Archiv der Kategorie: Arabische Welt

Licht aus Oberägypten

Was ist aus Scheich Hans geworden?

Wir kennen uns seit Mitte der 50er Jahre, er wohnte wie ich in Bielefeld und ebenfalls unweit der Pauluskirche; er war in der Klasse meines älteren Bruders und fiel dort durch größte Belesenheit auf. Wir kamen im Landschulheim auf Langeoog ins Dauergespräch, wo in den Sommerferien auch Schüler aus verschiedenen Altersgruppen aufeinandertrafen. Wir lasen Hermann Hesse und Gottfried Benn, er studierte Romanistik in Paris und Freiburg (bei Hugo Friedrich), fasste Fuß in der Schweiz, wo er später jahrzehntelang als Gymnasiallehrer arbeitete, lebte auf dem Land in der Toscana, und später – halbjährlich wechselnd – in Oberägypten, um sich mit der arabischen Sprache eine neue Welt zu erschließen.

Also schrieb er am 10. Dezember 2020

„… vorgestern bin ich von einer viertägigen Reise nach Aswân (Assuan) zurück nach Luxor gekommen, und weil ich mit der Bahn gefahren bin, liess ich den Laptop daheim. Aber ich hatte das Handy mit, und so kann ich Dir anstelle eines langen Berichts einfach eine Serie von Fotos schicken, die vielleicht unmittelbar zeigen, was diese Region und die Menschen so faszinierend macht.“

„Der Aufenthalt in Aswân hat mir sehr gut getan. Diese Stadt ist viel schöner als Luxor, sie heißt Al-Nuba und ist noch sonniger und milder, weil sie 200 km weiter südlich liegt und noch näher am Rand der Wüste. Ich habe bei nubischen Freunden gewohnt, in einem Häuschen auf Klippen und Sand, ihre überschäumende Lebensfreude erlebt und ihre würzigen kulinarischen Köstlichkeiten genossen. Weil dieses Haus recht weit von der Stadt entfernt liegt (dort wo man die Nubier bei der Überflutung ihrer Dörfer angesiedelt hat. Diese liegen seit dem Bau des Hochdamms ja tief unten im Schlamm des Nassersees), fährt man mit dem Boot auf dem Nil ins Zentrum hinein, etwa eine Stunde lang, zwischen Felsen und Inseln hindurch, und freut sich an einem traumhaft schönen Panorama.“

Scheich Hans im Gespräch

 

   

In der Tat, die Bilder wecken zumindest das Verlangen, mehr über das Land zu erfahren, hier ist der Wikipedia-Artikel. (Alle Fotos oben: Hans Mauritz)

Foto-Quelle Wikipedia hier

Den Namen „al-Nuba“ hatte ich in den obigen Text eingefügt und trage gern eine Korrektur nach:

P.S. Ein kleines Missverständnis, das aber nicht weiter schlimm ist: al-Nuba ist eigentlich nicht der Name der Stadt Aswân, sondern des Siedlungsgebietes der Nubier südlich der Stadt, dort wo heute der Nassersee liegt, und weiter bis in den Sudan hinein. Ich habe al-Nuba auch benutzt für die Inseln und Hänge am Nil, auf denen man die Nubier angesiedelt hat, und die liegen tatsächlich in felsigen und sandigen Gebieten, die zur Stadt Aswân gehören. Einige Orte sind zu Anziehungspunkten der Touristen geworden, andere sind irgendwie Elendsquartiere, aber sauber, bunt bemalt und von nubischer Fröhlichkeit beseelt. Wer weiss, vielleicht geschieht ein Wunder: Und Ihr könnt nicht widerstehen und reist eines schönen Tages mit mir nach al-Nuba !?! (HM)

Darüberhinaus er erfahre ich, dass Dr. Hans Mauritz wieder einmal ein interessantes Buch übersetzt und durch einen Essay ergänzt hat, – aufschlussreiche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens, weitgehend unbekannt im Westen, auch in der arabischen Welt mental ausgeblendet oder in den Untergrund verbannt. Im Abseits. Ich warte mit Spannung.

Es ist schon da:

www.kubri.ch

(Weiteres folgt)

Melodie & Rhythmus

Iran – Südindien

(Vorweg: lassen Sie sich nicht irreführen durch die Mimik des Protagonisten auf den Videos weiter unten, es handelt sich nicht um einen Komödianten, sondern um einen kenntnisreichen Rhythmiker…)

Um einzelne Parameter aus dem Gesamtblock der musikalischen Möglichkeiten herauszuarbeiten – was können wir da tun? Bescheiden bleiben, Pausen einlegen, sich nicht überfordern? Nein, man muss anfangen, an jedem Tag, ab Neujahr und bis Silvester – nicht zu bescheiden, vor allem nicht kleinmütig, aufs Ganze gehen, ziemlich hoch pokern, ja, nach den Sternen greifen, ich sage: alles was ich will ist alles! Ich will teilhaben an allem, was ich greifen (begreifen) kann, ein Stück Holz bearbeiten, einen Fußball auf der Zehenspitze jonglieren, und alles amalgamieren, was Menschen kreativ hervorbringen. Und jeden beobachten, der etwas Unbegreifbares lernt. Ich sage das, aber es gilt für alle.

In etwa dies. Und morgen etwas anderes. Ich erinnere mich zum Beispiel, wie es mich enthusiasmiert hat, als ich die folgende Sammlung entdeckte, das war 1996. Konnte ich ihr als Mensch genügen? Nein, aber immer wieder werde ich darauf zurückkommen, werde mich begeistern für alles, was es in der Musik gibt und was mir etwas gibt. Bis an mein Lebensende, sage ich ohne Übertreibung. Oder soll ich etwa sagen: nein, jetzt ist zu spät? Oder: (noch viel schlimmer): kenn ich schon…

französisch

englisch

Kürzel unter den Artikeln: J.D.= Jean During, J.L.= Jean Lambert

Habe ich an dieser Stelle (Anmerkg. Libanon) nicht damals doch gesagt: kenn ich schon? Gottseidank! Mein gutes Jahr 1969! (Es begann eigentlich 1967.) Das hätte also sein können, – der Name, der da unten in roter Schrift steht, findet nähere Erklärung in dem Blog-Artikel „Arabisches Melisma“ hier.

Ginge es um iranische Musik, hätte ich sicher den Ausdruck „Tahrir“ darübergesetzt, der lexikalisch immer nach Kairo führt, für mich aber vor allem den unvergesslichen iranischen (fast gejodelten) Triller bezeichnet, der also gesungen wird. Ich schreibe es hierher, um mich daran zu erinnern (und an Ali Attar, der vor vielen Jahren eine WDR-Sendung darüber gemacht hat). Merkwürdig, dass diese sehr auffällige und ausdrucksvolle Technik oft sehr beiläufig behandelt wird, wie hier bei dem besten westlichen Kenner iranischer Musik Jean During:

Wichtig: die Ornamentation gehört zum wesentlichen Bestandteil der traditionellen iranischen Kunstmusik. Man kann sie nicht auf punktuell definierte Melodien reduzieren, selbst wenn jeder einzelne Ton manuell angerissen wird, wie bei den Langhalslauten TAR (zwei Klangkörper) und SETAR (ein Klangkörper).

Quelle Jean During: La Musique Iranienne. Tradition et Evolution / ISBN 2 86538-087-4  Institut Français d’Iranologie de Téhéran Bibliothèque Iranienne No.29 [den Autor kennenlernen? Radiosendung in frz. Sprache hier]

Dank für die Links an Manfred Bartmann!

Noch nicht alles verstanden? Vielleicht zuviel verpasst? Also: weiter zurückgehen!

Zur Entspannung:

Sinnenleben oder: Die Entdeckung des Spiegels

Wie wieder eins zum andern kam: das Buch, das Bild, der Film, die Musik, der Belting …

Aber wieso auch die Musik?

Noch einmal: die Musik? Wir werden es sehen und hören (Video extern hier) :

Und die Entdeckung des Spiegels? Siehe im folgenden Film ab 38:12 oder ab 47:05 „… durch Beobachtungen mit einer Spiegellinse … wie sollte das ohne optische Hilfsmittel gehen?“

Alhasen im Film schon ab 43:01: „im Bereich der Optik beschäftigte sich Jan van Eyck wissenschaftlich und technisch mit den Theorien Al-Hasins und allgemein mit den arabischen Lehren der Optik, die im 11. Jahrhundert in Kairo entstanden waren; im 15. Jahrhundert waren diese Texte vermutlich schon so weit verbreitet, dass Jan van Eyck sie kannte. Zugang zu ihnen hatte er möglicherweise in seiner Heimat Flandern oder auch auf seinen Reisen nach England, Portugal und Spanien erhalten.“ Das folgende Bild stammt aus dem Buch von Hans Belting:

 Wer ist Alhazen? Siehe Wikipedia HIER

DER FILM

Der Genter Altar

Dokumentation Frankreich / Belgien 2019 | arteMEDIATHEK

Nach achtjähriger Restaurierung hat die „Anbetung des Lammes“, ein Meisterwerk der Malereigeschichte, seinen ursprünglichen Glanz wiedergewonnen. Das 1432 eingeweihte Monumentalgemälde der Gebrüder Hubert und Jan van Eyck fesselt den Betrachter bis heute durch seinen erschütternden Realismus. Mit einer spektakulären Inszenierung, ergänzt durch Beiträge renommierter Kunsthistoriker und angesehener Maler wie David Hockney, deckt der Film die Hintergründe dieses revolutionären Werkes auf, das den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit markiert.

 Abrufbar Hier

Versuche folgendes zu verstehen:

ZITAT Coccia

Ein Bild kann seine Ausmaße vergrößern oder verkleinern, es wird sie aber niemals in Einzelteile aufteilen, zerteilen, scheiden lassen. Das Sinnliche ist das Unteilbare, ein Intensivum, das sich rein akzidentell an die Extension koppelt. Eben darum, weil die Bilder die Fähigkeit besitzen, sich nicht nach dem Modus der Extension niederzulassen, sind sie überall: in der Luft, auf dem Wasser, auf Glas, auf Holz. Sie leben an der Oberfläche der Körper, ohne sich mit ihnen zu vermischen. Eine Melodie verharrt in der Luft, deckt sich in gewisser Hinsicht mit einer ihrer Eigenschaften, mit einer ihrer Vibrationen, aber darauf reduzieren lässt sie sich nicht. Die Existenz des Sinnlichen wird nicht durch das Vermögen einer spezifischen Materie determiniert, sondern durch das Vermögen der Form, außerhalb ihres natürlichen Habitats existieren zu können.

Diese Eigentümlichkeit verleiht dem Bild-sein einen weiteren paradoxen Wesenszug: Auch wenn ein Bild ut in puncto in seinem Substrat verharrt (also auf nichtextensive Weise), das heißt im Spiegel existiert, als würde es nur einen einzigen Punkt darin einnehmen, behält es die Form oder Erscheinung der Ausmaße eines natürlichen Körpers bei. Es ist weder lang noch breit noch tief, aber es behält die Erscheinung dieser Ausmaße bei, es ist deren ratio cognoscendi  oder Erkenntnisgrund. Auch deswegen kann ein Spiegel die Gestalt von Dingen in sich fassen, die viel größer sind als er selbst.

Das Leben der Spiegelbilder, argumentieren schließlich die Scholastiker, determiniert eine vollkommen substanzlose Existenzform: Der Spiegel, der Bilder aufnimmt, verändert weder seine Identität noch seine Natur noch seine Substanz. Er verwandelt sich nicht. Das Sein des Spiegels bleibt unveränderlich, stabil, identisch. Die im Spiegel reflektierte Form hingegen ist immer noch etwas. Aber welchen Seinsmodus hat sie? (…)

Quelle Emanuele Coccia: Sinnenleben Eine Philosophie Edition Akzente Hanser München 2020 (Seite 36f)  ISBN 978-3-446-26572-1

Zum Spiegel-Motiv siehe auch hier !

Bartóks Blaubart, indisches Grabmal, Polyfusion

Vormerken!

ZITAT arte

„Das Grabmal einer großen Liebe“ beschreibt den romantischen Werdegang einer Prinzessin in einem sagenumwobenen Land: Indien. Die große Liebesgeschichte spielt dabei fast ausschließlich hinter den Toren eines riesigen Fürstenpalasts. Eine beeindruckende Kulisse, die der Regisseur bewusst ins Blickfeld rückt.

 Trailer HIER  Film s.a. ganz unten

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Bartóks Oper https://de.wikipedia.org/wiki/Herzog_Blaubarts_Burg hier

https://operlive.de/judith/

Hier nach dem „Konzert für Orchester“ ab 39:57

bis 26. März 2020 12:00 h !!! (Zu spät, ich habe die Frist versäumt)

ERSATZ (auf deutsch): https://www.youtube.com/watch?v=FSFFR9lSVJc HIER

über diese Film-Aufnahme hier !!!

