Archiv der Kategorie: Alte Musik

Ungelöste Fragen und Übungen

Zum Weiterdenken (und dann vergisst man’s doch)

Ich schlage ein neues Buch auf („Die nackte Wahrheit“ von Hans Blumenberg, Nachweis siehe am Ende dieses Beitrages) und stoße auf Seite 81 im Kapitel „Trostlosigkeit der Wahrheit“ auf einen unnötig schwierigen Satz, den ich vielleicht nur allzu gut verstehe:

Probleme ändern ihre Formeln. Gegenwärtig ist eine gewisse Toleranz gegenüber der Religion unter einem funktionalistischen Aspekt wieder geläufig geworden, der das Phänomen mit dem eindrucksvollen Terminus der ‚Kontingenzbewältigungspraxis‘ rubriziert.

Das trifft mich hart. Weil auch ich mich über Jahre zögerlich auf triftige Gründe für Toleranz in diesem Punkt eingestellt habe. Andererseits: Blumenberg konstatiert nur, er empfiehlt nichts Neues, zumal er Ende der 50er Jahre noch kaum Einblick in die Wahrheit des Missbrauchs hatte. Denn wer will danach im Ernst von wachsender Toleranz reden?  „Probleme ändern ihre Formeln“. Welche Religion hilft uns denn, wenn nach Sinngebung, nach Bewältigung des Wirrwarrs – der Kontingenz – gefragt wird? – Themenwechsel. Bitte um leichteren Stoff.

Nachtrag 26.11.20

Da es im Blumenberg-Zitat um die wieder geläufig gewordene Toleranz gegenüber der Religion geht, passt ganz gut hierher, was ich eben in Faust-Kultur gelesen habe:

Religionen fallen auch unter die Verschwörungstheorien. Ein Ordnungsruf von Thomas Rothschild.

Das klingt fast zu einfach. Es gehört jedoch zweimal einfach zum ganz normalen Diskussionsbedarf, zumal bisher immer gesagt wurde, man solle auf die andern Leute „mit ihren Sorgen“ zugehen und sie nicht einfach nur für blöd erklären, wenn sie sich ungefragt selbst zu „Querdenkern“ erklären. Lesen Sie also Thomas Rothschild, der nunmal wirklich seit mindestens 50 Jahren zu den liebenswürdigsten echten Querdenkern gehört: HIER.

Es geschieht oft beim Zeitunglesen, auch bei Büchern, die man eigentlich nur mal so in die Hand genommen hat, und ja, schon passiert es, man sagt sich, das muss ich mal gründlicher untersuchen, und ja, man vergisst es. Zum Beispiel dieses „und ja“, das mir vor allem in Kurzinterviews mit Fußballspielern aufgefallen ist, sollte wirklich auch mal zum Thema werden, und siehe da, ich lese es bei Hermann Unterstöger, dem immer fesselnden Kolumnenschreiber der SZ, der gewöhnlich bei sprachkritischen Leserzuschriften ansetzt. Jetzt hat er sich dieser Redegewohnheit in seinem Sprachlabor angenommen, und ich bin plötzlich nicht ganz sicher, ob er dasselbe meint wie ich.

Ich meine nämlich, es müsste eigentlich anders dargestellt werden, nämlich mit einem Komma oder Gedankenstrich zwischen den Wörtchen, das „ja“ vielleicht sogar mit einem Ausrufezeichen versehen werden, und – ja! – es würde noch an Nachdruck gewinnen, selbst wenn es zugleich etwas untergeschliffen würde. Das heißt, dieses „ja“ suggeriert eine Selbstermutigung beim Sprechen, als zögere man leicht nachdenklich bei der gewählten Ausdrucksweise und gebe sich einen Ruck, man könnte auch einfügen: „ich sach mal“, es würde sogar an Nachdruck gewinnen. Allerdings hätte man dieses „und ja“ schon so oft gebraucht, dass es rhetorisch keiner Hervorhebung oder Kunstpause mehr bedarf und ja: sogar zu einer völlig beiläufigen Formel mutiert ist. (Ehrlich gesagt: ein paar Tage später glaube ich, Unterstöger nicht ganz richtig verstanden, aber trotzdem keinen völligen Unsinn geschrieben zu haben.) 

