Kein Beziehungswahn!

Aber ja kein PC-Syndrom versäumen!

Achtung: PC heißt nicht mehr – wie in den alten Zeiten – Personal Computer, sondern Political Correctness. Und was ich – „intern“ – mit dem Wort Beziehungswahn vorsorglich unter Verdacht stelle, entbehrt der wahnhaften Beziehung auf mich selbst als Zentrum alles Geschehens. Ich lese die ZEIT, und beziehe einen Artikel, den ich plötzlich gründlicher als alles andere, was mich viel mehr anginge, auf einen anderen (Artikel) und dann, ja dann erst auf mich selbst. Zufall. In dieser Woche z.B. den Artikel über eine Gummipuppe als Geliebte. Er erinnert mich an eine böse Replik im Internet, die ich vor vielen Jahren erntete, als ich glaubte, die Gummipuppe bei Roxy Music abschätzig behandeln zu dürfen. Vor vielen Jahren? Kaum viel mehr als ein Jahrzehnt! Eine Sendung der WDR Musikpassagen am 16. März 2006: Kulturgüter, Pop und „Cultural Turns“ Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, Roxy Music, Ladysmith Black Mambazo, Hossein Alizadeh und Vilayat Khan, der Text ist archiviert:  HIER.

Einschub aus Wikipedia zum Beziehungswahn (nennen wir ihn BW):

Der Betroffene bezieht Dinge und Ereignisse in seiner Umgebung auf sich, die nach rationalen Kriterien gar nichts mit ihm zu tun haben können; er glaubt beispielsweise, dass Fernsehnachrichten versteckte Botschaften an ihn persönlich enthalten. Der Beziehungswahn ist besonders bei paranoischen Formen zu beobachten, bei denen er oft das Fundament des übrigen Wahngebäudes bildet.

Um ehrlich zu sein: bevor ich dieses Zitat hierher übertrug, hatte ich – trotz der maskulinen Grammatik – statt „Formen“ noch das Wort „Frauen“ gelesen und innerlich durchaus zugestimmt. Jetzt lehne ich allerdings jede Verantwortung für diesen Lapsus ab!

Also beginne ich doch lieber mit dem anderen Artikel, der sich als letzter einstellte – um nicht gleich jede Aufmerksamkeit von Leserseite einzubüßen (betr. Gummipuppe = Ende der Toleranz). Zumal er von einer Frau stammt, die sich eines beeindruckenden Selbstversuches unterzieht. Nein, ausschlaggebend dafür, nun auch noch diesen Artikel zu lesen, zu studieren, in Beziehung zu setzen, war die Hoffnung, von fremder (?) Seite etwas sehr Unbefangenes über das Phänomen Melodie zu hören, zumal über eine Melodie, die aus nichts (?) als einer Dreiklangsbrechung besteht…

ZEIT Walzer Beziehung

Vorgewarnt und zu tieferer Anteilnahme verführt war ich spätestens bei den Zeilen:

Kann man am kreiselnden Führen-und-Geführtwerden etwas über das Mann-Frau-Verhältnis ablesen? Wie es sich verändert hat – auch im Dreivierteltakt?

Davon hatte ich schon gehört, – BW! BW! -, durch ein junges Paar in der Verwandtschaft, das von bewegenden Erfahrungen beim Tango-Kurs erzählt hatte, sie sind also offenbar nicht taktgebunden.

Die Musik spielt wieder, sein rechtes Bein drückt irgendwie fordernd gegen mein linkes, meinen erschrockenen Rückwärtsschritt lässt er als unseren Tanzbeginn gelten und verhilft mir sogleich zu einer kompletten Rechtsdrehung um die eigene Achse, ganz leicht, völlig magisch. Noch eine und noch eine, seine Hand im Rücken stützt mich, seine Hüfte dirigiert mich durch den leeren Saal. So also ist das, wenn der Mann führt. Nicht schlecht. Eigentlich sogar ganz und gar nicht.

Denke ich schon wieder an etwas anderes? Lässt sich meine PC schon wieder schamlos vom BW überrollen? Ich füge vorsorglich an diesem Punkt die genaue Quellenangabe ein, und sei es nur um Zeit zu gewinnen:

Quelle DIE ZEIT  2. Februar 2017 Seite 53 Erkennen Sie die Melodie?* Sie feiert gerade 150. Geburtstag. Die Schriftstellerin Ulla Lenze ist zur Walzersaison nach Wien gereist, um darauf zu tanzen – auf dem ersten Ball ihres Lebens. [Das Sternchen hinter dem Fragezeichen führt zu: „*Donauwalzer, Johann Strauss, 1867“, eigtl. aus Gründen der PC zu ändern in „Strauß“, bitte!]

