Denken und Zweifeln

Von der wissenschaftlichen Methode (Langeweile)

Als ich vor langer Zeit anfing (versuchte anzufangen), systematischer zu denken, – was von einer Unzufriedenheit mit meiner bisherigen Denkweise ausging – glaubte ich, bei einer Tabula rasa ansetzen zu können. Vorbild: Descartes. Eine ungeprüfte Voraussetzung (siehe das soeben verwendete Wort „glaubte“) war, dass ich dazu dank gründlicher Konzentration auch in der Lage sein werde. Was aber Konzentration sei, schien mir klar. Ebenso, dass ein Buch dieses Titels von Swami Sivananda dasselbe meinte wie ich, obwohl die Lektüre von fortwährenden Zweifeln begleitet war. Zumal diese Lektüre parallel zu „Drei Gründer des Philosophierens: plato – augustinus – kant“ von Karl Jaspers lief. Ich spürte den Widerspruch zwischen diesen Welten, ohne zu wissen, wie ich methodisch auf sicheren Boden kommen sollte. Ein paar hilfreiche Worte und Wortkombinationen fehlten damals noch: introspektive Erkenntnis, introspektiver Bericht, Selbstzuschreibung oder „Mechanismen, die bei der introspektiven Erkenntnis involviert sind“, „Verzerrungen oder gar Fehler der Introspektion“, die generell schwer zu erkennen sind, „Schwächen unseres Wahrnehmungssystems“, „verbale Berichte“, die für die Erfassung einer kompletten Erfahrung notwendig sein sollen. All diese Begrifflichkeiten tauchen im folgenden Text auf. Besonders erhellend wirkte auf mich merkwürdigerweise das Wort „Flaschenhals“.

ZITAT

Es gibt also eine Reihe gut nachvollziehbarer Gründe dafür, dass die introspektive Erkenntnis eigener mentaler Zustände unter Einschränkungen steht, die für die Erfahrung dieser Zustände nicht gelten. Ihren Ursprung haben diese Einschränkungen in den Begrenzungen des Arbeitsgedächtnisses, das hier den entscheidenden Flaschenhals für den introspektiven Bericht, für die Selbstzuschreibung und für den Transfer ins Langzeitgedächtnis bildet. Vor allem deshalb fällt es den Versuchspersonen so schwer, ihre komplette Erfahrung zu erkennen und dann in verbalen Berichten zu erfassen. Hieraus ergibt sich im Übrigen nicht nur ein weiterer Beleg für die bereits mehrfach begründete Annahme, dass die Introspektion alles andere als direkt ist, vielmehr lassen sie auch einige der Mechanismen erkennen, die bei der introspektiven Erkenntnis involviert sind.

Im Alltag fallen die skizzierten Unzulänglichkeiten nicht auf: Zum einen sind Verzerrungen oder gar Fehler der Introspektion generell schwer zu erkennen. Zum zweiten kommen diese Abweichungen im Alltag vermutlich auch nicht so häufig vor – immerhin müssen dazu in den psychologischen Experimenten recht artifizielle Bedingungen geschaffen werden, die im Alltag nicht so häufig anzutreffen sein dürften. Das mag auch damit zusammenhängen, dass wir Situationen, in denen es auf fehlerfreie Wahrnehmung ankommt, so auszugestalten versuchen, dass Fehler minimiert werden. Ein Beispiel hierfür ist die Gestaltung von Schildern und Signalen im Verkehr, die den Schwächen unseres Wahnehmungssystems Rechnung trägt.

Doch unter bestimmten Bedingungen werden solche Fehler dann doch sichtbar, z.B. bei sogenannten Anschlussfehlern im Film. Solche Fehler entstehen, wenn sich mehr oder minder große Details einer Szene vor und nach einem Schnitt unterscheiden, z.B. wenn sich die Kleidung eines Schauspielers von einer Einstellung zur nächsten ändert oder in der einen Einstellung eine Person auftaucht, die in der anderen fehlt, obwohl es sich um dieselbe Szene handelt. Dabei trägt unsere Schwäche bei der Entdeckung solcher Veränderungen einerseits dazu bei, dass derartige Fehler überhaupt erst entstehen, obwohl es in Filmteams eine eigene Person gibt (Script/Continuity), die für die Vermeidung solcher Anschlussfehler verantwortlich ist. Andererseits profitieren Filme in einer gewissen Weise von unserer Veränderungsblindheit, denn den meisten Zuschauern fallen solche Fehler überhaupt nicht auf.

Quelle Michael Pauen: Die Natur des Geistes / S.Fischer Wissenschaft Frankfurt am Main 2016 ISBN 978-3-10-002408-4 (Seite 252) Siehe auch HIER.

Als psychologisches Problem könnte man betrachten, dass bei dieser Art Introspektion nichts zu erwarten ist, was in feierlicher Form als Erleuchtung zu bezeichnen wäre. Immerhin: als eine gewisse Aufklärung könnte man es durchaus bezeichnen. Und mich macht es fast glücklich, dass man mit dieser geduldigen Arbeit weiter kommt als mit kühnen philosophischen Entwürfen. Eine Begeisterung, die durch eine längere Phase der Langeweile vorbereitet wird, folgt zwar nicht zwingend, ist aber nicht ausgeschlossen.