Nachtrag 19.02.2021 „Und ja“ bei Bill Gates in der ZEIT:

Übrigens: einer Redemarotte der 90er Jahre begegnet man seit Elmar Theveßens Nachrichtenbeiträgen aus den USA wieder häufiger (bei ihm 5- bis 6mal in einem Kommentar): „ein Stück weit.“ Wozu dient es? Ich hätte ein paar andere Wörter, die allerdings ein Stück weit dürftiger klingen. Auch in der Lanz-Runde, in der etwas anderes nervt: sein ständiges „schlicht und ergreifend“ und auch die drei Finger, die beim Zeigefingerausstrecken auf ihn selbst zurückweisen…

*    *    *

Als ich anlässlich der CD der Schola Heidelberg das Original des Bildausschnitts mit Maria und dem Jesuskind im Stall zu Bethlehem suchte und entdeckte, dass es den Besuch der Heiligen Drei Könige darstellte, fand ich auf Anhieb den Kopf des schwarzen Königs oder „Magiers“ aus dem Morgenland auffällig unschön und argwöhnte, dass dies vielleicht kein Zufall ist, sondern dass der Schwarze gewissermaßen eine mindere Form von Menschlichkeit repräsentieren sollte. Ein rassistischer Zug bei Maler Hieronymus Bosch? Warum nicht?! Die Zeiten waren voller Vorurteile über Menschen, die „anders“ waren.

 

Und wenige Tage später stieß ich in der Zeitung auf eine Bemerkung über den Streit, der die Heiligen Drei Könige im Ulmer Münster betrifft, Vorwurf: der eine, der schwarze, sei rassistisch karikiert, zwar wiederum der Zeit entsprechend, 1925, aber heute eben inakzeptabel. Hier wird darüber auch in der Frankfurter Rundschau berichtet. Es ist ein ähnliches Dilemma, wie man es in lutherischer Zeit bei Darstellungen des typischen Juden mit Spitzhut (zuweilen auch bezeichnet als „Judensau“) findet. Ich habe das mal in einer alten Kirche in Lemgo dokumentiert, zugleich aber auch eine gute didaktische Ergänzung, die dort von der Kirchenleitung installiert war (siehe im Blog hier).

Noch einmal der schwarze König Melchior (oder war es Balthasar? die Hautfarbe ist ja eine ziemlich späte Erfindung) : in einem interessanten Blogbeitrag hier sieht man den schwarzen König eines anderen Bildes von Hieronymus Bosch zum gleichen Thema. (Es hängt im Prado, Madrid.) Über das Äußere dieses Herrn ist wahrhaftig nichts Negatives zu sagen, eine noble Gestalt! Während der weiße alte Mann weiter hinten im Türrahmen offensichtlich nicht angemessen gekleidet ist.

Ich frage mich, wie man sich bei einer Auswahl afrikanischer Foto-Porträts verhält, nach welchen Kriterien wählt man aus? Auch charakteristische Menschen aus Mitteleuropa könnten im Mittelpunkt eines Bildbandes stehen, – wieviel Frauen, wieviel Männer, wie viele davon „günstig“ getroffen, wie viele eher abstoßend? Darf ich überhaupt jemanden nach dem Äußeren bewerten, ist das nicht immer und überall „rassistisch“, diskriminierend, darf man (?) eine Frau als schön bezeichnen? Vielleicht wenigstens im Sport, wo es ja zweifelsfrei um Körper und ihren physischen Wettbewerb geht, seltener um das verbindliche Wesen. Abgesehen von der … doch wünschenswerten Kameradschaft… Ein Teufelskreis!

Eine ganz andere Frage – was ist denn das für ein seltsames, spitzmäuliges Langbein, in der Mitte des Bildes, ganz im Vordergrund? Das hundefreundliche Ehepaar Hütten aus Solingen hat mich aufgeklärt, so dass ich durch den Namen auch auf einen schönen Blog stoßen konnte, den ich nachher noch verlinke, – ich meine dieses rattenschwänzige, absolut fettfreie Lebewesen:

Es ist ein Whippet. Mehr darüber hier , und hier lesen Sie auch – falls Sie diesen Vertreter seiner Rasse äußerlich etwas abstoßend fanden – durchaus beschwichtigende Worte: „Wegen seines angenehmen Wesens eignet er sich auch als Familienhund dessen Jagdtrieb man aber nicht unterschätzen darf.“ Na also!

Mich interessierte – jedenfalls bei der Betrachtung des Ganzen – noch der Unterschied zwischen Altarbild und Andachtsbild, von dem ich einmal gehört hatte, und da fand ich folgende Sätze bemerkenswert:

Zitat

Altarbilder werden tendenziell so konzipiert, daß sie Schranken aufbauen und Distanz zum Betrachter schaffen, durch Geschlossenheit, parataktische Reihung, Monumentalität, Symmetrie, aber auch die Wahrung zeremonieller Formen, wie z.B. Frontalität; angemessen ist architektonischer Schmuck. Die Eigenschaft, ein ‚Gegenüber‘ zu sein, wird durch die Abriegelung und Vergoldung des Hintergrundes verstärkt, Andachtsbilder aber bauen die Distanz zum Betrachter ab: Christus und Maria [hier geht es um eine Kreuzabnahme JR] werden ‚demonstrativ‘ vorgezeigt; deshalb wird oft die Raumgrenze des Gemäldes nach vorne hin durchbrochen, die Figuren werden ihm nahegerückt, er wird also nicht nur angesprochen, sondern nachdrücklich überredet. Vom Bild soll starke Wirkung, ja Erschütterung ausgehen, Mitleid wird eingefordert.