Klar ist mir nun auch, warum der Wiener Walzer zunächst nur vom einfachen Volk getanzt, bei der Hofgesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts verpönt war. Der richtige, echte Wiener Walzer ist tatsächlich ein extremer Tanz. Wie eine Vorübung zum Sex. Erst mit dem Wiener Kongress 1814/15 und dem flankierenden Unterhaltungsprogramm wurde der Walzer salonfähig, und man erkannte, was durch ihn möglich wurde: ungestraft Intimität mit fremden Damen und Herrn zu erleben.

Den Grund für die Beliebtheit des Walzers sieht der Strauss-Experte [Strauß-Experte] Professor Helmut Reichenauer aber auch in etwas anderem: Die Drehbewegung erzeuge einen Schwindel, man gerate außer sich, ja in einen Rausch, erklärte er mir bei meinem Besuch im Museum der Johann Strauss Dynastie, das er leitet. Außerdem bedürfe ein Dreivierteltakt stets einer Ergänzung, man könne nicht stehen bleiben – und fühle sich wie ein Perpetuum mobile, wolle immer weiter.

Quelle a.a.O. (s.o.)

Zur Sicherheit zitiere ich jetzt doch erstmal das, was ich damals zitiert habe bzw. mich selbst, um zu verdeutlichen, dass ich damals nicht bereit war, eine Gummipuppe als Lebensersatz ernst zu nehmen, ob mit oder ohne Geleitschutz von Adorno:

Die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht eine fortlaufende historische Diskothek der Popmusik von 1955 bis 2004, für jedes Jahr ein Album, im Fall 1973 mit 20 Titeln. Ich wurde aufmerksam, als ich im SZ-Magazin einen hochgestochenen Kommentar zu diesem Titel von Roxy Music las. Es beginnt mit dem Hinweis auf das Buch Die Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer – korrekt zitiert hieße es ohne Artikel: „Dialektik der Aufklärung“ -, jedenfalls: darin gebe es einen Riesenfehler!
Ich zitiere:

“ Pop und Jazz sind nämlich keineswegs bloße Verdummungsinstrumente der Kulturindustrie. Nicht nur, dass Pop mitunter dieselbe höhere Wahrheit erreicht, die bürgerliche Musikliebhaber allein in Bachs Fugen und Beethovens Streichquartetten finden; auch das Störpotenzial, das Adorno Arnold Schönbergs Zwölftonmusik zuschreibt, lässt sich ohne weiteres im Pop lokalisieren – zum Beispiel im Roxy Music-Stück In Every Home … , das von der spirituellen Leere einer vom Konsum geprägten Existenz handelt. „

Eine aufblasbare Gummipuppe symbolisiert, so heißt es, „Liebe im Zeichen der Gefühlsindustrie.“ Und dann wörtlich:

“ Fast will es scheinen, als hätte der Komponist Bryan Ferry vor der Niederschrift des Liedes bei Adorno nachgeschaut, so präzise vertont er hier kulturkritische Lehrsätze. Spätestens wenn im Herzen des Erzählers ein diffuser Schmerz auftaucht, das ‚heartache‘ des Titels, weiß man: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. „

Das ist die aufgeblasene Sprache der Popexperten, die versuchen, mit schlechten Klassikexperten gleichzuziehen. Auch ohne Adorno hätte man gewusst, dass es mit der Gummipuppe kein richtiges Leben gibt, selbst wenn das Leben da draußen kein falsches wäre. Und es kann auch wohl nicht ernst gemeint sein, dass der Sänger Bryan Ferry wirklich kulturkritische Lehrsätze vertont hat, allenfalls könnte er sie bei der Vertonung beherzigt haben, gemeint ist aber: bei der Textniederschrift.

Und völliger Quatsch ist es, den bürgerlichen Musikliebhabern zu unterstellen, dass sie in Bachs Fugen oder Beethovens Streichquartetten nach höherer Wahrheit suchen, und womöglich derselben, die auch in manchen Popstücken zu finden ist.

