Was steckt dahinter?
Vor 25 Jahren wusste ich es. An dieser Stelle war ich überzeugt, den Stein der Weisen gefunden zu haben, und ganz falsch war das sicher nicht. Aber ich habe diesen philosophischen Weg doch immer wieder aus den Augen verloren. – Uza ist der kleine Ort, südlich von Mimizan, nicht weit von der wilden Atlantikküste, inmitten der unendlichen (künstlichen) Wälder von Les Landes, wo wir des öfteren Urlaub gemacht haben.
Man muss diese Philosophie (privat) rekapitulieren und ergänzen. Sich zueigen machen, die Terminologie für den täglichen Gebrauch einrichten. Klügeres gibt es nicht. Die Musik aus der üblichen Zone des Missverständnisses herauslösen. Eine Gefahr, die auch im (deutschen) Titel des nachfolgenden Hauptwerkes der Philosophin lauern könnte: „FÜHLEN UND FORM“. Als sei Musik für das Fühlen zuständig, – die Sprache der Gefühle, wie es der Volksmund gern will. Nichts ist falscher als das. Die Kunst der Fuge – ein Werk der großen Gefühle?
Fühlen und Form / Eine Theorie der Kunst / Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christiana Goldmann und Christian Grüny / Mit einer Einleitung, Literaturverzeichnis und Registern herausgegeben von Christian Grüny
Was aber nicht für die Kunst der Fuge gilt, sage ich, hat in der Musikästhetik überhaupt keine Gültigkeit. Natürlich steht im Titel auch das Wort FORM, aber damit ist noch nichts plakativ geklärt. Es handelt sich ja durchaus nicht um ein Entweder-Oder, keinen Antagonismus. Etwa zwischen Sprache und Musik.
Man sollte sich zunächst einmal davon freimachen, dass das Wort Symbol hier ähnlich verwendet wird, wie etwa im Fall eines religiösen Symbols, wo das Bildzeichen einem Gedanken zugeordnet ist. Ein Symbol aber ist zunächst ganz allgemein (so in den „Grundbegriffen der Literatur“ von Otto Bantel 1962) „ein anschauliches Zeichen, welches etwas vergegenwärtigt, was im Augenblick oder überhaupt nicht anschaulich zu machen ist. Es verweist also auf ein von ihm Bezeichnetes.“
Zu diesen anschaulichen Zeichen gehören nicht nur die Schriftbilder der Hieroglyphen, sondern – jedes Wort unserer Sprache. Und wie das entstanden sein mag, hat Susanne Langer in einer wunderbaren Spekulation entwickelt: Stellen wir uns frühmenschliche Wesen vor, die auf bestimmte Dinge mit expressiven Lauten reagieren: lange Gewohnheiten könnten bestimmte Laute derart fixieren, dass der Laut – oder nennen wir ihn schon „Wort“? – und der gemeinte Gegenstand als zusammengehörig empfunden werden. Denken wir uns das Wort „Hirsch“, von einem Wesen dem anderen zugerufen. Was sagt das? – Und nun Susanne Langer:
Der Hörer, indem er seinen eigenen Gedanken über den Gegenstand denkt, mag sich bemüßigt fühlen, das Wort ebenfalls zu sagen. Die beiden Geschöpfe werden einander ansehen mit dem Licht des Einverständnisses in den Augen, sie mögen ein paar weitere Wörter sagen und weitere Gegenstände ins Auge fassen. Vielleicht reichen sie einander die Hände und singen zusammen Wörter. Kein Zweifel, daß eine solche erstaunliche ‚Übung‘ sehr schnell Nachahmer gefunden haben muß.
Quelle: Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege / Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst / Fischer Wissenschaft Frankfurt am Main, 1984/1992 (orig. 1942) Zitat Seite 136
Und an dieser Stelle würde ich fortfahren mit der oben wiedergegebenen Seite 144, insbesondere den folgenden Sätzen:
Denn die Idee, etwas mit einem Namen zu belegen, ist der fruchtbarste Gedanke aller Zeiten; sein Einfluß mag durchaus imstande gewesen sein, das gesamte Leben und Fühlen der Gattung binnen weniger Generationen zu verwandeln. (…) Kaum war der erste Funken geschlagen, so war auch das Licht der Vernunft entzündet; ein Zeitalter phänomenaler Neuerungen, Veränderungen, vielleicht sogar zerebraler Entwicklungen hatte begonnen, als aus der nichtigen Affenkreatur, die er gewesen, der Mensch hervorging.
Der sprechende Mensch!!! Mit Hilfe der symbolischen Sprache (siehe auch hier), die also „etwas mit einem Namen“ belegt, können Menschen etwas zum Thema machen, was nicht gegenständlich anwesend ist. Zum Beispiel den Hirsch in seinem Versteck, dem sie durch die Jagd beikommen wollen.