Unbedingt kennenlernen:

https://www.ensembleresonanz.com/resonanzen/polyfusion/ HIER

Nachtrag Etwas Neues bei Resonanz (8. April 2020 Deryas Songbook) hier

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Abrufbar noch bis Ende Juni 2020 HIER

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Das Mädchen Wajdah

Ebenfalls noch abrufbar bis Ende Juni 2020 HIER

ARTE-Text zum Inhalt:

Die zehnjährige Wadjda (Waad Mohammed) träumt von einem eigenen Fahrrad. Doch in Saudi-Arabien gilt das Fahrradfahren für Frauen als unschicklich und so hofft sie vergebens auf die Unterstützung ihrer Mutter. Doch Wadjda, die Jeans und Turnschuhe trägt, gibt ihren Traum nicht so leicht auf …  – Ein berührender Film (2012) der ersten saudi-arabischen Regisseurin Haifaa Al Mansour

Die zehnjährige Wadjda lebt in einem Vorort von Riad, der Hauptstadt Saudi-Arabiens. Obwohl sie in einem konservativen Umfeld aufwächst, trägt das rebellische und selbstbewusste Mädchen Jeans und Turnschuhe, hört Rockmusik und träumt nur von einer Sache: das grüne Fahrrad zu besitzen, das in einem Spielzeugladen zum Verkauf angeboten wird und an dem sie tagtäglich vorbeiläuft. Denn mit dem Fahrrad könnte sie es endlich mit ihrem Freund Abdullah aufnehmen und ihm davonflitzen. Im wahabitischen Königreich ist das Fahrradfahren allerdings Männern vorbehalten; auf die Unterstützung ihrer Mutter hofft sie vergebens. Doch so einfach gibt Wadjda ihren Traum nicht auf! Sie setzt alles daran, die Kaufsumme aufzutreiben, und versucht sich in verbotenen Geschäften auf dem Schulhof. Rasch fliegt sie auf und es droht ein Schulverweis. So bleibt ihr nur noch eine Möglichkeit: ein von der Schule organisierter Koran-Rezitationswettbewerb mit einem ausgesetzten Preisgeld. Wadjda versucht mit viel Eifer und Erfindungsgeist, vermeintlich fromm zu werden. Wird sie es schaffen, den Wettbewerb zu gewinnen? Während Wadjda alles unternimmt, um das sehnlich erwünschte Fahrrad zu bekommen, hat ihre Mutter ganz andere Probleme: Sie versucht zu verhindern, dass sich ihr Mann eine zweite Frau nimmt …

Wenn Sie unschlüssig sind, beginnen Sie – um der Musik willen – beim Wettbewerb im Koransingen, am besten schon bei der Vorübung (während des Bügelns) hier → 1:07:20 und versuchen Sie, ab 1:20:20 auszusteigen. (Es geht nicht.)

In diesem Abschnitt wird die Sure 2 „Die Kuh“ eine Rolle spielen, hier sind zwei Textwiedergaben aus einer Koranausgabe, die ich mir angeschafft habe, als mir die Studienausgabe von Rudi Paret zu abweisend erschien. Also nur der Anfang – es ist die längste Sure des Korans – und die Stelle, nach der sie „Die Kuh“  benannt ist:

Seite 22  Seite 27

Zitiert aus „Der Koran“ Nach der Übertragung von Ludwig Ullmann neu bearbeitet und erläutert von L.W.-Winter / Wilhelm Goldmann Verlag München 1959 ISBN 3-442-0521-3

Hommage an die großen Diven des Orients

Ein ARTE-Konzert sondergleichen – noch abrufbar bis 29.03.2020

 bitte anklicken und auch die kleinen Bilder rechts zur Kenntnis nehmen. Es bleibt interessant ! Zur Originalsendung jedoch nur über den folgenden Link:

HIER

https://www.arte.tv/de/videos/081568-000-A/hommage-an-die-grossen-diven-des-orients/

Ich habe es zum zweiten Mal gehört und gesehen / siehe die Reaktion damals hier im Blog. Jetzt haben wir die Sendung aufgezeichnet, um sie auch nach dem 29. März nicht mehr zu verlieren, und betrachten sie immer aufs neue: Arabische Musik als große Kunst. Man braucht die reale Länge, den Ernst der Aufführung, auch das Erlebnis der allmählichen Abflachung, es gibt keinen unüberwindlichen Graben zwischen hohem Ernst und spielerischer Leichtigkeit, bis hin zu den Dabke-Rhythmen und den Bändern der Terzparallelen am Schluss.

Um an die damaligen Analysen anzuknüpfen und zugleich den fachlichen Anspruch zu dämpfen, würde ich heute sagen: es genügt, mit großer Ruhe dem Verlauf der Melodie-Entwicklung zu folgen und zu versuchen die tonalen Bereiche liebzugewinnen, keinen (!) Ton für unsauber zu halten, es handelt sich gerade um die wunderbarsten Eigenarten des arabischen Tonsystems. Im dritten Teil des Abends werden nur die Skalen verwendet, die „zufällig“ der Dur- oder Mollskala der westlichen Musik entsprechen, auch weiß man natürlich wie eine gefällige, fassliche Melodik dem westlichen Verständnis entgegenkommt, und es ist kein Zufall, dass es dann ein wenig nach Balkan klingt (die „mazedonischen“ Terzen). In den großen Gesängen des Abends , z.B. „Al-Atlal“ nach Oum Kalthoum, genügt es empathisch mitzuerleben, wie der Schwerpunkt sich allmählich verlagert, vom Grundtonbereich aufwärts, welche Tonfiguren bevorzugt werden, wie die Ornamente wirken. Als würden mit ihrer Hilfe erst die Farben der Töne, ihre Charakteristik erzeugt. Manches ist nicht anders als bei Beethoven: bestimmte Entwicklungen, obwohl durch kompositorische Skizze und etwa durch Oum Kalthoums kongeniale Interpretation für immer minutiös festgelegt, erscheinen diese Tongebilde so frei und großartig, als würden sie erst heute, wie am ersten Tag der Schöpfung, erfunden und in den ahnungslosen akustischen Raum gezeichnet. Ahnungslos? Viele Menschen im Publikum könnten mitsingen, zumindest die Orchester-Refrains, sehr eigenartige Melodien des Komponisten Riad Al Sunbati. ( JR)

Pressetext:

91 Min. Länge / Nächste Ausstrahlung am Dienstag, 24. März um 05:00 (!)

Fairuz, Umm Kulthum, Leila Murad, Warda al Djazairan, Asmahan, Mayada Alhenawy – die Namen dieser Diven lassen die Herzen in der arabischen Welt höherschlagen. Im Westen sind diese in ihrer Heimat durchweg berühmten Künstlerinnen dagegen kaum bekannt. Drei junge arabische Sängerinnen interpretieren die Lieder ihrer großen Vorbilder in einem außergewöhnlichen Konzert.

Göttinen, Diven, Idole, Mythen – Seit den 1940er Jahren hat die arabische Welt zahlreiche Frauenstimmen hervorgebracht, die die Herzen von Männern, Frauen und Kindern haben höherschlagen lassen. Ob Umm Kulthum oder Leila Mourad aus Ägypten, Warda al Jazairia aus Algerien, Fairuz aus dem Libanon, Mayada El Hennaway aus Syrien oder die syrisch-ägyptische Diva Asmahan: Die Grandes Dames arabischer Populärmusik haben ganze Kulturkreise fasziniert. Zugleich verkörperten sie die Aufbruchsstimmung eines sich modernisierenden Volkes. Doch bis heute sind die orientalischen Diven und ihre Stücke in Europa kaum bekannt. Um dem entgegenzuwirken, veranstaltete die Pariser Philharmonie im Zuge der Ausstellung „Al Musiqa“ des Musée de la musique, die vom 6. April bis 19. August 2018 stattfand, zwei Wochenenden, die ganz im Zeichen arabischer Musik standen. Dazu lud sie am 12. Mai 2018 drei Sängerinnen dazu ein, im großen Saal die schönsten Stücke der arabischen Legenden neu zu interpretieren: Die libanesische Sängerin und Musikwissenschaftlerin Abeer Nehme, die im religiösen Register ebenso bewandert ist wie im populären, Dalal Abu Amneh aus Palästina, die seit ihrem sechzehnten Lebensjahr von ihren Musikerkollegen gefeiert wird, und Mai Faruk, eine der schönsten Stimmen Ägyptens. Begleitet wurden die drei Sängerinnen vom Orchestre du monde arabe unter der Leitung des palästinensischen Dirigenten Ramzi Aburedwan. Die Lieder handeln von Liebe, Poesie und vom Leben der arabischen Frauen.

  • Regie : Olivier Simonnet

    Mit :
  • Abeer Nehme (3) 01:02:30 bis 01:09:00 bis 01:21:39 / danach alle drei

  • Dalal Abu Amneh (1) 1:30 bis 30:55

  • Mai Faruk (2) 31:03 bis 01:01:01

  • Dirigent:
  • Ramzi Aburedwan

  • Orchester :
  • Arab World Orchestra
  • Land : Frankreich
  • Jahr : 2018

Beethoven 2020

Alles neu?

Vieles brauche ich nicht, sage ich mir, ich beschäftige mich mit Beethoven genau so lange wie mit Bach. Und immer wieder neu, dank neuer Biographien: nach Paul Bekker und vor allem Riezler kamen Dahlhaus, Solomon, Lockwood, Kropfinger (MGG), Geck und viel Analytisches zu den Klaviersonaten (Uhde), Sinfonien (Schenker), Streichquartetten (Kerman), dann die Zeit, als der Reihe nach alle Klaviertrios drankamen (eigene Texte für Intercord bzw. Tacet). Es gäbe keine schlimmere Aufgabe für mich, als jetzt alles das zu beurteilen, was anlässlich BTHVN2020 zu sehen und zu lesen war. Vor allem alles sehen und lesen zu müssen! Der 3sat-Tag ist als Ganzes in sechs Teilen noch in der ZDF-Mediathek abzurufen, ich bin oft im Laufe des Tages hängengeblieben, Jan Cayers ist ein kompetenter Erzähler, auch Buchbinder erreicht spielend, dass man dabeibleibt, während der Sprecher der Beethovenschen Originaltexte, die man  ohnehin schon irgendwoher kennt, Widerstand erzeugt, weil er als Schauspieler so tut, als erfinde er sie im Augenblick. Unglaubwürdigkeit ist auch die Crux jedes Beethoven-Spielfilms. Und nichts verträgt Beethoven weniger. Deshalb braucht man auch kein Mienenspiel bei Beethoven-Pianisten. Man ist als Interpret ein erlebender Mensch, aber kein Darsteller. Übrigens: Wenn man – wie ich – im Zusammenhang mit Beethovens Zauberformel „Menschheit“ darauf besteht, dass auch andere Kulturen auf der Welt existieren als die von Beethoven repräsentierte, erwähne ich als erstes, dass ich den Film „Diesen Kuss der ganzen Welt“ ganz furchtbar fand, ein Pseudokunstprodukt, das von Beethoven nur die Klischees benutzte (Ta-ta-ta-taaaa und Für Elise , die Schiller-Hymne oder im Fall Japan die gesamte Neunte als Dauerbrenner). Interessanter war die Buntheit des Angebotes in der Wochenzeitung DIE ZEIT, Titelthema „Beethoven, der Rebell“.  Das beginnt sehr schön mit Thea Dorn, und gerade die Nichtmusiker(innen) bestechen oft durch ihre seltsamen Ideen. Aber kein Musiker dürfte es wagen, öffentlich so über Literatur daherzureden wie zum  Beispiel Maxim Biller über Musik: ausgerechnet „im Arbeitszimmer der großen Eleonore Büning“  so unverhohlen seine Inkompetenz  zu entfalten.

„Frau Büning“, sage ich, „ich verstehe diese ganze Beethovensache nicht. Und deshalb verstehe ich auch mich selbst nicht. Wieso kann ich eigentlich nicht wie alle anderen den größten Komponisten aller Zeiten lieben?“

Mit diesem Einstieg will er offenbar selbst als der große Rebell auftreten, der alles ignoriert und gern von der Übermutter heimgeführt würde, wenn er nur könnte. Und sie soll tatsächlich versucht haben ihn einzufangen, indem sie freilaufende Einzelstücke wie die Egmont-Ouvertüre zum Abschuss freigibt: „Beethoven hat auch eine Menge schreckliches Zeug geschrieben. Vielleicht meinen Sie nur das.“ Als ob er ausgerechnet sowas kennte!

