Eine Entdeckung der Süddeutschen Zeitung
Vielleicht keine wirkliche Entdeckung, oft ist es die Tatsache, dass es gelingt, die Bedeutung einer Sache ins Bewusstsein zu heben und sogar verschiedenste Saiten in Schwingung zu versetzen. In diesem Fall müsste das Lob dem Autor Lothar Müller gelten, der den Artikel überschrieb „Herrschaft der Zeigefinger“ und darunter: „Die neuesten Bedienungstechnologien haben einen sehr alten Fluchtpunkt: die Geste.“ Er wiederum könnte das Lob an die Firma Volkswagen weitergeben (wenn es denn sein muss), die „den Schritt vom physischen Minimalkontakt zur berührungslosen Kommunikation mit den Dingen angepeilt [hat], die Ablösung der Handbewegung von dem Gerät, an das sie adressiert ist.“ Bei Volkswagen geht es mit Blick auf die „mittelfristige Zukunft“ um ein Golf-Modell, „in dessen Cockpit [!!] der Touchscreen einen Teil seiner Aufgaben an die reine Geste abgibt: das Öffnen und Schließen des Schiebedachs, die Verstellung der Sitze.“
Das Wort dafür heißt: „Gestensteuerung“ – aber was den Leser elektrisieren könnte, ist die „reine Geste“. Könnte es nicht aus einem Dinggedicht von Rilke stammen? Aber lesen Sie doch selbst, neuerdings ist dies möglich, auch in der „Süddeutschen“, leider noch nicht durch bloßen Blickkontakt auf das Wörtchen hier, ich entscheide mich an dieser Stelle für das schwierige Wort Klickkontakt, kein Doppelklick, aber immer noch der rechte Zeigefinger auf der linken Maustaste, jedenfalls, sofern Sie Rechtshänder sind. [Pause. Bitte gleich den angeklickten Artikel gelesen haben!]
Ich erinnerte mich an eine Stelle bei Adorno, die mir sinnloserweise kritisch in Erinnerung blieb: er beklagte die damals neue Verbreitung des Türknaufs anstelle der Türklinke, die es bis dahin erlaubt hatte, eine Tür behutsam zu öffnen und zu schließen. Letztlich war das nicht besonders gravierend, wenn man z.B. heute das manische Wischen auf dem Smartphone-Display erlebt und dies – sagen wir – mit einer Flageolet-Tonreihe vergleicht, die sich beim kunstvollen (!) Gleiten über eine Geigensaite einstellt, – ganz zu schweigen von einer ähnlichen aber künstlichen Klingeltonreihe, die man der Funktion des Smartphonewischens zweifellos anheften könnte. (Kinder, verachtet mir das manuell erzielte Flageolet nicht! Das eine unterscheidet sich vom andern wie Tag und Nacht!!!)
Sehr wichtig war mir also auch Lothar Müllers Erinnerung an das Werk von Siegfried Giedion, das Adorno gewiss schon aus seiner Zeit in Amerika bekannt war („Mechanization Takes Command“ 1948), ich muss nur die erste Seite des Inhaltsverzeichnisses rekapitulieren, – unglaublich, was für ein Ansatz!
Der Verlag möge mir diese stumme Geste einer fotomechanischen Wiedergabe verzeihen. Sie wird zu unzähligen Käufen des haptischen Buchprodukts führen, mehr als zum Beispiel alle uns winkenden Fingerzeige im zukünftigen VW-Golf.
ISBN 5-610-00729-X Siegfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung – Ein Beitrag zur anony,men Geschichte. Mit einem Nachwort von Stanislaw von Moos. Herausgegeben von Henning Ritter. Athenäum Sonderausgabe Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1982 / 1987
Im SZ-Artikel heißt es:
Die Überführung des ehemaligen Knopfdrucks in die Geste, die sowohl den Knopf wie das Drücken ersetzt, ist dafür charakteristisch. Das Drücken von Knöpfen, das Ziehen von Hebeln, das Umlegen von Schaltern waren Bewegungen, die im Zuge der ersten industriellen Revolution zu Standardbewegungen sowohl im modernen Produktionsprozess wie in den modernen Haushalten wurden.
Es waren Handbewegungen, die aus der Mechanisierung und Industrialisierung der alten Handarbeit hervorgingen.
Könnte ich also verkürzend sagen: Aus der mit dem Gebrauch des Werkzeuges verbundenen Handbewegung (der Geste) wurde ein Knopfdruck (eine auf das Minimum reduzierte Geste), aus dem Knopfdruck eine symbolische Geste ohne materiellen Kontakt?
Ältere Jahrgänge mögen sich noch an den Kraftaufwand erinnern, der das journalistische Einhämmern auf Typenhebel-Schreibmaschinen zu einer für Film und Comic so attraktiven Tätigkeit machten. Die Reduzierung des Kraftaufwandes begann schon in der mechanischen Ära, zum Beispiel durch die elektrische Schreibmaschine. Diese Reduzierung des mechanischen Elementes setzte sich über die Fernbedienung und ihre Geschwister als Grundtendenz bis in die Touchscreen-Technologie des digitalen Zeitalters hinein fort. Die Fingerkuppe wurde dabei zum sensitiven Zentralorgan der Hand, die immer schon das Zentralorgan im stummen Dialog mit den Dingen gewesen war.
Mit der von ihrem dinglichen Adressaten gelösten reinen Geste rückt ein Kommunikationsmedium ins Zentrum, das seine Energie aus dem menschlichen Körper bezieht.