Ein kleines Problem bietet sich, wenn wir heute die symbolischen Modi, in denen wir uns äußern, jenseits (oder oberhalb) der kommunikativen Normalität ansiedeln. Gemeint ist aber zunächst einmal nur die „normale“ Sprache, vom alltäglichen Geplapper bis zum pathetischen Dithyrambus.
Der Plural Modi ist gerechtfertigt, sobald wir auch andere Formen der Kommunikation einbeziehen, die nicht der verbalen Sphäre angehörigen, z.B. der musikalischen, der wortlosen, der nicht-diskursiven, auch: der visuellen. Und das ist unser Ziel.
Ich zitiere (unvollständig, ab Seite 105):
In der Sprache, dem erstaunlichsten Symbolsystem, das die Menschheit erfunden hat, werden einzelne Wörter auf der Grundlage einer schlichten Eins-zu-eins-Zuordnung Gegenständen zugewiesen. (…) Jedes Symbol, das etwas benennt, wird „als eines aufgefasst“, und so auch das Objekt. Eine „Menschenmasse“ ist eine Menge von Menschen, aber als eine Menge aufgefasst, also eben als Masse. (…) Die mit den Wörtern assoziierten Begriffe bilden einen komplexen Begriff, dessen Teile sich zu einem Muster zusammenfügen, das dem des Wortmusters analog ist. Wortbedeutungen und grammatische Formen oder Regeln für den Wortgebrauch können frei zugewiesen werden. Sobald sie aber allgemein akzeptiert sind, ergeben sich von alleine Propositionen als Bedeutungen von Sätzen. Man könnte sagen, die Elemente der Propositionen werden durch Wörter benannt, aber die Propositionen selbst werden durch Sätze artikuliert. [Seite 106]
JR Zu dem linguistischen Begriff Proposition siehe hier.
Ein komplexes Symbol wie ein Satz eines ist oder eine Landkarte (deren Umrisse formal den weitaus größeren Umrissen eines Landes entsprechen) oder ein Diagramm (das vielleicht unsichtbaren Bedingungen analog ist, dem Anstieg und Fall von Preisen, der Ausbreitung einer Epidemie), ist eine artikulierte Form. Die für sie charakteristische symbolische Funktion nenne ich den logischen Ausdruck. Er drückt die Relation aus, und er kann jeden Komplex von Elementen „bedeuten“ – konnotieren oder denotieren -, der die gleiche artikulierte Form wie das Symbol hat, die Form, die das Symbol „ausdrückt“. [Seite 107]
Mit der Annahme, Musik sei ein Symbol, sind viele Schwierigkeiten verknüpft, denn wir sind so sehr vom Inbegriff der symbolischen Form – der Sprache – geprägt, dass wir ganz natürlich ihre Eigenschaften auf unsere Vorstellungen und Erwartungen übertragen, die wir an jeden anderen Modus knüpfen. Musik ist nun aber keine Art von Sprache. Ihr Sinngehalt unterscheidet sich strikt von dem, was herkömmlich und eigentlich „Bedeutung“ genannt wird. [Seite 104]
Die Musik ist wie die Sprache eine artikulierte Form. Ihre Teile verschmelzen nicht nur miteinander zu einem größeren Gebilde; indem sie dies tun, behalten sie auch einen bestimmten Grad ihrer getrennten Existenz, und der sinnliche Charakter eines jeden Teils ist dadurch bestimmt, welche Funktion er in dem komplexen Ganzen erfüllt. Das heißt, das größere Gebilde, das wir als Komposition bezeichnen, ist nicht allein durch eine Mischung zustande gekommen, so wie etwa eine neue Farbe dadurch entsteht, dass verschiedene Farben miteinander vermischt werden. Stattdessen ist sie artikuliert, das heißt ihre innere Struktur bietet sich unserer Wahrnehmung dar.
Warum ist die Musik dann nicht die Sprache des Gefühls, als die sie so oft bezeichnet worden ist? Weil es sich bei ihren Elementen nicht um Wörter handelt – um unabhängige assoziative Symbole, deren Bezug durch die Konvention festgelegt ist. Nur soweit sie eine artikulierte Form ist, entspricht sie irgendetwas anderem, und da keinem ihrer Teile eine Bedeutung zugewiesen worden ist, fehlt es ihr an dem grundlegenden Merkmal von Sprache – an festgelegter Verknüpfung und damit an einem einzigen, unzweideutigen Bezug. Es steht uns frei, ihre subtil artikulierten Formen mit einer passenden Bedeutung zu versehen, das heißt: Die Musik kann die Idee von etwas vermitteln, das in ihrem logischen Bild gedacht werden kann. Daher ist sie, obwohl wir sie als eine signifikante Form auffassen und die Lebens- und Empfindungsprozesse mittels ihres hörbaren, dynamischen Musters verstehen, dennoch keine Sprache, denn sie besitzt keine Wörter.