Nein, jetzt muss er prophylaktisch mit Weltoffenheit auftrumpfen, die in der Prominenz gern durch Verweis auf eine Weltstadt oder deren sattsam bekanntes Publikum, auf eine(n) andere(n) Prominente(n)  oder einen Taxifahrer bekundet wird. So auch hier:

Es war Sonntagmorgen, drei Tage vor Weihnachten, viele schliefen noch. Als ich kurz vorher mit dem Taxi durch die verlassenen, nebligen Straßen Berlins, der hässlichsten Stadt der Welt, die heute etwas weniger hässlich war als sonst, von Mitte nach Kreuzberg gefahren war, hatte ich den Fahrer gefragt, ob er Beethoven mag. Er kannte nicht einmal seinen Namen, er kannte nur Mozart, und den mochte er nicht. „Mein Herr“, sagte er, „ich bin Araber. Ich höre morgens Fairuz, das macht mich wach. Und abends höre ich vor dem Einschlafen Umm Kulthum, dabei kann ich immer sehr weit denken.“

Quelle DIE ZEIT 3. Januar 2020 Seite 52 Mein Beethoven Geld sammeln, Romane schreiben, aufwachen, lange Hosen tragen – sechs Prominente erzählen, wie seine Musik ihr Leben verändert / darin: Erwachsen werden von Maxim Biller

Und er fährt fort:

„Ach, wie schön“, sagte Eleonore Büning, als ich ihr das erzählte, und jetzt spielte sie mir auf ihrem alten CD-Player den letzten Satz der Sturmsonate vor, damit ich auch mal etwas Gutes von Beethoven hörte und richtig weit denken konnte. Während wir zuhörten und ich leider nur dachte, zu viele Noten, zu viel Vergangenheit, zu viel Ernst und keine einzige Blue Note, schloss die große Büning glücklich die Augen. „Was soll ich machen?“, sagte sie, als sie nach ein paar Minuten auf die Stopptaste drückte, „Beethoven ist mein Leben.“

Manches klingt wie Ironie, abgesehen von „die große Büning“, was ja auch nicht witzig ist, sofern es nicht eine Anspielung ist (aber auf wen?), – etwa wie im Fall Joseph II., der zu Mozart gesagt haben soll, “ (…) gewaltig viel Noten, lieber Mozart“ (Mozarts Antwort: „Gerade so viel Noten, Eure Majestät, als nötig sind.“) – nein, das hat Maxim Biller garantiert nirgendwo gelesen, aber ein „zu viel Vergangenheit“, – wie kann man dies Zuviel besser ausdrücken als durch Hinweis auf den Mangel an Blue Notes, während man in Wahrheit die Zuhörerin meint, die bei so wenig action schon glücklich die Augen schließt. Nein, dieser Schlauberger wird sich Ironie nicht leisten:

„Kann es sein“, sagte ich und sah an der großen Büning vorbei aus dem Fenster, „dass Beethoven für mich das Ancien Régime ist und mich deshalb nicht interessiert?“

So kann er der kindliche Rebell bleiben, der mit Beethoven brach, als er ihn nicht verstand. Ein immerwährendes Trotzalter.

Beethovenhaus Bonn, Geburtszimmer mit Büste (Wiki Leonce49)

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Etwas sehr Merkwürdiges ist mir passiert, während ich diesen Beitrag schrieb und über die Äußerung des arabischen Taxifahrers stolperte: da erinnerte ich mich an eine Aufnahme mit dem ägyptischen Sänger und Komponisten Mohammed Abdel Wahab, der auch der Komponist des Werkes „Enta Omri“ ist, das oben beim Namen Oum Kulthum angeklickt werden sollte (jetzt findet man dort – nach der Reklame ! – „Al-Atlal“ von Riad as-Sunbati), von Abdel Wahab gibt es jedoch auch eine bestimmte Aufnahme, die mit dem Zitat des Anfangs der Fünften von Beethoven beginnt. Sie müsste sich heutzutage im Internet recherchieren lassen. [Erste Spur: z.B. hier ab 1:51] Bei der Suche geriet ich allerdings ins Abseits, da ich auf eine Arbeit stieß, die mir bekannt vorkam, ja, und vielleicht lohnt es sich, diesen alten Vortrag noch im Blog zu veröffentlichen … das Beethovenjahr 2020 wäre kein schlechter Anlass, auch mich im großen Stil zu profilieren (Achtung: Selbstironie!), siehe hier. Oder, wenn’s nicht funktioniert, ⇒ ⇓

*    *    *

Jonas Kaufmann über eine Schlüsselstelle im „Fidelio“:

Nicht der körperliche Verfall eines Langzeitgefangenen darf hier zu hören sein, sondern der Seelenzustand des Verzweifelten, seine ekstatische Vision von Rettung und Befreiung. Genauso ist der allererste Ton dieser Szene, das aus dem Nichts kommende, immer stärker und immer dringlicher werdende „Gott!“, der Aufschrei einer gequälten Seele aber eben kein naturalistischer Schrei, sondern ein musikalischer Schrei, der die größte gesangstechnische Kontrolle erfordert. Ich weiß nicht, wie viel ich an diesem Crescendo gearbeitet habe. Jedenfalls hat es lange gedauert, bis es so klang, wie ich mir es vorgestellt habe. Das Publikum sollte bei solchen Phrasen nicht denken: „Toll, wie der das macht!“, sondern immer mit der dargestellten Person fühlen. Das ist die große Herausforderung: ganz in eine Figur hineinzuschlüpfen und trotzdem das nötige Quantum an Kontrolle darüber zu haben, was man da als Sänger und Darsteller tut.

Quelle DIE ZEIT 3. Januar 2020 Seite 52 ff Mein Beethoven Geld sammeln, Romane schreiben, aufwachen, lange Hosen tragen – sechs Prominente erzählen, wie seine Musik ihr Leben verändert / darin Seite 53: Nicht einfach so nach links von Jonas Kaufmann

*    *     *

Eine so seltsame Begründung dafür, fast nichts von Beethoven zu kennen, habe ich noch nie gehört: es sei sozusagen nur ein Fitzelchen, „denn jedes zweite Fitzelchen Beethoven überfordert mich emotional derart, dass ich Jahre brauche, um es zu verarbeiten.“

Was heißt denn dann „verarbeiten“? Ich kenne die Sonate op. 26 nicht, op. 27 Nr.1 und Nr. 2 nicht, op. 28, – nein, warum denn die? Op. 31 Nr.1 und Nr. 3 wiederum nicht, warum soll ich ausgerechnet diese zwei Sonaten kennen?? Nach op. 28 hat Beethoven gesagt:  „Ich bin mit meinen bisherigen Arbeiten nicht zufrieden, von nun an will ich einen anderen Weg beschreiten“. Wenig später folgte op. 53, die „Waldstein“-Sonate, aber all das gilt für null und nichtig, nein, es überfordert mich unmäßig, nur eine einzige Sonate soll mir für Jahre (fürs Leben?) als emotionale Nahrung dienen, – nennen wir es so -, die siebzehnte, op. 31 Nr. 2, nichts von denen, die vorausgingen, nichts von denen, die ihr folgten? Es sind zweiunddreißig!!!

Und das sollen wir ernst nehmen? Wäre es nicht ebenso vernünftig, dieser Schriftstellerin zu erwidern: Ich lese vorläufig lieber kein Buch von dir, ich werde mich auf dein Spätwerk beschränken, das wird bestimmt emotional ausgeglichener? (Als Musiker kann man schließlich nicht alles Geschriebene lesen, man muss es auch noch spielend wiedergeben.)

Zugegeben: wenn man den ganzen Artikel von Eva Menasse liest, wird man nachsichtiger. (Die Sonate, die sie meint, heißt – mit Bezug auf Shakespeare – Sturmsonate, ohne dass dieser Titel viel bringt. Jede Beethovensonate ist ein Drama.)

ZITAT:

Das Leben ging über die Sturmobsession hinweg. Doch als ich begann, einen Roman zu schreiben, kam ich auf die Idee, wieder Klavierstunden zu nehmen. Bis heute ist Musik für mich die beste Art, das Gehirn zu dopen. Nur damit fährt mein Gehirn wie ein Computer runter und auf andere, geheimnisvolle Weise wieder rauf. Ich quälte mich täglich mit Bachs Inventionen, eine Stunde lang, dann ging ich schreiben. Bach ist faszinierend wie Mathematik, glasklar und vertrackt, aber für mich, in Wien auf Mozart großgezogen, praktisch unspielbar. Die Bach-Qual half fraglos dem Schreiben: Man beginnt den Tag mit etwas, von dem man Knoten im Kopf und Schreikrämpfe bekommt, danach geht fast alles andere leicht von der Hand.

Nur reichte es irgendwann der Lehrerin. Sie fand etwas Temperamentvolleres, Melodiöseres müsse her. Ich sei viel zu verspannt, Schulter beim Ohr, Bach ganz der Falsche. Mit einem Ruck zog sie den Sturm heraus, dritter Satz. Ich fiel fast in Ohnmacht. Sie spielte mir die linke Hand vor. Ist doch schön, sagte sie, gefällt dir das nicht? Aber man muss es nicht so schnell spielen.

Erst dachte ich, es sei Schändung, aber bald wurde mir klar, dass es die vollkommene Einverleibung war. Besser könnte man es niemals durchdringen, als sich Takt für Takt durchzuschlagen wie durch einen faszinierenden Urwald. Fragen Sie bitte nicht, wie es klang. Glauben Sie bitte nicht, ich hätte es je ohne hundertzwanzig Fehler geschafft.

Ich breche ab, es ist absurd. Nicht Bach war „ganz der Falsche“, sondern die Lehrerin. Und die Schülerin bleibt lebenslang bei ihrem absurden Ansatz: nämlich Erleuchtung von der scheinbar einzig wahren Interpretation zu erwarten, auch wenn sie endlich mal eine andere Sonate aus dem Beethoven-Angebot herausgreift. Die letzte Klaviersonate op. 111, die letzte muss ja die beste sein, da spielt dann auch Thomas Mann mit seinem Doktor Faustus hinein…

Meine 111er-Geschichte aber ist ganz kurz, denn nach Prüfung vieler Aufnahmen legte ich mich fest, auf die merkwürdigste und exzentrischste Interpretation: die von [Anatol Ugorski]

Ich will es gar nicht wissen, mag sein, dass sie herausragt, aber mit dieser Einführung braucht man den Interpreten eigentlich nicht vorzumerken: die Prüferin hat den gewählt,

der für den zweiten Satz zehn Minuten länger braucht als alle anderen! Keine andere! So muss man das spielen! Nur dann hört man atemlos, dass Beethoven den Boogie erfunden hat.

Ach bitte, lesen Sie doch noch einmal „Thomas Mann, Doktor Faustus und so.“ Gewiss, da spürt man vor allem die gewaltige Adorno-Kompetenz. Und am Ende schreibt man dann, total abgesichert: „Es gibt nur einen Gott, und der heißt Ludwig von Beethoven.“ Auch wenn man nur zwei Werke von ihm kennt, die siebzehnte Sonate und die zweiunddreißigste.

Aber das, was man hätte lernen können, hängt mit dem Wort „üben“ zusammen, das im Text nicht vorkommt. Die Bach-Qual wäre gemindert, wenn man sich von allen Inventionen nur 4 Takte vornähme und diese auf Perfektion bringt. In dem Beethovensatz würde man sich nicht Takt für Takt durchschlagen „wie durch einen faszinierenden Urwald“, mit 120 Fehlern,  sondern mit kontrollierten Fingern durch vier sonnenklar notierte Takte mit null Fehlern.

Zur Erfindung des Boogie Woogie an anderer Stelle ein paar Worte. So ist es Quatsch!

Quelle DIE ZEIT 3. Januar 2020 Seite 52 ff Mein Beethoven Geld sammeln, Romane schreiben, aufwachen, lange Hosen tragen – sechs Prominente erzählen, wie seine Musik ihr Leben verändert / darin Seite 53: Die vollkommene Einverleibung von Eva Menasse.

Nachwort: Ich kenne die Aufnahme mit Anatol Ugorski nicht, aber ich glaube blind, dass sie hervorragend ist (ohne Eva Menasse auch nur ein Wort zu glauben). Nebenbei sei erwähnt: ich habe die letzten Beethovensonaten mit der leider kürzlich verstorbenen Tochter des Pianisten, Dina Ugorskaja, live hier in Solingen erlebt: schöner und gewaltiger kann ich mir keine Interpretation dieser Werke vorstellen. (Obwohl solche Komparative und Superlative vor allem eins sind: Rhetorik. Denn im selben Moment möchte ich andere Aufnahmen nennen, die ebenso unübertrefflich sind, und zugleich anders…)

Ich komme jetzt zu dem Artikel, den ich als Musiker von der ersten bis zur letzten Zeile mit Spannung gelesen habe. Und sein Titel hat wirklich mit der Sturm-Beziehung der Sonate überhaupt nichts zu tun,

Quelle DIE ZEIT 3. Januar 2020 Seite 52 ff Mein Beethoven Geld sammeln, Romane schreiben, aufwachen, lange Hosen tragen – sechs Prominente erzählen, wie seine Musik ihr Leben verändert / darin Seite 49: Sturm der Stille „Nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort“: War Beethoven trotz oder wegen seiner Taubheit so einzigartig? Von Florian Zinnecker

Der Autor bezieht sich vor allem auf die Forschungen von Prof. Eckart Altenmüller (Hannover), die deutlich gemacht haben,

dass es nicht die Hände, die Ohren oder die Seele sind, die einen Menschen zum Musiker machen, sondern sein Gehirn. Weil außerhalb des Schädels Musik nichts anderes ist als Muskelbewegungen und schwankender Luftdruck.

Weitere ZITATE

„Hört man Beethovens Werken an, dass ihr Schöpfer zunehmend ertaubt war?“ – „Ja und nein“, sagt Altenmüller. – „Hat die Taubheit Beethoven beim Komponieren beeunflusst?“ – „Eindeutig ja“. – „Nein, sogar im Gegenteil. Ich habe die Theorie, dass die visionäre Unabhängigkeit seiner Musik nurso entstehen konnte – diese Kantigkeit, das Nichtgefällige, die Autonomie. Beethoven musste sich nicht mehr in erster Linie darum kümmern, dass seine Musik dem Hörer genehm ist. Er konnte sich innerlich von der Gesellschaft und ihren Erwartungen entkoppeln – und er musste sich den Mist seiner Kollegen nicht anhören.“

Allerdings:

Angehende Musiker werden schon dadurch besser, dass sie anderen hochtalentierten Musikeren zuhören, das zeigen Altenmüllers Studien – weil sich das Gehör verfeinert und sich das Klangvorstellungsspektrum im Schläfenlappen anreichert. Beethoven dagegen wäre nivelliert und auf ein niedrigeres Niveau zurückgezogen worden, hätte er sich mit den Werken seiner Kollegen beschäftigt.