Quelle Robert Suckale: Rogier van der Weydens Bild der Kreuzabnahme und sein Verhältnis zu Rhetorik und Theologie / in: Meisterwerke der Malerei / Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol / Reclam Leipzig 2001 (Zitat Seite 19)

Das folgende Bild aus dem kirchlichen Leben zur Lutherzeit könnte aus heutiger Sicht erschrecken: steht da nicht ein nackter Mann in einem Bottich? – es soll sich um „Taufe“ handeln. Und bei der Predigt liegt die Gemeinde auf den Knien? Die ganze Zeit? Undenkbar aus heutiger Sicht, abgesehen davon, dass es vielleicht gar keine Gebetbüchlein mehr mit Bildern gibt.

Hier geht es nicht um Kunst, sondern um Übung. Und soweit ich weiß, gibt es auch heute noch Gemeinschaften, in denen das volle Eintauchen des Körpers zur Taufe gehört, wie einst am Jordan. Das Christentum kommt aus sehr warmen Regionen, und mittelgroße Taufbecken bei uns könnten sogar beheizt gewesen sein, wie gelegentlich bezeugt ist. Siehe auch hier, etwa in Idensen bei Wunstorf oder auch in Salzwedel.

Mir ging es um die Praxis des Choral-Singens, da meine bisherige Vorstellung offenbar falsch war. Ich hatte geglaubt, die einfachen und höchst wirkungsvollen Melodien seien nach Plan entworfen worden, mit wenig ausladender Bewegung und vor allem einer gleichmäßig ruhigen Silbenfolge, damit die Menge der Gläubigen einen gemeinsamen Takt findet. Weit gefehlt, – wesentlich war der (Schüler-)Chor, auch solistisch gesungene Partien, oft mehrstimmig, wobei die nachzuahmende Melodie auch noch im Tenor, also nicht in der obersten Stimme lag. Die Entwicklung eines gemeinschaftlichen Gesangs lag wohl in der Tendenz, eine „Deutsche Messe“ zu schaffen, in die auch deutsche Lieder eingefügt sein sollten. Von Luther so angestrebt. Aber schwer durchzusetzen, wie man in dem Buch „Luthers Lieder“ von Martin Geck nachlesen kann, drittes Kapitel über sein Liedschaffen im Kontext der ersten reformatorischen Gesangbücher (nach Martin Brecht 1986):

In Wittenberg war die Deutsche Messe zunächst begrüßt worden, aber am 1. Advent 1526 klagte Luther bereits, daß sie ebenso geringgeschätzt würde wie zuvor die lateinische. Die Gemeindeglieder beherrschten die neuen Melodien nach Jahresfrist noch nicht, sie saßen unbeteiligt wie Klötze da. Die Alten sollten die Weisen von der Jugend lernen. […] Aber zwei Jahre später hatte die Gemeinde die Lieder immer noch nicht gelernt und sich auch nicht um die Liturgie bemüht, obwohl die Lieder eigentlich als „Bibel der Einfältigen“ gedacht waren.

Quelle Martin Geck: LUTHERS LIEDER Leuchtürme der Rformation / Georg Olms Verlag Hildesheim etc. 2017