Das ist großmäuliges, verdinglichtes Gerede, das gleiche, das auch auf hohe Kulturgüter pocht, die womöglich von einer Leitkultur gehütet werden.

Man hört Musik, man beschäftigt sich mit Musik, man setzt sich ihren Wirkungen aus, man lebt mit ihr, aber man geht am Ende nicht mit einer höheren Wahrheit nach Hause. Sondern … von Musik erfüllt.

CD 1973

Die Quelle des Zitates und der beiden Zitate im Zitat finden sich, wie schon vermerkt –  im Musikpassagen-Skript vom 16. März 2006, ganz am Ende, Hier.

In Every Dream Home A Heartache (Text hier)

Roxy Bass

Was mich wundert: weder der Schreiberling, der seine Adorno-Puppe zur Abwehr der Verdächtigung niederen Geschmacks einsetzt, noch ich als Kritiker haben versucht, das feine, schillernde Gewebe der Gitarren-Obertöne über dem ostinaten Bass zu würdigen. Oder die zugleich sanfte wie auch angespannte Sprechstimme, die mit magisch fixierter Melodik dem Bass folgt, stattdessen war man mit gedanklicher Nobilitierung des Textes beschäftigt, der zweifellos an ein Tabu rührte. In einer Zeit, in der Tabubrüche zum Ausweis kreativer Originalität gehörte. Der sexuelle Tabubruch, den man einst wie eine Vorübung psychotherapeutischer Selbstbefreiung feierte, passte ganz gut zur permanenten Erweiterung des kapitalistisch befreiten Marktes. (Ich las damals Arno Plack: Die Gesellschaft und das Böse / Eine Kritik der herrschenden Moral, 1968). Und es war keine 10 Jahre her, dass man über bestimmte Lehrer, Schauspieler oder Mitschüler in diskriminierender Absicht tuschelte, sie seien 175er. Es treibt einem nachträglich die Schamröte ins Gesicht. Ich erinnere mich aber an erbitterte Diskussionen der 70er Jahre, wenn die Begriffe „normal“ oder „natürlich“ durchaus noch als Keulen gebraucht wurden. Heute, im Zeichen der grassierenden PC, neigt man dazu, Varianten menschlicher Körperlichkeit oder menschlichen Verhaltens bereits für schützenswert zu halten, noch ehe man von ihnen weiß. Andererseits ist man doch überrascht, wenn das 1973 leicht peinliche oder auch trotzig hochgespielte Roxy-Music-Thema in der angesehenen „Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Wissen und Kultur“ behandelt wird, als sei es endlich – wie man heute gern sagt – in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Natürlich kennt Tom die Vorbehalte, mit denen die Welt auf Beziehungen wie die seine blickt. Er ist ein kluger Mann, 49 Jahre alt. Als Anwalt hält er Woche für Woche Plädoyers in Gerichtssälen, behauptet sich gegen Manager und Aufsichtsräte – deshalb steht in diesem Text auch nicht sein echter Name.

Tom sagt, durch Brigitte sei er zu einem besseren Menschen geworden: souveräner, gelassener, heiterer. Wenn er von ihr spricht, klingt er immer noch leicht erstaunt, wie einer, der so oft enttäuscht wurde, dass er nicht mehr mit einem Happy End gerechnet hatte.

Darf nicht jeder Mensch lieben, wen er will? Auch wenn dieser „Wen“ ein „Was“ ist? Kein Mensch, sondern eine Puppe?

Quelle DIE ZEIT 2. Februar 2017 Seite 50 -51 Nur Du und ich Im Gerichtssaal hält Tom überzeugende Plädoyers – zu Hause teilt er sein Leben mit Brigitte, einer Puppe aus Silikon. Von Constantin van Lijnden und Christel Mitchell (Fotos)

Ich bin gespannt, ob es heute noch Diskussionen zu solchen Themen gibt. Sie sagen, es sei kein relevantes Thema? Dann haben Sie noch nie – dank ZEIT-Lektüre – eine Online-Community Doll Forum angeklickt. Eine Summierung von Autisten, die keine zweite Persönlichkeit aus Fleisch und Blut neben sich ertragen? Ich erinnere mich an die Kinderzeit: was habe ich eigentlich in einem Stofftier gesehen, wenn ich ihm in die Augen schaute. Hat es etwa nicht gelebt? – Ich schwöre: heute ist das anders!