Die Annahme, Beethoven habe nur gewusst, wie seine Werke klingen, er habe sie aber nicht gehört, hält Altenmüller für falsch. „Wir können davon ausgehen, dass er das alles innerlich sehr präzise gehört hat. Er hatte eine reiche innere musikalische Welt, wie die meisten anderen Musiker auch. Eine Melodie mit dem inneren Ohr zu hören- das geht mithilfe von Spuren, die in den Schläfenlappen beider Hirnhälften liegen.“ Hier, so Altenmüller, befinde sich das musikalische Langzeitgedächtnis, die Musikbibliothek im Kopf. Tausende Stücke, und oft genügten schon wenige Takte, um sie zu erkennen: „Das war Beethovens Schatz. Hieraus konnte er sich bedienen. Nichts anderes ist Musikalität als das Neu-Kombinieren von musikalischen Gestalten. Das kann man in völliger Stille machen, auch dann, wenn es keinen zusätzlichen Input von außen gibt.“ Und oftmals sogar besser. „Unser Gehirn besteht aus Billionen von Verbindungen, über die Nervenzellen mit anderen Nervenzellen kommunizieren. Unser Gehirn spricht überwiegend mit sich selbst – und genau so entstehen auch diese musikalischen Welten, ohne dass es Einflüsse von außen gäbe.“ Jede Erinnerung im Schläfenlappen ist mit dem limbischen System vernetzt und also mit Emotionen belegt, auch deshalb sind akustische Erinnerungen sehr präsent und langlebig.

Eine so einleuchtende Beschreibung der Physiologie des Ohres wie in diesem Artikel ist mir bis heute noch nicht begegnet; daher will ich keinen Satz weglassen (mit der roten Hervorhebung bezeichne ich die mir wichtigste Stelle):

Die Erforschung des Gehörs, des empfindlichsten und schnellsten Sinnesorgans des Menschen ist so komplex wie das Hören selbst. Außerhalb des Schädels ist Musik nur periodisch schwankender Luftdruck, wahrgenommen über ein hochempfindliches Häutchen im Mittelohr, das Trommelfell. Es reicht schon eines Auslenkung vom Durchmesser eines Wasserstoffatoms, um aus der Stille einen Ton herauszuhören. Weitergetragen wird er von den drei kleinsten Knochen des menschlichen Körpers – Hammer, Amboss, Steigbügel. Über ein raffiniertes Verfahren im Innenohr wird aus der mechanischen Energie ein Nervenreiz: Das Innenohr ist mit einer Lymphflüssigkeit gefüllt, jeder Schallreiz verursacht eine kleine Welle, die von Tausenden Haarzellen vermessen wird; die Ausmaße der Welle werden über den Hörnerv weitergemeldet. Die äußeren Haarzellen lassen sich mit Willenskraft ausrichten; so ist es möglich, sich in einem Orchestersatz auf die Holzbläser zu konzentrieren odere in einem vollen Raum die Aufmerksamkeit von einem Gespräch zum nächsten wandern zu lassen – eines von mindestens zwei Phänomenen, die auch Ohrenärzte noch zum Staunen bringen.

Das andere hat mit der Sensibilität der Haarzellen zu tun: In beiden Ohren sitzen jeweils nur runf 3500 innere Haarzellen, der Mensch aber kann bis zu 5000 Töne unterscheiden. Jeder Reiz im Innenohrnwird mit einer Vielzahl von Gehirnzellen ausgelesen, aufbereitet und analysiert.

Über den Hörnerv gelangt das Signal in den Hirnstamm – und von dort aus in mehrere Regionen zugleich. Bewusst wird das Signal erst im Schläfenlappen der Großhirnrinde; bevor es aber dort ankommt, ist es schon in der Amygdala und im Hippocampus repräsentiert. Mit anderen Worten: Ein Klang kann schon Glück oder Angst auslösen, bevor er überhaupt wahrgenommen wird. „Akustische Signale werden extrem schnell emotional bewertet“, sagt Altenmüller. Das ist evolutionär bedingt: Es war wichtig, den Charakter eines Geräuschs rasch einzuordnen, um rechtzeitig angreifen oder fliehen zu können.

An dieser Stelle erwartet man vielleicht eine Auskunft darüber, was dies alles für Beethoven bedeuten soll, aber mir scheint, dass dieser Bezug etwas gewaltsam hergestellt wird, nämlich so, wie es für jeden anderen guten Komponisten gelten würde:

Diesen Effekt machte sich Beethoven auch in seinen Werken zunutze: Die rhythmische Klarheit und die einfach strukturierten Themen in vielen seiner Werke sorgen dafür, dass beim Hören die Formatio reticularis im Hirnstamm anspringt – jener Bereich, der für Herzschlag und Atmung zuständig ist und dafür, dass uns bestimmte akustische Signale aus dem Schlaf reißen.

Ein Teil der Reaktionsmuster sei angeboren, sagt Altenmüller, schrille, unharmonische Laute gälten auch im Tierreich als Warnsignal. Und Kinder lenten schon im Mutterleib, welche Klänge den Herzschlag der Mutter beschleunigen – das Hörenlernen beginne um die 20. Schwangerschaftswoche.

Das ist interessant, hat aber mit Beethoven nichts Spezifisches zu tun. Zu Anfang des ganzen Essays wurde zitiert, wie der 31jährige Komponist an einen Freund geschrieben habe: „Nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort (….)“. Wenig später darauf bezogen das vom Autor gegebene Stichwort „Hyperakusis, eine Überempfindlichkeit für bestimmte Frequenzen, aus gelöst von einer Lähmung der Gehörknöchelchen.“ (Man weiß heute wohl, dass die Beeinträchtigung auch vom Bleigehalte des Weines stammte, den Beethoven zeitlebens genoss.) Und jetzt, am Ende des Artikels nur noch dies:

Weiß man, wo im Kopf das Komponieren stattfindet? „Nicht so genau. Diese Prozesse sind hochkomplex. Jeder Komponist prüft und verwirft unzählige Varianten, bevor er sich für einen Weg entscheidet, eine Vielzahl neuronaler Netzwerke ist beteiligt, andere – etwa die Kontrollinstanz im Stirnlappen – sind gezielt deaktiviert. Erst dann kommen neue Gedanken, Ideen und Kombinationen. „Das ist ja das Tolle an der Kreativität: dass ich die neuen Möglichkeiten nur finde, wenn ich die Kontrolle abgebe“, sagt Altenmüller.

Wie sich die Welt für Beethoven anhört, nachdem das Sausen und Brausen verstummt war – darüber lässt sich nur mutmaßen.

War da Stille? Oder Musik?

Genau an dieser Stelle, so scheint mir, verlegt sich der wissenschaftliche Artikel auf ein merkwürdiges Mutmaßen:

„Beides ist möglich“, sagt Altenmüller. Bei Menschen, die im Alte schwerhörig werden oder taub sind, träten häufig musikalische Halluzinationen auf. Man spreche dann von einem „Enthemmungsphänomen“: Wenn die Nervenzellen, die musikalische Gedächtnisinhalte codieren, keine Anregungen mehr von außen erfahren, begännen sie selbst Melodien zu produzieren – unaufhörlich und ohne Rücksicht auf Konventionen.

Gut möglich, dass ein paar der auf diese Weise entstandenen Themen und Melodien seit zwei Jahrhunderten zum Kern der europäischen Musikkultur gehören.

ENDE DES ARTIKELS

Man sollte diesen irreführenden Suggestionen keinen Raum geben: als ob Nervenzellen nun endlich „von selbst“ produzieren, vielleicht in einer Richtung, wie man sie früher einmal von der Écriture automatique (siehe hier) erwartete: dass hier also gewissermaßen die geheimnisvolle Instanz des Unterbewussten selbst zu sprechen beginnt. In  allerwahrster Authentizität! Ob es nun Halluzinationen oder Phantasien sind, die als „eigene“ Einfälle des Komponisten auftreten oder von fremden Kräften gesteuert erscheinen, entscheidend ist, ob er sie als Arbeitsmaterial gelten lässt. Nur dann haben sie am Ende auch Bedeutung für uns.

Der Artikel von Wolfram Goertz gibt eine gute Einführung in die Tempo-Problematik bei Beethoven. Ich gehe nicht ausführlich darauf ein, weil sie für mich nie so gravierend war; ich habe früh die Analysen der Schönberg-Schule gelesen, also auch Adorno, vor allem das Heft Musik-Konzepte über Tempo (genauer: Musik-Konzepte 76/77 Rudolf Kolisch: Tempo und Charakter in Beethovens Musik 1992). Das Buch von Talsma habe ich bei Freund Klaus Giersch durchgeschaut und keinen Moment als gründliche Lektüre erwogen, die darauf beruhenden Ausführungen von Grete Wehmeyer, die ja persönlich sehr liebenswürdig war, erst recht nicht ernstgenommen, vor allem nicht die in halbem Tempo exerzierten Musikbeispiele.

Im Fall der jetzt enthusiastisch auf den Schild gehobenen Eroica-Interpretation von Hermann Scherchen, die ins andere Extrem gegangen war, nämlich die Metronomzahlen Beethovens buchstäblich umzusetzen, habe ich bei aller Faszination allerdings auch Vorbehalte, – wenn der letzte Satz vorübergejagt ist, frage ich mich, ob nicht „der gestirnte Himmel“ irgendwo hätte aufscheinen können, die Klarheit und Ruhe, die Beethoven an Kant so begeistert hat. (Siehe auch hier.) Letzter Satz im folgenden Dokument ab 33:21. Was geschieht zwischen 38:50 und 42:56?

Quelle DIE ZEIT 3. Januar 2020 Seite 52 ff Mein Beethoven Geld sammeln, Romane schreiben, aufwachen, lange Hosen tragen – sechs Prominente erzählen, wie seine Musik ihr Leben verändert / darin Seite 54: Am Tempolimit „An den aberwitzigen Metronomzahlen, die Beethoven seinen Werken verpasst hat, können selbst heutige Musiker noch scheitern. Was wollte der Komponist uns damit sagen?“ Von Wolfram Goertz.

Daraus die Schlussworte als ZITAT:

Zweifellos fühlte sich Scherchen, der in Schönbergs Tradition stand – er hatte die Uraufführung des Pierrot lunaire dirigiert -, als Vollstrecker der Metronomangaben, die er zu ihrer unaufhaltsamen Großartigkeit befreit. Bei Scherchen muss sich der Hörer anschnallen und weiß nicht, ob er die Reise überlebt. Am Ende ist er erledigt, erschöpft, überwältigt, beseelt.

Das Orchester klingt auf der Aufnahme manchmal, als betreibe es seine eigene Implosion. An einigen Stellen klappert es gehörig. Aber dieses Klappern erzeugt nur ein Häufchen Kehricht, das unter Scherchens Feuer sogleich verbrennt. Und da Scherchens Motivationskunst noch größer war als seine Strenge, entstand ein Einzigartiges: das Neue. Ohne Metronom hätten wir es möglicherweise nie erlebt.

*     *     *

Grund genug, eine im Beethoven-Jahr vielleicht weniger angesagte Sinfonie unter die Lupe zu nehmen, die erste, und einfach zu lesen, welche Überlegungen Hermann Scherchen dazu in seinem schönen Buch „Über das Dirigieren“ anstellt. (Ich habe mir das Buch zu Anfang meines Studiums in Köln zugelegt, zugegeben: ohne es gründlich durchzuarbeiten: ich wollte nicht unbedingt Dirigieren lernen, sondern z.B. Beethovens Sonaten für Klavier und Violine und sein Violinkonzert studieren. Aber in einer unserer ersten Methodikstunden, dafür gibt es Zeugen, war ich es, der das Hauptthema der ersten Sinfonie fehlerfrei an die Tafel schreiben konnte und die Erstsemester, die wir unterrichteten, in Staunen versetzte. Objektiv natürlich kein Wunder, wenn man das Stück schon Jahre vorher mit seinem Bruder vierhändig gespielt hatte. Und mit welcher Begeisterung!)

Ich muss in Worte fassen, was für mich später die entscheidenden Punkte wurden bei der Beurteilung einer Eroica-Aufführung:

  1. Erkenne ich die Ideen, die mir das Buch von Martin Geck und Peter Schleuning eingegeben hat? Ich möchte dem „Ernst der Lage“ begegnen und nicht nur die Tempo-Konstanz bestaunen, ich möchte auch den Evolutionsmythos von den Geschöpfen des Prometheus herauswachsen hören.
  2. Spüre ich ähnliche Erschütterungen, wie ich sie bei Aufführungen mit dem Collegium Aureum wahrgenommen habe? Wie subjektiv auch immer. Egal, ob es dieselben Tempi waren. Wir arbeiteten, so hieß es, nach Maßgabe der Pariser Beethoven-Aufführungen, die François-Antoine Habeneck vom Konzertmeisterpult aus geleitet hat. Ich spüre jederzeit, wenn ich daran denke, den wilden Auftakt, den Franzjosef Maier mit Bogen und krachendem Klappstuhl gab, wenn es in den Sechzehntelansturm zu Beginn des Finales ging, dann das Konzentrationswerk der Variationenentfaltung, wartete auf den überirdischen Auftritt der Oboe (Helmut Hucke) und auf den dröhnenden Chor der Naturhörner. Größeres gibt es nicht!