Halten wir uns an den Grundsatz der strikten Benennung, dann sollten wir ihren Gehalt wohl auch nicht als „Bedeutung“ bezeichnen. So wie Musik nur in einem uneigentlichen Sinne eine Sprache genannt wird, so sprechen wir auch nur in einem recht lockeren Sinne von ihrer symbolischen Funktion als Bedeutung, da es ihr an einem konventionellen Bezug fehlt. In Philosophie in neuer Tonart [so der bessere Titel des oben abgebildeten Buches „Philosophie auf neuem Wege“] habe ich die Musik als ein „unvollendetes“ Symbol bezeichnet. [Anm.] Bedeutung, in dem gewöhnlichen Sinne, wie er in der Semantik gebraucht wird, beinhaltet, dass es einen konventionellen Bezug gibt bzw. dass die symbolische Beziehung vollendet ist. Musik kommt Bedeutsamkeit (import) zu, und diese besteht im Muster des Empfindens – dem Muster des Lebens selbst, wie es gefühlt und unmittelbar erkannt wird.
Daher sollten wir den Sinngehalt der Musik ihre „vitale Bedeutsamkeit“ und nicht ihre „Bedeutung“ nennen, wobei „vital“ nicht als eine Art unbestimmter Ehrentitel verstanden wird, sondern als erläuterndes Adjektiv, das die Relevanz der „Bedeutsamkeit“ auf die Dynamik der subjektiven Erfahrung einschränkt.
Soviel zur Theorie der Musik; Musik ist eine „signifikante Form“, und ihr Sinngehalt ist der eines Symbols, eines höchst artikulierten Objekts, das aufgrund seiner dynamischen Struktur die Formen vitalen Erlebens zum Ausdruck zu bringen vermag, für deren Vermittlung die Sprache besonders ungeeignet ist. Fühlen, Leben, Bewegung und Emotion machen ihre Bedeutsamkeit aus. [Seite 108]
Zur weiteren Verdeutlichung noch einmal ein paar Seiten zurück:
(…) Gleichwohl bildet die Theorie der Musik unseren Ausgangspuinkt, weshalb ich kurz zusammenfasse, was sich am Ende des früheren Buches ergeben hat:
Die tonalen Strukturen, die wir „Musik“ nennen, weisen eine große logische Ähnlichkeit zu den Formen menschlichen Gefühls auf – Formen von Zunahme und Verminderung, von Fließen und Stauung, von Konflikt und Auflösung, Schnelligkeit, Innehalten, ungeheurer Erregung, Ruhe oder subtiler Belebung und träumerischen Fehltritten – vielleicht nicht unbedingt von Freude und Trauer, wohl aber von der Heftigkeit des einen oder von beiden – von Größe, Kürze und dem unaufhörlichen Vergehen von allem, was lebendig gefühlt wird. Dies ist Struktur oder die logische Form des Empfindens (sentience): und die Struktur der Musik ist von eben derselben Form, ausgeführt in reinem, gemessenen Klang und Stille. Musik ist ein tonales Analogon des Gefühlslebens.
Solch eine formale Analogie oder Kongruenz logischer Strukturen ist die wichtigste Voraussetzung für die Beziehung zwischen einem Symbol und dem, was es bedeuten soll. Das Symbol und das symbolisierte Objekt müssen irgendeine gemeinsame logische Form haben. [Seite 101]
Die Quellen aller Zitate finden sich in den beiden Büchern, die in diesem Artikel oben genauer bezeichnet sind. Die hier wiedergegebene Auswahl dient mir persönlich als Memorandum und sollte ohne Kenntnis des Umfelds in den beiden Bücher nicht verwendet werden.
Ich habe mich in früheren Jahren zuweilen mit dem berühmten Spruch von Victor Hugo zufrieden gegeben, den ich auch jetzt noch gelungen finde:
Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.
Aber nach gründlicher Lektüre der Schriften Susanne K. Langers sollte man sich nicht mehr mit Sinnsprüchen bescheiden. Es kommt wie immer auf die Details und die sorgfältige Entfaltung Punkt für Punkt an. Man kann sich im Ungefähren nicht einrichten. Und ganz besonders die Musik, die sich wortlos präsentiert, fordert Klarheit.
P.S.
Einen ausdrücklichen Hinweis verdient die Einführung von Christian Grüny, in der die gedankliche Arbeit Susanne K Langers in einen weiteren Kontext gestellt und auch in ihrer terminologischen Problematik erfasst wird.
P.P.S.
Ich möchte dieses Thema nicht mehr aus den Augen verlieren; verweise aber zunächst auf das Skript einer Radiosendung, in der ich es schon einmal „umkreist“ habe, nämlich vor ziemlich genau 10 Jahren: am 6. April 2009 im SWR2 essay mit dem Thema
Weltinnenraum Musik
Wohin begeben wir uns, wenn wir im Konzertsaal sitzen?
Nachzulesen: HIER.