Keyeyi

Heimaten

So möchte ich mir den Titel des Albums verdeutschen (frei nach J. Marc Reichow, der es – als „Heimathen“ – von Adalbert Stifter übernommen hat), als Benennung der Orte, wo man geboren und zu Bewusstsein erwacht ist, deren man später bedarf, um innerlich „nach Hause“ zu kommen. Es nicht nur eine Adresse, sondern zugleich ein Zustand des Fühlens und Denkens. Es ist mehr als eine vertraute Wohnstatt mit Wänden, Räumen und Fenstern, es ist ein Zustand der Freude, der Traurigkeit und der Ausdrucksweise in vielen verschiedenen Sprachen. „Nedendir“ übernehme ich gern als Wort der Zärtlichkeit und der quälenden Unruhe, die mich bewegt, wenn ich einem geliebten Wesen nicht nahe sein kann, – was immer diese Stimme auch auszudrücken vermag …

Wie kostbar klingt dieses Instrument, wie feingespannt diese Stimme! Es ist dieser Sänger, den ich als ersten unter allen Interpreten der nah-östlichen Volksmusik nennen würde, vor allen, die sich überhaupt mit den meisterhaften, scheinbar einfachen Parlando-Melodien beschäftigen, die der Diktion einer Sprache folgen, die wir nicht Wort für Wort verstehen, aber unweigerlich lieben lernen. Wovon singt er hier? Die Angaben zu „Nedendir“ im (folgenden) CD-Booklet Tr. 5, Part 2 sind spärlich, – daher meine einleitende freie Phantasie.

(bitte anklicken)

Lesen Sie auch, wie die CD beginnt: ein kurdischer Sänger aus der Türkei singt also über die Katastrophe des armenischen Volkes , Ende des 19. Jahrhundert und 1915/16, gedenkt des Völkermordes und der gewaltsamen Vertreibung aus der Heimat. Dort bis heute ein Tabuthema! Es ist herzergreifend. Das Klagelied hinterlässt Spuren tief in der Seele, und die Geschichte, die dazugehört, vertieft die musikalische Erfahrung. Ali Doğan Gönültaş fand dieses Lied, weil ein Armenier es im kalifornischen Exil bewahrte; es konnte 1986 von Bedros Alahaidoyan an die Öffentlichkeit gebracht werden. Darin ist von Hespí Degdí die Rede, der in die Berge ziehen muss, um dem Feind zu entgehen. Oder ist das Lied einer Frau in den Mund gelegt, die fern von ihren Bergen gestorben ist? Studieren Sie den eingeblendeten englischen Text und auch den anschließenden Kommentar zu diesem YouTube-Video:

Über die Geschichte solcher Lieder, die Bedros Alahaidoyan gesammelt hat, und über die Geschichte der armenischen Vertreibung findet man – auch musikethnologisch – Aufschlussreiches im folgenden Link:

https://www.houshamadyan.org/themes/song/music-gallery/songs-of-lamentation.html hier

(Fortsetzung folgt)

Was heißt Zaza? Siehe hier. Und was bedeutet: Kirdaski? s.a. unter Kirmanski hier.

Biographische Information (nach Klangkomos NRW)

Ali Doğan Gönültaş ist ein kurdischer Musiker der jungen Generation mit ausdrucksstarker Stimme, der sich dem musikalischen Schatz einer uralten multikulturellen Kulturlandschaft in Anatolien widmet.
Er wurde in Kiğı geboren, einer ostanatolischen Kleinstadt, deren Geschichte bis in die Zeit der Hethiter zurück reicht. Der Ort entwickelte sich um die Festung Kiğı, die wohl von den Urartäern errichtet worden war und 1616 durch ein Erdbeben so stark zerstört wurde, daß der Ort an den heutigen Platz verlegt wurde. Die Überreste der Festung liegen heute gut 20km entfernt. 1926 wurde Kiğı dann zunächst Teil von Erzincan und bildete ab 1936 mit weiteren Kreisen die Provinz Bingöl. 1990 verlor Kiğı drei Viertel seiner ursprünglichen Größe durch Abspaltung neuer Landkreise, die nun bis in die legendäre Region Tunceli (kurdisch = Dersim) reichen. Diese schwer zugängliche Bergregion ist dünnbesiedelt, wirtschaftlich unbedeutend, historisch wenig ergiebig und Tourismus spielt keine Rolle. Und doch umgibt die Region und ihre Kultur ein Mythos. Der von der Politik in der Türkei verbotene Name Dersim wurde zum Codewort für latente Auflehnung – aber auch für Musik.
Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem Alevitentum an, einer in Anatolien verbreiteten Konfession des Islam, deren Ursprung am heiligen, fast 3.500m hohen Munsur-Berg in der Region vermutet wird.
Zazaki wird von der Mehrzahl der Menschen in dieser Region gesprochen, eine Minderheit spricht Kurmandschi, zwei verschieden kurdische Sprachen. In der Region lebten auch Turkmenen und Armenier, von denen wohl schon vor dem Genozid von 1915 viele assimiliert wurden.

Ali Doğan Gönültaş hat an der Universität Kocaeli am Marmara-Meer Archäologie und Medienwissenschaften studiert. Seine professionelle Karriere als Musiker begann er 2015 mit der Indie-Band Ze Tijê, zu deren Gründern er gehörte und mit der er als Komponist, Arrangeur und Performer zwei Alben veröffentlichte. Er wirkte an Soundtracks von Filmen wie My Own Life (2014) und Şeng (2021) mit. Und er nahm als Komponist am Projekt ‚Stimme der Stadt – Immaterielles Kulturerbe in Diyarbakır‘ teil. Seit dem Jahr 2020 arbeitet er als Musikredakteur der Fernsehsendung ‚Stimmen und Spuren‘ für das kurdische Can TV. In der Sendung präsentiert er als Moderator Gespräche und musikalische Darbietungen, die Musikrichtungen, Regionalstile und Genres der Türkei repräsentieren, jenseits des Mainstreams.

Ab 2007 hat er zehn Jahre in der Region Bingöl Feldforschungen zur mündlichen Geschichte unternommen. Das erste Ergebnis war 2018 zunächst eine Solo-Konzertreihe ‚Xo Bi Xo‘ mit Liedern in Kurmandschi und Türkisch sowie in seiner Muttersprache Zazaki. Diese musikalische Arbeit hat er 2022 mit dem eindrucksvollen Debütalbum Album ‚Kiğı‘ fortgesetzt, das den Namen seines Geburtsortes trägt. Kiğı ist ein persönlicher Blick auf einen 150-jährigen musikalischen Schatz der Stadt Kiğı mit Stücken in den dortigen Regionalsprachen Krmancki, Kurmandschi, Kirdaski, Armenisch und Türkisch. In seinen Konzerten präsentiert er das Repertoire dieser Liedersammlung mit dem Ziel dem Diskurs der Kulturen eine Stimme zu geben und vor dem Vergessen zu bewahren. Das Projekt umfaßt thematische und musikalische Formen wie Govend (rhythmischer kurdischer Folktanz) Klagelieder, Arbeitslieder, Xerîbîyê und Gebetsformen mit den typischen modalen Formen der Region.

Ali Doğan Gönültaş – Gesang, Tembur (Laute), akustische Gitarre
Firat Caklici – Klarinette
Ali Kutlutürk – Perkussion, Daf