Da ich dies in Domburg an der niederländischen Küste schreibe, gehört der Blick auf das Meer zur aktuellen Rückerinnerung an die Eroica, obwohl diese Landschaft natürlich nichts mit Beethoven zu tun hat. Es ist das Gefühl der physischen Gewalt und des Erhabenen, das einen hier wie dort überwältigt.

(Fortsetzung u. Fotos  folgen)

Basilika und wunderwirkende Knochen

 

 Unsere Pilgerspuren im Sand

 Ausweg

Wer war der Bauherr Einhard? Siehe hier.

ZITAT

Da Einhard befürchtete, ohne eigenen Sohn zu sterben, der nach seinem Tod für ihn beten konnte, hatte er schon 819 das Kloster Lorsch als Erben der Mark Michelstadt eingesetzt, denn den Gebeten der Mönche maß er die größte Kraft vor Gott und seinen Märtyrern zu. Bei seiner Suche nach einem Heiligen wandte sich Einhard an einen Römer namens Deusdona, der sich gerade in Aachen aufhielt und ihm die gewünschten Reliquien versprach. Doch kaum war Deusdona zusammen mit Ratleik, Einhards Vertrautem, in Rom angekommen, da vertröstete er diesen ein um das andere Mal, bis Ratleik selbst eines Nachts in die Katakomben unterhalb der Kirche „inter duos lauros“ an der antiken Gräberstraße Via Labicana eindrang und von dort aus dem mit einer Steinplatte verschlossenen Grab der Heiligen Marcellinus und Petrus die Gebeine des Marcellinus entnahm. Marcellinus und Petrus waren unter Kaiser Diocletian Anfang des 4. Jahrhunderts ihres Glaubens wegen enthauptet worden: Marcellinus hatte als Diakon das Wort Christi gepredigt und die Taufe gespendet, Petrus hatte als Exorzist die vom Teufel Besessenen geheilt. Schon bald nach ihrem Tod waren sie als Heilige verehrt worden, ihr Ruhm war mit der Verbreitung der römischen Liturgie im gesamten Frankenreich unter Karl dem Großen gewachsen und ihre Grabstätten das Ziel zahlreicher Pilger geworden.

Ratleik überkamen schon bald Bedenken wegen seines Handelns, jedoch nicht etwa wegen seines Raubes, sondern weil er die Heiligen voneinander getrennt hatte, die gemeinsam den Märtyrertod erlitten und fünfhundert Jahre lang ihr Grab geteilt hatten. So kehrte er einige Nächte später an ihre Gedenkstätte zurück, um auch die Gebeine des Heiligen Petrus zu entnehmen. Dieses Mal ließ sich die Steinplatte leicht abheben, woraus Ratleik schloss, dass der Heilige sein Handeln billige.

In aller Stille und in Angst um sein Leben verließ Ratleik Rom, denn schon zweihundert Jahre zuvor hatte Papst Gregor der Große bei Todesstrafe verboten, Reliquien ohne päpstliche Erlaubnis aus Rom zu entfernen, und mit Höllenstrafen im Fall eines Vergehens gedroht. Erst nördlich der Alpen ließ Ratleik die Reliquien offen vor sich hertragen, und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung erreichten sie im Oktober oder November 827 Michelstadt.

Doch in bedrohlichen Träumen ihrer Bewacher ließen die Heiligen wissen, dass sie hier nicht bleiben wollten, sie forderten, Seligenstadt solle ihre letzte Ruhestätte werden. Nach einigem Zögern gab Einhard ihrem Drängen nach, und nicht einmal drei Monate nach ihrer Ankunft brachte er sie im Januar 828 dorthin. Dieser Entschluss wird ihm nicht leicht gefallen sein, musste er doch alle Pläne für seinen Alterssitz aufgeben, die ihn seit einem Jahrzehnt beschäftigt hatten. In Seligenstadt begannen die Heiligen unverzüglich Wunder zu wirken: Lahme konnten wieder gehen, Blinde wieder sehen, Verirrten wiesen sie den rechten Weg. Ihre Wunder, die man auch als Gleichnis für die Bekehrung der abergläubischen Bevölkerung zum Christentum verstehen kann, waren für Einhand der endgültige Beweis, dass seine Heiligen ihre Übertragungen in das Frankenreich gewünscht hatten.

Für uns heute ist es kaum noch vorstellbar, welche Bedeutung Einhard seinen Reliquien beimaß und wie sein Ansehen durch ihren Besitz wuchs. Mit dem neuen Dienst, den er seinem „großen, wunderbaren Schatz, wertvoller als alles Gold“ schuldete, begründete er seinen Rückzug vom kaiserlichen Hof.

Grabplatten von oben nach unten (Zweierreihen): 1 Äbtissin Elisabeth Lochinger von Arxhofen † 1512, 2 Anna von Bruck † 1370, 3 Nonne Grete (?) Duborn, erwähnt 1345, 4 ???, 5 Name: Osbirn, Propst (?) um 1100, 6 Überblick

Quelle des zitierten Textes Thomas Ludwig: Einhards-Basilika Michelstadt-Steinbach, Broschüre 18 Edition der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen 2016

Zur Baugeschichte siehe Wikipedia HIER / Fotos: E.Reichow & JR

Fremde Ekstasen

Der Einstieg 

Zum Reinhören: bei jpc hier

Es ist wirklich sehr wenig, was man da beim Reinhören wahrnimmt, es entspricht nicht einmal einer flüchtigen Gesichtserkennung. Kaum eine volle Zeile Gesang. Trotzdem kann man es schon als eine Übung betrachten: wie schnell erfasse ich das, was in diesen Sekunden vor sich geht, so, dass ich es eindeutig wiedererkennen kann? Ganz am Ende dieses Artikels möchte ich zeigen, was man (als musikalischer Mensch – das ist die Voraussetzung!) tun kann, wenn man die CD besitzt. Ein Minimum. Man muss (kann) kein Gnawa („Gnaua“) werden. Erwarten Sie keine Ekstase. Ein gutes Ohr und ein wacher Sinn, vielleicht noch etwas Empathie, das wäre schon viel… Oder Sie beginnen weiter unten mit dem Video der Sängerin Asma Hamzaoui.

 Die neue OCORA CD (2017)

Pressetext:

Die Ursprünge der ethnischen Minderheit der Gnawa im nordafrikanischen Marokko liegen im Dunklen. Lange Zeit galt als sicher, dass sie Nachfahren schwarzafrikanischer Sklaven südlich der Sahara sind. Die faszinierende und ausgesprochen rhythmusbetonte Musik ihrer spirituellen Rituale fand Eingang in Jazz, Rock und Reggae. Die Aufnahmen entstanden im Rahmen des Gnawa & World Music Festivals in Essaouira.

Ein SWR-Film (2007) über die Altstadt von Essaouira:

 Gnawa & World Music Festival

Der Text der heutigen CD-Booklets ist so klein gedruckt, dass es mühsam ist, ihn zu lesen. Daher ist hier zumindest der englische Teil so wiedergegeben, dass man ihn leicht vergrößern kann.

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Im obigen Text werden „The Songs of Gnawa Music“ in drei Abschnitten beschrieben, die der nachfolgenden dreigeteilten Liste  „The Recordings“  zugeordnet werden können, obwohl man die einzelnen Titel der Tracks im erläuternden Text nicht wiederfindet. Am Ende des zweiten Blocks, der eine profane, spielerische, vermittelnde Funktion haben soll, wird darauf hingewiesen, dass im dritten Block eine sakrale Stimmung einsetzt, durch Räucherwerk und FARBEN gekennzeichnet. Von diesen symbolisch konnotierten Farben ist auch nach Tr. 02, 05 und 06 die Rede. Schwarz, grün und wieder schwarz. Wobei im dritten Block (Tr. 05 + 06), der im Text „The Mlouk“ überschrieben ist, die 7 Farben zu erwarten sind, die im einzelnen genannt (aber wohl nicht alle gespielt?) werden: weiß, zwei Schattierungen von blau, rot, grün, zwei Arten von schwarz, schließlich noch gelb.

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ZITAT

Der Ritus beginnt mit einer Reihe von Anrufungen in einer festgelegten Reihenfolge, die jedoch von Stadt zu Stadt unterschiedlich sein kann: der Prophet Muhammad, Sidi Bilal und die großen muslimischen Heiligen Abd al-Qadir Jilani … danach kommen die Mlouk-Geister, nach Farben gegliedert: die Weißen (die Luft), die Schwarzen (die Erde), die Roten (das Feuer), die Grünen, die Gelben, die Blauen (das Meer). Ein Besessenheitsgeist wird als Mlek (Singular von Mlouk) bezeichnet, genau so sein musikalisches Erkennungszeichen in Vers, Melodie und Rhythmus. Man sagt „den Mlek des Abd Al-Qadir Jilani spielen“. Während der Anrufung seines Geistes steht der „Besessene“, Mann oder Frau auf, unwiderstehlich angezogen und tanzt in Trance die Jedba. Ein Helfer oder die Seherin bedeckt den Kranken mit dem Schleier in der Farbe des Geistes, der ihm innewohnt, und verbrennt die Art von Rauchwerk, die ihm zugeordnet ist.

Quelle Viviane Lièvre: Die Tänze des Maghreb / Marokko – Algerien – Tunesien / Verlag Otto Lembeck Frankfurt a.M. 2008 (Seite 95 f)

Asma Hamzaoui et Bnat Toumbouctou

siehe HIER – oder direkt in ein Video mit dieser Sängerin (Reklame überspringen):

LIVE  (eine andere Musik, im Zentrum die Zorna, nicht die Laute Guembri)

Vormerken: Stuttgart 19. November 2019 

Zitat Stuttgart Lindenmuseum:

Im Jahr 2001 wurde der Djemaa El Fna, der Platz der Gehenkten in Marrakesch, von der Unesco zum „immateriellen Weltkulturerbe“ ausgerufen. Er ist Schauplatz und Bühne von täglich neu entstehenden, abwechslungsreichen Darbietungen – seien es Akrobatik, Tanz, Gesang, Zauberei oder Wahrsagerei. Der Platz, und besonders die Halqa, der Kreis der Geschichtenerzähler, ist ein Konzentrat der mündlichen und gestischen Überlieferungen, wie sie früher in ganz Marokko verbreitet waren. Doch auch neue Traditionen werden erschaffen und überliefert. Der mehrfach preisgekrönte Film von Thomas Ladenburger dokumentiert dieses verschwindende und doch so präsente immaterielle Erbe. Im Rahmen der Reihe „Mit großen Erzählungen um die Welt“. Hier !

Thomas Ladenburger erzählt über den Film HIER. (Dort folgen auch Ausschnitte und weitere Beispiele aus dem Film.)

Der jüdische Muslim

Ein Essay von Hans Mauritz

„Ägypten ist ein Wunder“

Ägypten war seit eh und je ein Einwanderungsland. Schon in der Antike lebten hier Griechen und Römer. Im Jahre 1940 umfasste die griechische Kolonie in Kairo und vor allem in Alexandria 250.000 Einwohner (1), die Zahl der Italiener wird für dasselbe Jahr auf 60.000 geschätzt. (2) Zahlreich waren auch die in Ägypten ansässigen Juden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert waren es zwischen 75.000 und 100.000 (3). Die meisten von ihnen, Geschäftsleute und Fabrikanten, bildeten mit den Einwanderern und mit der ägyptischen Oberschicht ein kosmopolitisch geprägtes Milieu, das wenig Interesse hatte an arabischer Sprache und Kultur und für die Kommunikation untereinander die französische Sprache benutzte. Vor allem die Stadt Alexandria beeindruckte durch ihren westlich geprägten Lebensstil und ihre kosmopolitische Ambiance: „We went through the town and found it a city of huge commercial buildings and broad, handsome streets brilliant with gaslight. By night it was a sort of reminiscence of Paris. Alexandria was too much like a European city to be novel, and we soon tired of it”, schreibt Mark Twain im Jahre 1867 (4). Schriftsteller auf der Suche nach dem Zauber des Orients mochten enttäuscht sein – Juden und Ausländer freuten sich an ihrem bequemen Leben und ihrem wirtschaftlichen Erfolg. Leute aus zahlreichen Ländern und verschiedenen Religionen seien gekommen, sagt Yakoub, eine Person aus einem Roman von Kamal Ruhayyim, und „sie alle kamen nach Ägypten ohne jeden Penny und erwarben Land, Fabriken und Wohnhäuser. Ägypten ist ein Wunder.“ („Days in the Diaspora“, p.198)

Jude und Muslim beim Schachspiel, aus dem Libro de los Juegos, 13. Jahrhundert (Madrid, Bibliothek des Escorial) (Foto: Wikipedia)

Aber es gab, vor allem in Kairo, auch Juden aus der Mittel- und Unterschicht, die seit Generationen im Lande lebten, als Muttersprache den ägyptischen Dialekt sprachen, mit ihren muslimischen Nachbarn solidarisch zusammenlebten und sich als Ägypter, wenn nicht gar als ägyptische Patrioten und Nationalisten fühlten. حارة اليهود , das jüdische Quartier von Kairo, zeugt von der Präsenz der Juden seit Jahrhunderten. Der berühmteste Bewohner dieses Viertels war Maimonides (=Rabbi Moshe Ben Maimon), Universalgelehrter, Philosoph und Arzt, der, aus seiner Heimat Cordoba vertrieben, in Marokko Asyl fand und schliesslich nach Ägypten kam, wo er 1204 starb. Mit seinem philosophischen Hauptwerk, „Der Führer der Unschlüssigen“ دلارة الحائرين, in Judäo-Arabisch verfasst und unter dem Titel „Dux neutrorum“ ins Lateinische übersetzt, setzten sich Thomas von Aquin, Albertus Magnus und Spinoza kritisch auseinander (5). Ein anderer berühmter Jude, der in Ägypten Spuren hinterliess, war Rabbi Yaakov Abuhatzeira (1806-1880), Abu Hasira ابو حصيرة , „der Mann mit der Matte“, so genannt, weil er sich an eine Matte klammerte, um im Mittelmeer nicht zu ertrinken. Am Ende seines Lebens erkrankte dieser marokkanische Rabbi auf seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land und starb in einem Dorf bei der ägyptischen Stadt Damanhour (6). Sein Grab wurde Ziel einer Wallfahrt, an der Jahr für Jahr zahlreiche Juden aus Ägypten und Israel teilnahmen. Diese Zeremonie wurde 2014 von der ägyptischen Regierung verboten, unter dem Vorwand, das unmoralische Verhalten der Pilger – Alkoholgenuss und Promiskuität der Geschlechter – verletze das Empfinden der muslimischen Bevölkerung.