ZITAT

Am Anfang war alles gut, richtig und notwendig. Ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten mussten aus dem Ghetto der Ausgrenzung befreit werden – so durch Abschaffung des Paragrafen 175, der Homosexualität unter Strafe stellte. Das war 1968. Es geht aber auch ohne staatlichen Eingriff. Wer würde heute noch „Nigger“ oder „Kanake“ sagen? („Fuck“ oder die deutsche Variante dazu sind fast okay.) Eine wachsende Emanzipationswelle rollte erst durch Amerika, dann durch Europa.

In diesem Sinne bezeichnet der oft ironische oder spöttisch benutzte PC-Begriff kein Phantom, sondern ein gesamtwestliches Phänomen, das von San Francisco bis Stockholm obsiegt. Seit den US-Bürgerrechts- und -Wahlrechtsgesetzen von 1964 und 1965 kamen allerlei Gleichstellungsinitiativen von Amerika bis Europa hinzu. Einst durch Herkunft definierte Staatsangehörigkeit wich der „Naturalisierung“: Jeder, der die Auflagen erfüllt, die nichts mit „Blut und Boden“ zu tun haben, kann Bürger werden, und das ist gut so. Diskriminierung verwandelte sich in affirmative action, in die verordnete Förderung von Frauen und Minderheiten. Dieser stete Trend zeigte, wie sehr die Kultur des Korrekten sich durchgesetzt hat.

Universitäts-Curricula, erst in Amerika, dann hier, schworen dem „Eurozentrismus“ ab und stürzten die DWEM, die „dead white Europeans males“ (Platon und so), vom Piedestal. Erfindung der Medien, Agitprop von rechts? Es ist eine veritable Kulturrevolution, die sich quer durch die westliche Welt zieht.

Vor knapp zehn Jahren blies ein kluger Beobachter, der Stanford-Professor Hans Ulrich Gunbrecht, dennoch Entwarnung: „Das Ende der Political Correctness zeichnet sich ab.“ Das Phantom habe sich nach dem langen Marsch durch die Institutionen gleichsam totgesiegt. Jetzt dürfe man sich wieder entspannen und das Beste aus dem „Kanon“ heraussuchen, den die Korrekten als Machtinstrument der DWEM in den Reißwolf werfen wollten.

Quelle DIE ZEIT 2. Februar 2017 Seite 17 Im Wunderland der Korrektheit Warum Political Correctness eine reale Gefahr für die freie Gesellschaft ist – und keinesfalls nur ein konstruierter Vorwurf der Rechten. Eine Entgegnung auf den Beitrag von Christian Staas vom 19. Januar. Von Josef Joffe.

Ich kann nicht den ganzen Artikel abschreiben (und den von Staas dazu), aber hervorzuheben ist doch die Anti-Trump-Volte gegen Ende, zumal ich Joffe bisher als USA-Freund um jeden Preis eingestuft hatte.

Martin Walser, das Aufblitzen des Ressentiments, war gestern. Heute tobt die Revolte gegen die Deutungshoheit der „liberalen Klasse“. Die schrecklichen Vereinfacher hantieren nur am Rande mit „Volk und Vaterland“. Welche Ironie! Die Trumpisten aller Nationen bedienen sich inzwischen ebenfalls aus dem Arsenal des Korrekten – wie sie es definieren. Sie haben die strategischen Vorteile des Opferstatus entdeckt. Sie sehen sich als Leidtragende der Globalisierung, der Einwanderung, des Multikulti-Kultes – und der Bevormundung durch die „Elite“, die ihnen das Maul verbieten und die Würde raube.

Wobei die Wähler von Trump und seinen europäischen Genossen noch das geringste Problem sind, fordern sie doch Macht auf dem verfassungsgemäßen Wege. Wer wissen will, wie die echten Außenseiter denken, begebe sich in die digitalen Kommentarteile der Medien – oder zu den Websites, die vor Fake-News und „alternativen Fakten“ strotzen. Wie bei Humpty Dumpty [Alice in Wonderland] und George Orwell geht es um die Macht über die Sprache, die Denken und Handeln bestimmt.

Fortsetzung?

(hier müsste noch ein Abschnitt über die Problematik der Toleranz und des Selbstbetruges folgen)