Marienvesper I

Monteverdi kombiniert mit Caravaggio?

Ich bin darauf hereingefallen. Andererseits auch wieder nicht. Ich wusste, die Aufnahme mit William Christie ist nicht neu, aber ich besitze sie nicht; es kann letztlich nicht schaden, sie zu bestellen. Aber gerade die Kombination mit Caravaggio macht mich neugierig. Ja, ich bin darauf hereingefallen! Die beiden sind einfach nur zusammengeklebt. Aber Caravaggio ist eine erneute Anregung, gerade da ich seine Rolle im Buch von Navid Kermani („Ungläubiges Staunen“) anfechtbar fand. Mal sehen…

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Wenn Sie dieses CD-Cover anklicken, sieht es beeindruckend aus; in Wirklichkeit ist die Schrift viel zu klein, auch im Inneren des Heftes, vielleicht weil die Bilder soviel Platz nehmen. Aber sind die Texte dazu unwichtig? Und der Text zur Marienvesper, ihr Inhalt ? Glänzt durch völlige Abwesenheit.

Natürlich ist wieder eine Reihe von Erinnerungen damit verbunden. Viele Aufführungen mit dem Collegium Aureum, – dies war nicht unsere erste, soweit ich weiß:

monteverdi-aachen-1979 Interdisc 1979

Ich muss allerdings erwähnen, dass ich mich – bevor ich diese Schallplatte wiedergefunden habe – mindestens eine Stunde mit der Frage beschäftigt habe, ob Eidechsen eigentlich beißen. Vielleicht wenn sie in die Enge getrieben werden?

Doch der Reihe nach… Ich durchblättere im CD-Booklet der Monteverdi-Vesper die Bilderreihe des Caravaggio und versuche einen Zusammenhang zu erkennen. Schon bin ich abgelenkt. Was ist denn diesem Jüngling zugestoßen? Ehrlich gesagt: ich sehe nichts. Ich kann ja auch nichts lesen. Doch, auf dem weißen Untergrund der rechten Seite ist was zu entziffern: Boy Bitten by a Lizard. Also, der Junge ist von einer Eidechse gebissen. Aber das möchte ich auch sehen! Zu welchem Stück der Marienvesper ich das später betrachten werde, muss ich nicht entscheiden. Wo ist die Eidechse, das ist die brennende Frage.

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Nur mit Wikimedia lässt sich meine Frage lösen: hier. Und wenn ich dort bin, habe ich auch noch eine Vergrößerungsfunktion. Lassen Sie mich meine Arbeit per Screenshot dokumentieren:

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Bin ich jetzt nicht deutlich einen Schritt weiter? Nun muss ich nur noch recherchieren, wie bissig Eidechsen sind. Der gute alte Brehm erzählt:

Im Einklange mit der Ausbildung ihrer Sinne steht ihr höheres Nervenleben. Sie sind ebenso lebhafte als unruhige, ebenso erregbare als bewegliche Geschöpfe, bekunden Neugier und Spannung, unterhalten und langweilen sich, gähnen wenigstens recht deutlich, zeigen sich ängstlich und furchtsam, dreist und muthig, je nach den Umständen, gerathen leicht in Zorn, lassen sich aber auch bald wieder besänftigen; sie achten auf alles, daher auch auf Musik, welcher sie mit Behagen zu lauschen scheinen. An Verstand stehen sie gewiß nicht hinter irgend einem anderen Mitgliede ihrer Klasse zurück, übertreffen im Gegentheile auch in dieser Hinsicht die meisten ihrer Verwandten. Sie benehmen sich so klug, als sich ein Kriechthier überhaupt benehmen kann, unterscheiden richtig, sammeln Erfahrungen und verändern infolge davon ihr Betragen, gewöhnen sich an veränderte Verhältnisse und gewinnen Zuneigung zu Geschöpfen, welche sie früher ängstlich flohen, beispielsweise zum Menschen.

Und schließlich erwähnt Brehm noch einen Forscher mit dem schönen Namen Glückselig, und eben der berichtet von seinen Käfig-Eidechsen:

»Mein großes Männchen«, sagt er, »ist ungeachtet seiner Zahmheit sehr leicht zu erzürnen, wenn man mit den Fingerspitzen auf seinen Scheitel klopft; es flüchtet nicht, sondern stellt sich muthig zur Wehre, haut auf eine possirliche Art mit dem Hinterfuße auf die Hand und sucht zu beißen, geht auch wohl nach solcher Aufregung längere Zeit in seinem Käfige umher und greift seine Mitgefangenen an.« Letzteren gegenüber zeigen sich die harmlos genannten Eidechsen keineswegs immer freundlich, sondern oft sehr bissig, zänkisch, kampflustig und räuberisch.