 Maimonides, Statue in Cordoba (Foto: Wikipedia)

Das luxuriöse Leben der Reichen und die friedliche Koexistenz der Ärmeren mit ihren muslimischen Landsleuten, charakteristisch für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, sollte nicht andauern. Der ägyptische Nationalismus, aufgekommen im Kampf gegen die britischen Besatzer, die Sympathie mancher junger Ägypter für Nazismus und Faschismus, das Erstarken der Moslembruderschaft, die Bildung des Staates Israel und die Konflikte mit den Palästinensern bedrohten das Leben der Juden in Ägypten. Sie emigrierten in mehreren Wellen, bevor die Machtübernahme Abdel Nassers und schliesslich die Suez-Krise zu einem dramatischen Ende der jüdischen Präsenz in Ägypten führten. Als Nasser an die Macht kam, lebten hier noch ca. 50.000 Juden, nach dem Ende der Suez-Krise noch 21.000, zehn Jahre später, als der Sechstage-Krieg ausbricht, noch etwa 7000, und heutzutage sind weniger als ein Dutzend – meist ältere Frauen – verblieben.

Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass das Thema „arabische Juden“ jahrelang nicht diskutiert wurde. Erst seit dem Jahre 2006 kommt es zu einem neuen Trend. Es werden mehrere Dokumentarfilme über die Geschichte dieser Juden gedreht, und im Ramadan 2015 zeigt das ägyptische Fernsehen unter dem Titel „Die Judengasse“ eine Soap Opera, in der das Leben einer jüdischen Familie im Kairo der späten 40er Jahre in überraschend positiver Weise dargestellt wird. Die Heldin des Films verliebt sich in einen muslimischen Soldaten, der während des arabisch-israelischen Krieges im Sinai kämpft (7).

 „Haret al-Jahud“ Soap Opera (PR-Foto)

Auch in der Literatur erlebt das Thema einen regelrechten Boom. Es erscheinen mehr als zwanzig Romane über arabische Juden, die in Syrien und im Irak, in Ägypten und im Jemen sowie in Nordafrika zu Hause waren (8). Die Gründe für dieses neu erwachte Interesse sind vielfältig: die triste Gegenwart weckt Nostalgie nach einer kosmopolitischen Vergangenheit, in welcher das Miteinander von Völkern und Religionen kulturellen Reichtum brachte. Der verlorenen jüdischen Gemeinschaft gilt es ein Denkmal zu setzen. Kamal Ruhayyim, der Autor, den wir hier vorstellen, hat dem Thema eine Trilogie gewidmet. Als einziger dieser Autoren hat er einen Helden gewählt hat, der als Muslim in eine jüdische Familie hineingeboren wurde (9).

 Kamal Ruhayyim (Foto: privat)

Ablehnung und Solidarität, Feindseligkeit und Toleranz

Galal, der „jüdische Moslem“, المسلم اليهودي , kommt in der Mitte der 1950er Jahre in al-Daher, einem Kleine Leute-Viertel von Kairo, zur Welt. Sein muslimischer Vater war von seiner Familie – Grossgrundbesitzer, die in einem Dorf nahe bei Giza lebten – zum Studium nach Kairo geschickt worden. Er verfällt dort dem Zauber der jungen Jüdin Camellia und heiratet sie. Aber noch vor der Geburt seines Sohnes bricht er auf, um seine Familie zu besuchen, kommt jedoch nicht zurück und lässt nichts von sich hören. Erst viel später erfährt Camellia, dass ihr Mann im Dorf eine zweite Frau, eine Muslimin, geheiratet hat und wenig später ums Leben gekommen ist: er hat sich den Widerstandskämpfern im Kampf gegen Grossbritannien, Frankreich und Israel angeschlossen, die Ägypten überfielen, um Abdel Nasser an der Nationalisierung des Suezkanals zu hindern. Jahre später wird Galal das Grab seines Vaters besuchen und die Inschrift lesen: „Hier ruht Abd al-Hamid al-Minshawi, zum Märtyrer geworden im Angriff der drei Mächte am 3. November 1956“.

Obwohl die meisten jüdischen Verwandten bereits das Land verlassen haben, wird die Familie der Mutter noch einige Jahre in Kairo durchhalten. Galal wächst vaterlos auf, denn alle jüdischen Freier ziehen sich zurück, sobald sie erfahren, dass seine Mutter einen muslimischen Jungen mit in die Ehe bringen würde. Die Nachbarn kümmern sich liebevoll um Mutter und Kind. Weil Camellia den Säugling nicht stillen kann, übernimmt es die muslimische Nachbarin Umm Hassan, ihn zusammen mit ihrem eigenen Sohn aufzuziehen. Diese Juden sind so gut integriert, dass sie selbst zu religiösen Festen wie dem Fasten-Brechen eingeladen werden. Freilich, eine Aura der Fremdheit umgibt sie trotzdem. Keines der Nachbarkinder betritt ihre Wohnung, „erschreckt vor einer rätselhaften Welt voll jüdischer Geheimnisse“. („Diary“,p.23) Als Galal seine Freunde einladen will, realisiert er, dass dies unmöglich ist, weil niemand die von der Hand einer Jüdin zubereiteten Speisen anrühren würde.
Obwohl im Judentum die Religion matrilinear vererbt wird, hält sich die Familie, aus Angst vor den Nachbarn und den väterlichen Verwandten, an die islamische Vorschrift, dass ein Kind die Religion seines Vaters erbt. Galal wird nicht jüdisch erzogen, erhält aber auch keine muslimische Erziehung, mit Ausnahme der wenigen Informationen, die er im Religionsunterricht aufschnappt. Er betet und fastet nicht und besitzt nicht einmal einen Koran. Wenn er am Freitag seine Kameraden auf dem Weg zur Moschee sieht, möchte er mit ihnen gehen, aber getraut sich nicht. Was ihn dagegen fasziniert und so stark berührt, dass er in Tränen ausbricht, sind der Gebetsruf und die Rezitation des Korans bei Begräbnissen. „Ehrfurcht überkam mich dann und etwas Unsichtbares übermannte mich, als klammere ich mich daran, während es mich mitnahm auf eine Reise in eine andere Welt.“ („Days in the Diaspora, p.13) Galal wird Muslim über sein Gefühl und sein ästhetisches Empfinden. Eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Islam oder mit dem Judentum wird nie stattfinden. Später sorgen seine Spielkameraden dafür, dass er sich seiner Religionszugehörigkeit bewusst wird. Die Kinder auf der Strasse flössen ihm Furcht ein, als sie ihm erklären, welche Höllenqualen seine Mutter und seine Grosseltern beim Jüngsten Gericht erwarten. Er, Galal, dagegen sei Muslim und komme in den Himmel. In der Schule spürt er, wie die Augen der Mitschüler auf ihm ruhen. Zu Hause beginnt er, seinerseits seine Mutter zu beobachten. Später muss er sich auseinandersetzen mit einem Kameraden, der verkündet, „dass jüdische Frauen keine Religion besitzen, die sie daran hindert, sich mit Männern einzulassen, und dass sie im Grunde Huren sind, jeden Tag in den Armen eines neuen Liebhabers“. („Days in the Diaspora“, p.244) So brutal diese Situationen sein mögen, sie helfen dem Jungen, sich zu wehren und ein Bewusstsein für seinen Status als Muslim und als Ägypter zu gewinnen: „Ich bin genau so Ägypter wie du, wie jeder andere Kerl auf der Strasse, vielleicht sogar mehr.“ (ibd., p.196)
Was ihm zugute kommt, ist die Tatsache, dass es in seiner Umgebung Menschen gibt, welche die religiöse Toleranz hochhalten. Die Muslims unter ihnen stützen sich dabei auf die Überzeugung, dass die drei Religionen – Islam, Christentum und Judentum – das „Volk des Buches“ أهل الكتاب bilden, die Gemeinschaft jener, denen Gott sich durch ein heiliges Buch offenbart hat. Sein Religionslehrer ist ein Muslim, „der sich an den Geist, nicht an den Buchstaben der Religion hält und weiss, dass Menschen nach ihrem Herzen und ihren Taten beurteilt werden, nicht nach dem äusseren Anschein“. Er verkündet einen toleranten Islam und betont, „dass der Glaube nicht vollkommen ist, wenn man nicht an vorausgegangene Propheten glaubt: Abraham, Ishmael, Jacob, Isaac, Moses, Jesus und die übrigen gesegneten Propheten und Gesandten“. (ibd., p. 247)

Moses und Mohammed sind Brüder

 Synagoge in Kairo

Das leuchtendste Beispiel für gelebte Toleranz ist Zaki, Galals jüdischer Grossvater. Als er nach Paris emigriert und französischer Staatsbürger wird, beginnt für ihn das triste Leben in der Fremde. Er verzehrt sich vor Heimweh nach Ägypten und nach seinen muslimischen Nachbarn und Freunden. „Das waren gute Tage, Galal. Du konntest nicht sagen, ob einer Muslim oder Jude war. Kein Groll, kein böser Wille, keine Beurteilung nach meinem Credo oder Deinem Credo. Jede Nachbarschaft hielt zusammen und (…) Gott war für alle da.“ (ibd. p.260) Der Grossvater ist überzeugt von der Gleichwertigkeit der Religionen. Für ihn steht fest, dass auch Mohammed ein Prophet war und dass Moses und Mohammed Brüder sind. Er versucht nie, seinen Enkel zu bekehren, ermuntert ihn im Gegenteil, seiner Religion treu zu bleiben. Der Grossvater ist ein frommer Jude und gleichzeitig ein wahrer Ägypter. Im Unterschied zu seinen Verwandten, die als Touristen und Geschäftsleute nach Israel reisen, hat er sich sein Leben lang geweigert, in das „verheissene Land“ zu reisen. Er kann das Unrecht, das den Palästinensern angetan wird, nicht akzeptieren. Er geht in seinem Patriotismus so weit, dass, käme es zu einem Krieg mit Israel, er auf der Seite Ägyptens kämpfen würde: „Ich bin Zaki, Sohn des Isaac, Sohn des Yusuf, Sohn des Haroun (…) , und sie alle wurden in Ägypten geboren und aufgezogen (…), dieses Land ist mein Land“. (ibd., p.169) Wenn es auf der einen Seite Juden gab, die sich vom israelischen Geheimdienst als Agenten anwerben ließen und in Ägypten Sabotage-Akte begingen (die sog. Lavon-Affaire) (10), hatten andere grosse Vorbehalte gegenüber dem Zionismus, weil sie spürten, dass ein Staat Israel und ein Konflikt mit den arabischen Nachbarn ihnen ihre Heimat nehmen würden. Schon im Jahre 1935 hatte René Qattawi die „Vereinigung der ägyptisch-jüdischen Jugend“ gegründet, deren Slogan lautete: „Ägypten ist unsere Heimat, Arabisch unsere Sprache“ (11).

Wie schwer es ist, religiöse Toleranz zu praktizieren, erlebt Galal bei seinen wenigen Besuchen auf dem Dorf bei der Familie seines Vaters. Ihr Empfang ist alles andere als herzlich. Seine Mutter und er werden drei Tage lang in einer Art Vorratsraum einquartiert, bevor sie das Mahl mit den Verwandten einnehmen dürfen. Vor allem die Frauen zeigen sich feindselig und behaupten, die Idee vom „Volk des Buches“ sei ein Hirngespinst und ein Besuch am Grab des Vaters sei für eine Jüdin verboten. Besonders intolerant ist Onkel Ibrahim, der Bruder von Galals Vater. Als Mutter und Sohn aufbrechen, versucht er, den Jungen zurückzuhalten: „Oder willst du ihn zurückgehen lassen mit dieser Hexe, Vater? Eine dubiose Frau, über die wir gar nichts wissen?“ („Diary of a Jewish Muslim“, p.94) Allein der Grossvater hebt sich aus diesem düsteren Tableau heraus. Er akzeptiert den Enkel vom ersten Augenblick an und lässt ihn seine Liebe spüren. Er sichert Galals Mutter zu, dass er sich verantwortlich fühlt und für den Jungen sorgen wird. Nach seinem frühen Tod wird ihm der Grossvater in seinen Träumen erscheinen, ein Trost und Beistand für ihn, der von der väterlichen Linie abgeschnitten ist. Nicht ohne tiefere Bedeutung, so scheint es uns, macht Kamal Ruhayyim die beiden Grossväter zu den sympathischsten Figuren seiner Trilogie: als Vertreter einer Generation, für welche die Welt noch in Ordnung war und Werte wie Toleranz, Respekt und Menschlichkeit gelebt wurden.