Da ist sie also: die „reine Geste“. Allerdings in dieser merkwürdigen Verbindung zu einem „Zentrum, das seine Energie aus dem menschlichen Körper bezieht.“ Es ist verlockend, dies am Klavier zu bedenken, das bereits einen hohen Grad an Mechanisierung darstellt. Zudem die heutigen Musikerfahrungen mit Kopfhörern oder Lautsprechern, ergänzt durch die heute ermöglichte oder sogar geforderte Loslösung vom materiellen Ballast traditioneller Instrumente, die noch mit Fingern und Händen bearbeitet werden mussten. Dank der „digitalen Revolution der Musik“, die Harry Lehmann als eine neue Musikphilosophie beschrieb (Mainz 2012). Nahe liegt auch die Erinnerung an das Primat des stummen Lesens, das an die Stelle des halblauten Vortrags oder der Übergangsform des Mitbewegens der Lippen beim Lesen. Aber diese Praxis taugt nicht zur Verallgemeinerung, keinesfalls für eine auf Musikinterpretation bezogene Analogie. So wenig ein Schauspieler sich seinen Text durch stummes Lesen aneignen wird, so wenig findet die ideale Aufführung eines musikalischen Werkes – wie gerade mancher Laie glaubt – in der Imagination des Künstlers statt. Sie ergibt sich in der Auseinandersetzung mit der Materie. Wodurch die Bedeutung der Imagination durchaus nicht entwertet ist.
Renate Wieland und Jürgen Uhde haben gemeinsam ein grundlegendes Buch zum Thema geschaffen (Quellenangabe s.u.), Untertitel: „Über den Interpreten und den Körper als Instrument der Musik“, darin ein großes, wunderbares Kapitel über „Die gestische Spielbewegung“.
ZITAT
Erfahrbar werden musikalische Gesten in der freien dirigentischen Bewegung, in der Spielbewegung und sublimiert in der geistigen Mimesis reiner Imagination. Gleich in welcher Ebene, immer sind es Experimente im Raum. Affekte waren ursprünglich ja Handlungen, bezogen auf ein Objekt draußen, im Prozess der Verinnerlichung haben sie sich von ihrem Gegenstand gelöst, aber immer noch sind sie bestimmt von den Koordinaten des Raums. Die Sprache erinnert uns allerorts an den Zusammenhang von Affekt und Bewegung und daran, wie seine gesten sich im Raum verhalten. Sie spricht von Hochmut, von Erhebung und Neigung, von Weit- und Engherzigkeit, von rücksichtsvoll und vorlaut etc. Es gibt mithin etwas wie gestische Koordinaten; sie können helfen zu fragen, wie der gestische Impuls aus dem Inneren sich in den Raum entwerfen, wie er in ihm sich ausbreiten will, welche Richtung dominiert: Ist seine Energie eher vertikal oder horizontal aktiv? Strebt sie mehr nach vorne oder nach hinten? Hinauf oder hinab? Nach rechts oder links? Wirken die Kräfte mehr zentrisch oder exzentrisch? Zeigt die Geste eher ein „In sich hinein“, wie es bei Schumann einmal heißt, oder eher ein „Aus sich heraus“? Welche Amplitude wählt sich der Ausdruck? Wie also wölbt sich der gestische Bogen, in flachem oder in hohem Schwung? Lebt er sich in allen Dimensionen des Raumes aus, in welcher Proportion und mit welcher Intensität? (Seite 169)
Das Buch ist unauslotbar. Nur zwei Beispiele seien noch herausgestellt, Beethovens Bagatelle op. 126,2 und Bartóks „Mikrokosmos“ Band I.
Modelle des Kontrastes von extremer vertikaler und horizontaler Gestik finden sich etwa in Beethovens Bagatelle op. 126,2. Aggressiv auffahrende Initialgesten werden von flachen, beschwichtigenden Gesten beantwortet, wobei sich die Extreme im Laufe des Stücks zum Äußersten polarisieren (…). So, fort und fort fragend, wird eine Geste zuletzt plastisch. Aber sie gelingt doch nur, sofern sie eine Einheit bildet, aus einem inneren Zentralimpuls entspringt. Gesten sind das Allerempfindlichste, wo ihre Einheit gestört ist, verfällt alsbald ihr Ausdruck. (S.169)
Es liegt auf der Hand, nur der Arbeiter am Klavier nimmt es kaum mehr wahr: In den grundlegenden pianistischen Spielbewegungen sind schon Gesten angelegt. Die Parallelführung der Hände, die kontrahierende und expandierende Gegenbewegung, das alternierende Ablösen von rechter und linker Hand, das Kreuzen, dann die Anschlagsarten, allesamt sind sie nicht nur technische, sondern elementare gestische Bewegungen. Bartók hat im Mikrokosmos gezeigt, wie sich Musik aus den spieltechnischen Gesten entwickeln kann. Die Quelle seiner Inspiration liegt im Elementaren, das heißt, sie kommt aus der schrittweisen Entdeckung der pianistischen Bewegung des Körperinstrumentes auf der einen und dem elementaren Hören auf der anderen Seite. (S.187)
(Fortsetzung folgt)
Quelle Renate Wieland / Jürgen Uhde: Forschendes Üben. Wege instrumentalen Lernens. Über den Interpreten und den Körper als Instrument der Musik. Bärenreiter Verlag Kassel Basel London New York Prag 2002 ISBN 3-7618-1493-3