Meine Frage ist also auf erschöpfende Weise beantwortet, und ich neige dazu, das schmerzverzerrte Gesicht des von Caravaggio gemalten Jungen mit leiser Schadenfreude zu betrachten. Ja, ich hätte Lust, Disc I Tr. 9 aufzulegen und gemeinsam mit irgendeiner mir freundlich gesinnten Eidechse dem Concerto „Audi coelum“ zu lauschen.

Allerdings bin ich ein wenig vom Thema abgekommen, das liegt offenbar am Charakter dieser Compilation, ich versuche auf die rechte Bahn zurückzufinden. Stichwort London! Ich habe es noch gar nicht erwähnt, dort nämlich findet eine Ausstellung statt, die eben diesen Titel trägt: „Beyond Caravaggio“ (siehe hier), und wenn Sie diesem Link nachgehen, sehen Sie dort nur Werbung für die Ausstellung, keinerlei Vorab-Belehrung zur Bedeutung des Malers oder gar seiner Bilder. Da ist die Werbung in Gestalt dieser CD doch lukrativer: Sie glauben, einen Eindruck von seinen Bildern zu bekommen (wenn Sie einmal von der Eidechse und vielen anderen Details absehen), Sie können sogar kleine Erläuterungen lesen, falls Sie eine Lupe zur Hand nehmen, und Sie dürfen noch eine gute alte Aufnahme der Marienvesper von Monteverdi hören. 2 CDs! Allerdings haben sie dazu nicht mehr als die Text-Anfänge und Überschriften in Kleinstdruck und lateinischer Sprache vor sich. Und zahlen für das ganze Ramschpaket 17,99 €. 110 Minuten himmlischer Hintergrundmusik plus Mini-Bilderbuch.

Ich werde Sie dafür schadlos halten und einen vollständigen Text bereitstellen (und zwar den, der meiner uralten LP mit dem Aachener Domchor beigegeben ist), dazu eine große youtube-Aufnahme vom Festival St. Denis, zumal ich ohnehin längst eine Geschichte zur Erfindung der Gotik erzählen – oder abschreiben – wollte, die Geschichte einer unglaublichen Irreführung. Monteverdi hat damit allerdings nichts mehr zu tun. Eine Geschichte, die mir auch wirklich nichts einbringt, nein, nicht einmal Werbung in eigener Sache, letztlich nur dastehen wird, weil mich einerseits das Phänomen der gotischen Dome, andererseits Monteverdi lebenslang interessiert, und plötzlich in St. Denis zumindest äußerlich verbunden scheint, – und seltsamerweise ist Monteverdi in einem gotischen Sakralbau (Frarikirche in Venedig) aus Backsteinen (!) begraben. Was mich nun wiederum an Lüneburg erinnert. Und an damals, als wir in der Frarikirche Monteverdis Grabstein mit Andacht betrachtet haben: unser Collegium Aureum führte dort vor vielen Jahren Bachs Johannespassion (mit den Tölzern) auf. Die Erinnerung blüht, es weihnachtet, himmlische Zeichen allüberall…

Es ist Zeit, auch die Geschichte zu notieren, die vielleicht (Hinweis zur späteren Präzisierung: der Tenor Werner Hollweg wirkte mit!) nicht hier, sondern in Florenz passiert ist: Kurz vor Beginn der Aufführung war der Christus in der Sakristei vor einen Balken gelaufen, er blutete und konnte nicht auftreten. Gerhard Schmidt-Gaden trat aufgeregt vor das wartende Publikum und rief: „Un medico, un medico!“ Ja, es war einer da, aber bis zu Beginn des zweiten Teils der Passion musste ein fähiger älterer Knabe von den Tölzern den Christus-Part übernehmen. Dann war der wahre Christus – mit sachgerechtem Pflaster – wieder einsatzbereit.

Erinnerung

Da ich jetzt die LP der Marienvesper mit dem Aachener Domchor in Händen hielt, – wie die Qualität nach heutigen Maßstab zu beurteilen wäre, weiß ich nicht (ich lege die LP vorsichtshalber nicht auf). Aber ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit an die unvergessliche Aufführung eines französischen Chorwerkes, das mich in rhythmischer Hinsicht faszinierte, im Aachener Dom. Tanzrhythmen oder so etwas wie ein daktylisches Versmaß, eher langsam, oft hintereinander, so dass es eine eigene rhythmische Qualität gewann, in homophonem Zusammenhang. Eindeutig französisch, Lully-Zeit, es war in den Jahren, als wir auch Chorwerke von Francesco Cavalli einspielten. Ich habe den Namen –  Michel-Richard de Lalande muss es gewesen sein! – und höre alles, was ich mit William Christie auf youtube zu fassen kriege. Ja, dieser Komponist war es! Unvergleichlich. Wie allenfalls Rameau oder Campra, aber diese nicht im geistlichen Bereich. Gerade das macht den Zauber aus, diese Rhythmen im Aachener Dom.