Verlorenes Paradies

In Paris, in der Diaspora, trifft die jüdische Familie wieder zusammen. Galas Grosseltern sind Ende der 60er Jahre emigriert, Galal und seine Mutter folgen im Sommer 1974. Galal reist nur widerstrebend ab und nur, weil ihm die baldige Rückkehr versprochen wird: „Warum sollte ich all dies verlassen und in ein Land ziehen, wo ich ein Fremder bin? (…) Ich kann dies alles hier nicht verlassen. Ich kann dort nicht leben. Ich würde sterben. Ersticken.“ („Diary of a Jewish Muslim“, p.209 und 226)

In der Tat präsentiert sich die Stadt des Lichtes für manche dieser Juden nicht so, wie man es erwarten könnte. Galals Grosseltern leben in einer ärmlichen Wohnung im Stadtteil Barbès, wo vor allem Einwanderer aus Afrika leben. Galals Onkel Shamoun ist noch schlimmer dran: trotz seiner akademischen Ausbildung hat er beruflich nie Fuss fassen können und muss sich mit einer Arbeit als Strassenfeger begnügen. Galals Verwandte sind nicht die einzigen, für welche sich die Diaspora als Fehlschlag erweist. Ein berührendes Beispiel ist die Schar der älteren Juden, die bei Galals Stiefvater Yakoub am ersten Samstag jeden Monats eingeladen werden. Der Salon ist wie ein Refugium, in dem sie sich an die guten alten Tage erinnern: „Für sie war Ägypten eine Art verlorenes Paradies. Sie waren vollkommen abgeschnitten von der Welt, in der sie heute lebten.“ („Days in the Diaspora“, p.102) Ihre Kinder sind in verschiedene Länder emigriert. Die Zeit ist an ihnen vorbei gegangen, und was ihnen bleibt, ist die Sehnsucht. Um sie zu trösten, taucht dann ein Lautenspieler auf und singt für sie Lieder von Abdel Wahab und Umm Kalthoum.

Business

Andere Juden dagegen haben Karriere gemacht. Galals Cousine Rachel verdient gutes Geld, indem sie reiche Araber vom Golf in der französischen Hauptstadt herumführt. Freilich muss sie ihr Jüdischsein verstecken und lässt aus ihrer Bluse eine Halskette mit einem Kreuz herausschauen. Und beim Flirt mit ihren Kunden darf sie, wie Galal feststellt, nicht allzu kleinlich sein. Galals Onkel Isaac ist nach Israel emigriert, hat in Haifa einen Supermarkt eröffnet, ist später ins Import-Export-Geschäft umgestiegen und beteiligt sich am Bau einer Siedlung – auf Land, das den Palästinensern gehört: „All das ist Business, Geschäft ist Geschäft, und er wird schönes Geld machen“ („Days in the Diaspora“, p.194).
Als Sadat 1977 Frieden mit Israel schliesst, ergreifen seine Onkel Isaac und Haroun, Galals Stiefvater Yakoub und seine Mutter Camellia die unverhoffte Chance: sie kaufen Land in Sharm el-Sheikh und bauen ein Spielcasino „der Weltklasse“. Galals Einwand, Geldspiel sei Sünde in beiden Religionen, lässt seine Mutter nicht gelten: „Das ist Geschäft. Handel. Geld, das auf dem Markt neues Geld macht. Geld kennt kein Glaubensbekenntnis und keine Religion.“ („Menorahs and Minarets“, p.71)

Muslims und Juden, gute und böse

Wie sehr die Diaspora einen Menschen verändern kann, zeigt sich an Galals Mutter. Seitdem sie einen reichen Juden geheiratet hat, frisiert sie sich wie ein junges Mädchen und, wie Galal sagt, „schminkt sie sich die Lippen blutrot wie eine Hure.“ („Days in the Diaspora“, p.109) Später lässt sie sich Gesicht und Busen mit Silikon auffüllen. Diese Schilderung hat etwas Karikaturhaftes, und die Häufigkeit, mit der die Geschäftspraktiken der Juden angesprochen werden, ist vielleicht nicht ganz frei von Antisemitismus. Als die Grossmutter seinen ägyptischen Nationalstolz verletzt hat, erlaubt sich selbst Galal eine Äusserung, die aufhorchen lässt: „Ich verfluchte Israel, sogar Sadat selbst, zu diesen Leuten gegangen zu sein! Und die Juden überall! Die Juden hier und in Amerika, Grossbritannien oder Argentinien, welche die Ritzen und Winkel der Welt füllen wie Kakerlaken.“ („Days in the Diaspora“, p.90) Galal selbst erschrickt über diese Worte, welche die Emotion aus seinem tiefsten Inneren heraufgetrieben hat.

Im allgemeinen aber versucht Kamal Ruhayyim, Gut und Böse, Schuld und Unschuld auf beide Seiten zu verteilen. Den fragwürdigen Geschäftspraktiken von Galals jüdischen Verwandten stellt er seinen Onkel Ibrahim gegenüber, der „mit einem Fuss im Grab“ verhindern will, dass Galal zu seinem rechtmässigen Erbe kommt. „Er war nur noch Haut und Knochen, in Gefahr, jeden Augenblick den Geist aufzugeben, und dennoch: ‚das Land, das Land‘ bis zu seinem letzten Atemzug.“ („Menorahs and Minarets“, p.132) „Dein Onkel ist ein alter Schwindler!“ sagt einer seiner Untergebenen, „Er kennt keine Religion ausser sein eigenes Interesse! Lass dich durch den äusseren Anschein nicht täuschen noch durch seine drei Pilgerreisen nach Mekka“ (ibd., p.141) Ein anderes Beispiel für solch unkonsequentes, verlogenes Verhalten ist Scheich Munji, der tunesische Metzger und Galals Nachbar in Paris: er hängt unerschütterlich an den äusseren Attributen der Religion, wie Bart, Rosenkranz, der weissen Gallabiya und den Gebeten, die er auswendig hersagen kann. Aber den algerischen Kunden, der das teure Fleisch nicht zahlen kann, jagt er unbarmherzig davon.

Wer ist schuld an der Emigration?

Bei der wichtigen Frage, wie die Emigration der Juden aus Ägypten verlaufen ist und wer dafür die Verantwortung trägt, lässt Kamal Ruhayyim verschiedene Stimmen zu Wort kommen. Die Emigranten, die sich einmal im Monat treffen, um sich ihre Enttäuschung und ihr Heimweh mitzuteilen, streiten über dieses Thema. „Einer verfluchte Abdel Nasser, welcher der Urheber ihrer jetzigen Misere sei, und ein anderer fuchelte ihm mit seinen Händen ums Gesicht herum und sagte, nicht Abdel Nasser, sondern das lausige Israel sei der Grund, und sie hätten mit ihren ägyptischen Landsleuten in Frieden gelebt und ohne Israel sei dies alles nicht passiert.“ („Days in the Diaspora“, p.100f) Yakoub, der Hausherr, erwidert auf Galals Argument, die Juden seien genau so sehr Ägypter gewesen, wie sie Juden waren: „Wenn sie wirklich Ägypter waren, warum hat sie dann die Regierung ständig schikaniert? Die Regierung, nicht die Leute. Die Ägypter sind freundliche Menschen (…) Es war jene verdammte Regierung, die an ihnen dran geblieben ist, bis man sie aus dem Land gejagt hat.“ (ibd., p. 199) Amm Hazzan, der letzte jüdische Händler, der im Judenviertel durchgehalten hat, hält die Emigration für einen Fehler: „Was unterscheidet uns denn von ihnen? Wir gehen auf denselben Strassen, besteigen denselben Bus, unsere Kinder kriegen denselben Schulabschluss, wir lesen dieselben Zeitungen und teilen, was uns glücklich und was uns traurig macht.“ (…) „Ich hab‘ mich abgefunden mit der schlechten Behandlung durch die Männer der Revolution und durch den Haufen derer, die zu Zionisten wurden und anfingen zu sagen: Israel dies und Israel das. Die Funktionäre der Regierung wollten es uns so hart machen, dass wir abhauen sollten, aber sie wollten, dass es aussähe wie unsere eigene Wahl. Und die Zionisten waren schlimmer, indem sie versuchten, Israel attraktiv erscheinen zu lassen, und sagten, es sei das verheissene Land“. („Menorahs and Minarets“, p.218)

Ein palästinensischer Scheich beurteilt die Emigration der Juden aus seiner Sicht: „Sie wurden von Gott geschaffen wie du und ich, und sie haben Anrecht auf Mitleid und Mitgefühl. Aber schließlich verließen sie ihr Zuhause freiwillig. (…) niemand hat sie zur Emigration gezwungen.“ Ganz anders sei es den Palästinensern im Jahre 1948 ergangen: „Einige starben auf dem Weg, ohne auch nur die Zeit für ein Gebet zu haben; wer starb, wurde in eine Grube geworfen mit den Kleidern auf dem Leib, den Schuhen an den Füssen und den Hüten auf dem Kopf. Sie wurden mit Dreck zugedeckt“. („Days in the Diaspora“, p.134f)

Die Träume von der Rückkehr (12)

Galal wollte eigentlich nach mehreren Wochen nach Kairo zurückkehren. Die Sommerferien waren vorbei, und auf ihn wartete ein Platz an der medizinischen Fakultät. Er besitzt ein Flugticket, begibt sich zum Flughafen, setzt sich in den Wartesaal – und erhebt sich nicht von seinem Sitz, als das Flugzeug startbereit ist und sein Name wiederholt aufgerufen wird. Er ist innerlich zerrissen zwischen einem, der abreisen, und einem, der bleiben will. Diese Unentschlossenheit und Inkonsequenz zeichnen den „jüdischen Muslim“ aus. In Paris verheiratet er sich zweimal, obwohl er weiss, dass es beide Male nicht um die grosse Liebe geht. Galal verdient ein schönes Geld, indem er reichen Arabern vom Golf für teures Geld Klamotten andreht, die in Paris aus der Mode gekommen sind. Das ist Business, kein Beruf in des Wortes wahrer Bedeutung. Was auffällt, ist, dass Galal und mit ihm alle Juden und Muslims seiner Umgebung es stets mit Fremden und Eingewanderten zu tun haben, kaum je mit „echten“ Franzosen. Die Diaspora bedeutet nicht Integration, sondern Leben am Rand, unter Seinesgleichen. Sein Grossvater verlässt nicht einmal das Haus: „Was sollte ich denn tun auf den Strassen dieser Stadt? Die Beatle Boys anschauen oder die nackten Frauen?“ („Diary“, p.256) Als sein Grossvater stirbt, hat „die Welt in meinen Augen ihren Glanz verloren“ („Days in the Diaspora“, p.288). Seine jüdischen Verwandten, die ganz aufgehen in ihrem „Business“, sind ihm fremd geworden. So fasst er im Jahre 1985, nach mehr als zehnjähriger Abwesenheit, den Entschluss, nach Ägypten zurückzukehren.

Ein verändertes Ägypten

Galals Eindrücke von der alten Heimat sind durchmischt. Die Nachbarn empfangen ihn herzlich und stehen ihm zur Seite. Aber die Zeit ist an Kairo nicht spurlos vorbeigegangen. Häuser und Strassen sind heruntergekommen, die gemütlichen Läden und Cafés sind Elekronikshops und trendigen Bars gewichen. Manchmal taucht ein Gefangenentransporter auf und verfrachtet junge Männer, die sich der extremistischen „al-Gamaa al-Islamiya“ angeschlossen haben. Die grösste Veränderung der Mentalitäten hat الانفتاح herbeigeführt, die „Öffnung“ der Wirtschaft für Privatunternehmen, die Anwar as-Sadat ab 1975 durchführen liess, und die Möglichkeit zu importieren, was immer der Markt verlangt. Selbst die alte Metzgerei in seiner Strasse sieht Galal „geschändet durch einen neuen Kühlschrank mit dunklem, tiefgefrorenem Fleisch , in Containern hergeschifft aus Australien und Brasilien.“ („Menorahs“, p.31) Als Umm Hassan sich aufmacht zur Pilgerfahrt nach Mekka, rennen ihr die Nachbarinnen die Bude ein und bringen ihre Wünsche vor nach Kostbarkeiten, die sie aus Saudiarabien mitzubringen hat. Die Freihandelszone, die Sadat in der Stadt Port Saïd errichten liess, wirkt auf geschäftstüchtige junge Leute wie ein Magnet, denn dort können sie weit mehr verdienen als ihnen ein Posten im Staatsdienst bieten würde. Galals alter Geschichtslehrer ärgert sich über seine ehemaligen Schüler, die Schwindler und Schmuggler geworden sind: „Das sind nicht mehr dieselben Jungen, die in meiner Klasse an ihren Tischen sassen und zu denen ich sprach über die altägyptischen Pharaonen Thutmose III oder Ramses oder über Präsident Nasser und Saad Zaghloul.“ („Menorahs“, p.26).

