“ steht, sondern „beklemmt“, und das steht nicht über den „Klangwogen“, die nun angeblich anschwellen, sondern über Takt 42, in dem die Spielanweisung lautet sempre pp, lediglich über der 1. Geigenstimme, die eine in Fragmente zerrissene Melodie andeutet, steht das Wort „beklemmt“. Erst in Takt 46 beginnt ein Crescendo, auch in Takt 48, aber keines führt zu einem Forte. Es folgt die Reprise der Cavatinen-Melodie, wer kann, darf beruhigt wieder einschlafen.

Beherzigenswerter als jeder Hinweis auf Herzstörungen in dieser Musik ist die Erinnerung eines Beethovenfreundes: Er hat sie wirklicher unter Thränen der Wehmuth komponirt, und gestand mir, daß noch nie seine eigene Musik einen solchen Eindruck auf ihn hervorgebracht habe, und daß selbst das Zurückempfinden dieses Stückes, ihm immer neue Thränen koste.

Wer angesichts dieser Cavatine tatsächlich vom Einschlafen spricht, ist keinen Moment der Aufmerksamkeit wert. Und wer aus einer Klavier-Sonate (op.81a), die vom Komponisten eindeutig auf Abschiedsschmerz und Wiedersehensfreude bezogen ist, eine Wellenbewegung heraushören will, die „bekanntlich ein häufiger Trigger für Herzrhythmusstörungen“ sei, muss nicht widerlegt werden.

Ähnlich absurd ist der folgende Abschnitt:

Der depressive Schumann erschuf – ebenfalls konsequenterweise – seine fröhlichen Werke nur dann, wenn er gerade in einer manischen Phase war, während die farbige Umsetzung der einfachen Klanglinien im „Bolero“ der Tatsache zu verdanken sind, dass sein Verfasser, der französische Komponist Maurice Ravel, so schwer an der linken Gehirnhälfte erkrankt war, dass er keine komplexen Tonfolgen mehr verarbeiten konnte.

 Quelle Welt am Sonntag  (Wissen) 1. März 2015 (Seite 61)  Jörg Zittlau: Beethovens musikalisches EKG / In den Werken berühmter Komponisten spiegelt sich nicht nur ihr Genie wider. Auch ihre Gebrechen spielen eine Rolle.

Nur soviel zu Ravel: er komponierte nach dem Boléro (1928) noch Kleinigkeiten wie das Klavierkonzert für die linke Hand (1929 -1930) und das Konzert für Klavier und Orchester G-dur (1929 -1931) …

Die (glaubwürdigen) Anekdoten zum Boléro werde ich hier nicht wiederholen ( siehe bei Wikipedia hier), – er hat das Werk, wie der Wortwechsel mit Toscanini zeigt, durchaus ernst genommen -, und man darf sagen, dass allein die Raffinesse der Melodie eine Dissertation verdient hätte, nicht nur die Instrumentation und die Idee, – zum erstenmal in der westlichen Musikgeschichte! -, dem separat inszenierten Rhythmus eine Hauptrolle zu erteilen.

Hier gebe ich noch einmal meine Transkription des Boléros zum besten, auf den Grundton G gesetzt, den tiefsten Ton der Geige. So hat jeder Geigenspieler ausgiebig Gelegenheit, über diese unendliche (und unsterbliche) Melodie zu meditieren, eine Melodie, die vielleicht – im alten Sinne – gar keine sein will.

Bolero in G++

Maurice Ravel „Boléro“ (Übertragung: Jan Reichow, hier bei der Arbeit)