Alle 30 Jahre stoße ich von neuem auf ihn, mindestens. Und nach einer gewissen Zeit der Dauer-Lektüre hört es auch wieder auf. Vielleicht also jetzt zum letzten Mal. Ob 1986 oder später der erste Band der dreibändigen Ausgabe „Fluss ohne Ufer“ in meinen Händen lag (Verlag Hoffmann und Campe), rund 1000 Seiten, kann ich nicht sagen, noch einmal beginnend mit „Das Holzschiff“- vermutlich erst nach der Re-Lektüre des letzteren. Im Reger-CD-Booklet 1990 habe ich Jahnn-Sätze zitiert, die mich verfolgten. Auf der vorletzten Seite von Band I aber stand: „Varianten und Anmerkungen sowie das Nachwort am Ende von Band III“, – warum bin ich nie über den ersten Band hinausgeschritten? Mit Sicherheit würde ich heute auch einen Reger-Orgel-Text nicht mehr so ausklingen lassen.
Intercord 1990 Ende des Textes
Wie komme ich heute dazu? Ich habe in der ZEIT das Peymann-Interview gelesen. Und schon ist alles wieder da. Peymann spricht:
Ich bin ein Anachronist, eine lächerliche Figur, die sich jede Blöße gibt – das Einzige, was mich unangreifbar macht und mich bestätigt, ist die Liebe der Zuschauer. Spazieren Sie mal mit mir durch Stuttgart, durchs dunkle Bochum, durchs imperiale Wien – oder laufen Sie mit mir morgens im Wald von Köpenick – selbst die Wildschweine wollen ein Autogramm!
ZEIT: Bei Hans Henny Jahnn steht folgender Satz: „Es ist mir der köstlichste Gedanke, daß die Form unseres Leibes, seine Schlankheit oder süße Üppigkeit von dem Bewußtsein unserer Geschlechtlichkeit abhängt, von dem geheimen Werk, das wir an unseren Testikeln oder Ovarien abdienten oder wirkten.“ Daraus abgeleitet die kühne Frage: Haben Sie sich je gefragt, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie eine Frau wären? Ist Karriere eine Folge unseres Triebs? War alles nur Männerkampf?
Peymann: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich war mit Hans-Henny Jahnn befreundet. Ich war beeindruckt von seinem Roman Die Niederschrift des Gustav Anias Horn. Mein Sohn heißt Anias nach dieser Titelfigur. Zu Ihrer Frage: ich hatte nie das Bedürfnis, ein anderer zu sein oder mir vorzustellen, eine Frau zu sein. Da würde mir was fehlen. Mein Leben ohne die wundervollen Frauen, die ich traf, wäre nicht vorstellbar…
Quelle DIE ZEIT 6. Juli 2017 Seite 38 „Die Wildschweine wollen ein Autogramm“ Der 80-jährige Theatermacher Claus Peymann war sein Leben lang Intendant – in Stuttgart, Bochum, Wien und zuletzt am Berliner Ensemble. Jetzt ist er abgetreten. Ein Bilanzgespräch (mit Peter Kümmel, ZEIT).
Vor ein paar Jahren schrieb Ulrich Greiner – ebenfalls in der ZEIT – einen Artikel über seine Jahnn-Lektüre; ich fand das gut getroffen, weil es auch das Befremdliche betrifft:
Immer wieder geschieht es mir, dass ich, wenn ich Jahnn lange nicht gelesen habe, bei erneuter Lektüre stutze und verharre wie ein Pferd, das sich seines Reiters erst entsinnen muss. Und ich gebe zu, dass mich manche der Jahnnschen Obsessionen, etwa in seiner Erzählung Die Nacht aus Blei, abstoßen. Was auch für seine Theaterstücke gilt. Es sind verstörende Überschreitungen. Ich könnte nicht sagen, was ich daraus gelernt habe. Oft weiß man erst sehr viel später (manchmal gar nicht), was gewisse Erfahrungen, und eben auch Leseerfahrungen, bewirkt haben.
In einem Vortrag aus dem Jahr 1946 hat Jahnn die großen, die vergessenen Werke der Literatur mit einem Wal verglichen, der in flaches Wasser geraten ist. Jahnns Werk, so kommt es mir vor, gleicht ebenfalls einem gestrandeten Wal. Nun kann man sehen, wie monströs und zugleich wirklich groß es ist.
Quelle siehe HIER.
Laut Wikipedia hatte Greiner schon 1994 einen interessanten Artikel über Jahnn geschrieben, was mir damals entgangen ist, siehe HIER.
Als siebte „Todsünde“ Jahnns nennt Greiner die „Erschöpfung der Sprache“. Jahnns Sprache bleibe „hinter dem Erkenntnisanspruch derart zurück, daß die Unerreichbarkeit, die Unbegreiflichkeit des Angezielten bewußt wird.“
Es lohnt sich, diesen kritischen Ansatz – gerade den Vergleich mit Thomas Mann – gründlich nachzuvollziehen. Interessant, weil hier auch die (expressionistische) Sprache bezeichnet wird, die wohl mich letztlich ermüdet hat und mich auch gehindert hätte, Jahnn in einem Atemzug mit Musil oder gar mit Proust zu nennen. (Seine Behandlung der Musik und seine Orgelaktivitäten standen auf einem anderen Blatt.) Von Robert Musil allerdings kannte ich noch nicht mehr als den schmalen Erzählungsband „Drei Frauen“. Und damit hätte ich das Stichwort für eine lange Geschichte, die letztlich auch dazu führte, den Studienort zu wechseln. Wien war mein Traumziel, aber zu meinem Glück war Köln realistischer, führte vor allem – trotz indischer Perspektiven – zu einer besseren Erdung.
(Fortsetzung folgt vielleicht)