Als Galal das Dorf seiner väterlichen Verwandten aufsucht, findet er kaum noch Spuren von den Dingen, an die er sich erinnert. Kairos Vorstädte haben sich in die Landschaft hineingefressen. Die Zuzügler, die vor der Wohnungsnot und den hohen Mietpreisen geflohen sind, bringen einen fremden Lebensstil, und ihre Frauen zeigen sich ohne Scheu und Scham auf den Balkonen. Die alte Mühle, die auch den Ärmsten zu Brot verhalf, ist verschwunden. Der Onkel beklagt, dass Söhne armer Bauern heute Richter, Ärzte und Architekten werden und die Privilegien der Alteingesessenen nicht mehr respektieren. Immerhin wohnt er selbst in einem vierstöckigen Gebäude und hat seinen Dünkel nicht verloren.
Grosse Veränderungen vollziehen sich in den Gebieten, in denen der Tourismus boomt. In Neama Bay bei Sharm el-Sheikh „entsteht mitten im unberührten Märchenland eine andere Welt: Strassen werden gepflastert und Fundamente gelegt für Pensionen, Hotels, Motels und Casinos. Bulldozer tummeln sich hier und da umher: es gab da Sand, Zement und Eisenträger und Männer in Arbeitsanzügen, so weit das Auge reicht.“ („Menhoras“, p.246) Galal überlässt seine Verwandten ihrem Spielcasino-Projekt und macht sich davon, in Gedanken bei seinem Vater, der vor dreissig Jahren nicht weit von hier sein Leben liess.

Wohin gehöre ich?

Die jüdische Familie beendet ihren Besuch in Ägypten. Ob Galal bleibt, ist ungewiss. Sein Traum wäre, biologisches Obst und Gemüse anzubauen, um es in Frankreich zu verkaufen. Dieses Projekt, so sagt er, würde eine Verbindung herstellen zwischen seinen beiden Welten. Auch eine Braut wartet nur auf seinen Antrag, dazu noch eine, die als Agrar-Ingenieurin die allerbesten Voraussetzungen mitbrächte. Trotzdem bleibt Galal unentschlossen bis ans Ende der Romantrilogie. „Zum tausendsten Mal fragte ich mich: ‚Wer bin ich denn? Zu wem gehöre ich? Warum bin ich als einziger von allen dem Schoss einer Jüdin entsprungen und den Lenden eines Soldaten, der im Kampf gefallen ist? (…) ich war nur ein Gast in Ägypten, nur auf der Durchreise; weder mein Heim noch mein Business noch mein Land liegen hier.“ („Menorahs“, p.157f). Aber auch Paris ist keine Heimat. Die Strassen dort haben ihn nicht als Kind gekannt, und die Strassen in Kairo kennen ihn nicht mehr.
Sein Grossvater ist in Paris gestorben. Da die Ägyptische Botschaft es abgelehnt hat, seinen Leichnam nach Kairo zu überführen, wird er auf einem französischen Friedhof begraben. Bei seinem Begräbnis sagen ein jüdischer Rabbi und ein muslimischer Scheich ihre Gebete auf. Das Grab des Grossvaters und jenes von Khadija, Galals zweiter Frau, die kurz nach der Hochzeit verstorben ist, liegen so nah beieinander, dass man von einem Grab aus das andere sehen kann. So darf Galal am einen Grab Suren aus dem Koran rezitieren, während sein Onkel Shamoun am andern Grab aus der Bibel liest.

 Jüdischer Friedhof

Dieser Onkel wird kurz danach in Ägypten sterben und auf dem Friedhof al-Bassatine, dem zweitältesten jüdischen Friedhof der Welt, begraben werden. Galal lädt all seine Nachbarn ein und lässt zwei Koranrezitatoren kommen. Die Anwesenden „vermögen fast nicht zu glauben, was sie sehen: ein toter Jude und ein muslimisches Begräbnis.“ („Menorahs“, p.249) In all seiner Zerrissenheit findet Galal den Trost, dass zumindest der Tod Versöhnung bedeuten kann.

 Foto: The Jerusalem Post

Im Februar 2019 veröffentlichte „The Jerusalem Post“ einen Bericht über ein Treffen des ägyptischen Präsidenten mit einer Delegation amerikanischer Juden, angeführt vom ultra-konservativen Lobbyisten Ezra Friedländer. „Präsident Sisi sprach liebevoll nicht nur über Ägyptens ehemalige lebendige jüdische Gemeinschaft, sondern sagte auch: sollte es ein Wiederaufleben der jüdischen Gemeinschaft in Ägypten geben, würde die Regierung alles bereitstellen, was die Religion verlangen könnte.“ So würden der Friedhof al-Bassatine in Stand gesetzt und die Stätten des jüdischen Erbes restauriert. (13)

Was würde unser Freund Galal, der heute 65 Jahre alt wäre, wohl über eine solche Rückkehr sagen?

Internet-Quellen und Bücher

(1) https://de.qwerty.wiki/wiki/Greeks_in_Egypt

(2) https:// it.wikipedia.org/wiki/Italo-egiziani

(3) Jacques Hassoun, “Juifs du Nil”, Paris 1981

(4) https://www.romeartlover.it/Alessandria.html

(5) https://de.wikipedia.org/wiki/Maimonides

(6) https://en.wikipedia.org/wiki/Yaakov_Abuhatzeira

(7) https://arablit.org/2015/07/09/contested-memories-narrations-of-egyptian-jewish-life
(8) https://www.the guardian.com/boks/booksblog/2014/oct/29/renaissance-arab-jews

(9) Kamal Ruhayyim, geb. 1947, Studium in Kairo, Karriere bei der ägyptischen Polizei und bei Interpol. Seine Trilogie ist auf englisch bei AUC Press erschienen, in der Übersetzung von Sarah Enany.

1. „Diary of a Jewish Muslim“ (2014) auf arabisch 2004 erschienen, unter dem Titel „Erschöpfte Herzen: der jüdische Musliim“ قلوب منهكة : المسلم اليهودي . Unter dem Titel „Der muslimische Jude: Erschöpfte Herzen“ erschien im Verlag Welten eine deutsche Übersetzung dieses Romans.
2. „Days in the Diaspora“ (2012). Das arabische Original erschien 2008 unter demselben Titel : أيام الشتات .
3. „Menorahs and Minarets“ (2017) Das arabische Original erschien 2012 unter dem Titel „Die Träume von der Rückkehr“, أحلام العودة .

(10) und (11) https://en.wikipedia.org/History_of_the_Jews_in_Egypt

(12) Diesen Titel trägt der dritte Band von Kamal Ruhayyims Trilogie. Den Titel der englischen Übersetzung, „Menorahs and Minarets“, halten wir für keine gute Wahl.

(13) „The Jerusalem Post“, 25.2.2019. https://www.jepost.com/Middle-East/ Sisi-If-Jews-return-to-Egypt-we’ll-build-synagogues

(Text Dr. Hans Mauritz ©2019 Abdruck in diesem Blog mit freundlicher Erlaubnis)

Auf der Suche nach arabischen Quellen

Das rettende Archiv

Eine Meldung in der NMZ (Neue Musikzeitung) brachte mich darauf, den Hintergrund eines arabischen Musikers zu eruieren, der in Lissabon mit einem Preis ausgezeichnet worden ist:

Jeder Kandidat und jede Kandidatin hat jeweils 25 bis maximal 30 Minuten Zeit, sich zu präsentieren. Das sind sieben Stunden Musik an einem Tag. Das Rennen macht am Ende ein Außenseiter: Der 1983 geborene Ägypter Mustafa Said, ein blinder Künstler, der zugleich Oud-Spieler, Sänger, Musikwissenschaftler und Komponist ist.

Mustafa Saids vielfältige Karriere ist nicht ungewöhnlich in diesem Wettbewerb, die meisten der Teilnehmer sind auch Forscher, Musikwissenschaftler und Komponisten. Die Wahl der Jury ist dennoch nicht ganz unumstritten, da Mustafa Said sehr eigenwillig musiziert und ihm einige in der Konkurrenz in Sachen Virtuosität überlegen schienen. Technische Fähigkeiten stehen beim Aga Khan Music Award aber erklärtermaßen nicht im Vordergrund.

Quelle: NMZ Newsletter 23. 7. 2019 Gipfeltreffen der muslimischen MusikkulturIn Lissabon wurden zum ersten Mals die Aga Khan Music Awards vergeben / Autorin: Regine Müller / online hier

Wer also ist Moustafa Said?

Der beigegebene Text („Maqam World“ ist eine Webadresse, siehe hier) :

Maqam World says Maqam Bayati „starts with a Bayati tetrachord on the first note, and a Nahawand tetrachord on the 4th note (the dominant). The secondary ajnas are the Ajam trichord on the 3rd note, and another Ajam trichord on the 6th note. These are often used in modulation.“ Pretty technical, but the best way to learn to hear this Arabic „scale“ is to listen to a master improvise upon it. That is what Mustafa does in this video. It’s a real joy to watch and hear him as he works his artistry.

Bei Rodolphe d’Erlanger (La Musique Arabe V, Paris 1949, Seite 232 f) sieht die allgemeine Form des Maqams folgendermaßen aus:

Gut ist der Hinweis, dass die Darstellung des Maqams nicht unbedingt mit dem Grundton beginnt (d), sondern mit der Quarte (g), die echte Kadenz zum Grundton spielt Mustafa Said erst bei 1:27. Ob die zweite Tongruppe, die behandelt wird, „Tchahargah“ heißt (d’Erlanger) oder „Nahawand“ (Maqam World), hängt davon ab, ob man die Terz (f) oder die Quart (g) als Basis betrachtet. Das könnten wir Mustafa Said ablauschen…

Man findet auf Youtube noch eine Reihe schöner Aufnahmen mit Mustafa Said, rein musikalisch bezaubernd, aber visuell – als Film – meist unzulänglich. Einer der nächsten Schritte ergibt einen Blick auf das riesige Arbeitsfeld des Musikers und seiner Mitarbeiter; es ist geeignet, auch fremde Besucher für Stunden und Tage zu fesseln:

Was ist AMAR?

AMAR is a Lebanese foundation committed to the preservation and dissemination of traditional Arab music. AMAR owns 7,000 records, principally from the “Nahda” era (1903 – 1930s), as well as around 6,000 hours of recordings on reel. To safeguard this rare collection, AMAR has acquired a state-of-the-art studio specifically dedicated to the digitization and conservation of this music. In early 2010, AMAR built a multi-purpose hall that hosts up to eighty people.

The launch of AMAR took place on August 17th – 19th, 2009 at its premises in the Qurnet el-Hamra Village, Metn District, Lebanon. Two days of workshops addressed the foundation’s objectives, strategies and technical workflows. Workshops’ participants included musicologists and ethnomusicologists from Canada (University of Alberta), France (Universities Paris IV & X), USA (Harvard University), Lebanon (Antonine University and the Holy Spirit University of Kaslik), Tunisia and Egypt; all of whom form the foundation’s Consulting and Planning Board.

AMAR’s Objectives

  1. Conservation of recorded and printed Arab musical tradition by utilizing state-of-the-art technologies;
  2.  Support of academic research and scientific documentation;
  3. Integration of these musical traditions and their practices in educational programs;
  4. Seeking multi-media dissemination and promotion of public awareness of the Arab music tradition.

(Fortsetzung folgt bzw. sie ist Ihnen ab sofort leicht gemacht, falls Sie es sich selbst erarbeiten wollen: beginnen Sie HIER.)

Ich werde dort fortfahren, wo ich mich zuletzt wohlgefühlt habe. Zurückversetzt in die Jahre nach 1967, als ich an meiner Dissertation schrieb und mir libanesisch-syrische Volksmusik-Formen wie Qaside, ‚Ataba oder Abou-z-zouluf anhand alter Schallplatten erarbeitete. Ich gehe also auf die folgende Seite: hier. Man sieht dort in etwa das gleiche Bild wie unten, aber anklickbar. Der grüne Balken bezeichnet den Vortrag, den man hören kann, allerdings in arabischer Sprache. Der gedruckte Text jedoch präsentiert die englische Version, darin sind die Musikbeispiele mit einer Note gekennzeichnet. Ich gebe nach den folgenden Textzitaten jeweils die genaue Zeit an, bei der man auf dem grünen Balken das Musikbeispiel abrufen kann. In diesem Fall haben wir 5 Musikbeispiele, in fabelhafter Ausführlichkeit! (Wenn alles gut gegangen ist, haben Sie den Link jetzt im externen Fenster.)

1: Furthermore some of the Syriac folk melodies chanted in church can be used to dance dabkaif accompanied by a percussion instrument. This will surely not happen because they are religious: I am not referring to the lyrics, but to the melody that is very close to the folkloric heritage melodies … MUSIK bei 10:49

2: The Lebanese Heritage Musical Forms can be separated into two main categories: those who reached us from the East, and those existing in the mountain. The heritage reached the coastal areas through the migration from the plain and the mountain. ‘Atābā (folk monadic song in colloquial Arabic), dabka or dal‘ōna only reached Beirut lately with the migration to the coast … MUSIK bei 11:58

3: Here is how the Lebanese Bekaa Bedouins we talked about sing it, accompanied by the rabāba (spike fiddle whose front is covered with sheepskin) … MUSIK bei 17:57

4: There are other styles that are also sung to the maqām bayyātī or rather the jins (set of notes forming the basic pattern in Arab music) bayyātī as there is no maqām because the scale is short … MUSIK bei 18:49

5: Here is a sample of the origin of the ‘atāba performed by the Ṭayy tribe so that our listeners can have an idea of how the ‘atāba was sung originally … MUSIK bei 25:58

(Fortsetzung folgt)