*    *    *

Neulich habe ich mich an eine Tagung der 90er Jahre erinnert, lauter Redakteur*innen, und ich geriet beim Mittagessen an einen musikbetonten Tisch, das Gespräch drehte sich um dies und das. Man kommt unter Musikern verschiedener Genres nicht unbedingt leichter auf einen Nenner als etwa mit Wortleuten, die sich naiver für Musik allgemein interessieren. Mein Beitrag galt dem Thema Gesteine, Edelgestein etwa, ich erzählte, was mir eine Bekannte über die Kraft erzählte, die ihr die Berührung kostbarer oder auch nur gewichtiger Steine vermittelt. Sie glaube fest daran! Und da tönte es mir aus mehreren Richtungen des runden Tisches zurück: „Ja und!? Sie etwa nicht!? Das ist doch erwiesen!“ Es gab nicht die geringste Chance, dem Zweifel eine Lanze zu brechen. Erst später wurde mir klar, dass diese Meinung im musikalischen Szenebereich (Jazz und Pop) gang und gäbe war, ja, sie galt unter den Vernünftigen dort als Common Sense. Ich hatte für solche Themen ein winziges Hintertürchen offengehalten, trotz aller Ablehnung mystizistischer Richtungen à la Joachim-Ernst Berendt und Wendezeit-Capra. Aber z.B. für anthroposophisch getönte Biologie- und Garten-Bücher, da schien es ja eine rein empirisch gestützte Wissenswelt zu geben, in der sich etwa erwiesen hat, dass das spärliche Licht ferner Planeten eine Wirkung auf die Wuchsfreudigkeit von Kräutern oder Sträuchern ausübe. Mein Vorbehalt jedoch: wenn das stimmt, muss ich ebenso jede Menge absolut unbeweisbaren Unsinn glauben. Will ich das? Eines Tages sitze ich auch da, und lasse unablässig eine bunte Kette aufgereihter Steine durch meine Finger gleiten, murmele geheimnisvolle Formeln und warte auf die Levitation meines physischen Leibs. Damals erfuhr man in einer Talkshow sogar von einer Art Orden, der die Sterblichkeit der Glaubensbrüder und -schwestern leugnete: es sei doch nur eine Sache des Willens. Und das gehörte natürlich in den riesigen Bereich der Meinungsfreiheit. Wer wollte schon als intolerant gelten. – Langer Vorrede kurzer Sinn: all dies wurde wieder flagrant, als ich am 29. Oktober in der ZEIT unter der Rubrik Medizin einen Artikel sah mit der Überschrift: Heilsteine werden gegen Husten und Liebeskummer angewendet. Und das soll helfen? Bitte nicht wieder aufrühren: ich bin immun. Und bekomme Recht. Ich habs auf Papier gelesen, ist im Netz leider dank Bezahlschranke nicht ohne weiteres abrufbar (hier). Tenor: „Schon bewundernswert, was die Steine alles leisten sollen. Da liegen sie seit Millionen Jahren so vor sich hin, kommt aber der richtige Moment, wissen sie, was zu tun ist, und übertragen ihre Energie.“ Ja, und an die richtige Stelle. Mir ist das klar, ich werde es nicht abschreiben. Aber der Name des Autors hat mich bewegt, ein Buch zu bestellen, das ich schon vor Jahren hätte besitzen sollen. (Aber den Urologen z.B. hätte es mir nicht erspart, Gottseidank).

Trotzdem würde ich immer gern – sagen wir – einen guten Physiotherapeuten bemühen, weil ich weiß, dass man sich durch mangelnde Bewegung – hier und heute: durch das Stillhalten vor dem Computer – einen völlig falschen Gebrauch des eigenen Körpers angewöhnt. Dann aber die Mühe nicht scheut, zum Arzt zu gehen und ihn nach Tabletten zu fragen, – statt sich auf den Boden zu legen und sinnvolle Übungen zu machen. Oder hier im Zimmer aufzustehen und hinter dem Schreibtisch auf einem Bein zu balancieren, und zwar rechts und links.

https://www.spektrum.de/kolumne/wie-motiviert-man-sich-daheim-zu-trainieren/1792148?utm_source=browser&utm_medium=push-notifications&utm_campaign=cleverpush-1605191407  HIER

Nur zur Sicherheit: es gibt genug berechtigte Anlässe, einen kundigen Arzt zu befragen! Auch diese Antwort gibt das Buch, man muss schon mehr gelesen haben als nur den Titel.

Ich wollte noch erzählen, dass ich auf Grund des ZEIT-Artikels vor einem bestimmten Bücherschrank auf und ab gegangen bin, Abteilung Naturkunde. Oder gleich Weltentwürfe? Steine, Globuli & Co. Soll ich nochmal die Gartenbücher durch schauen? Auch ein Kunstbuch hat mich mal sehr beeindruckt, der Autor hieß Gottfried Richter („Ideen zur Kunstgeschichte“?). Ich glaube aber, dass ich nur das Ägypten-Kapitel gründlich studiert habe, spätestens beim Kapitel „Gotik und Islam“ muss ich geschlafen haben (Seite 126). Und sobald ich andere, wirklich gründliche Bücher besaß (z.B. Otto von Simson: „Die gotische Kathedrale“ oder Hans Belting: „Bild und Kult“), schienen mir diese „Ideen“ überflüssig und von außen übergestülpt. Hier das Inhaltsverzeichnis:

  

Und als Ergänzung der Lebenslauf des Autors aus einer anthroposophischen Quelle: hier. Am schwersten wurde es mir, mich von den biologisch ausgerichteten Theorien zu verabschieden, weil da auch immer Goethe ins Spiel gebracht wurde. Kaum zu glauben: Soviel Sachkenntnis gemischt mit soviel unglaubwürdiger astrologistischer Phantasterei…

 zum Autor Wiki hier

Ach, und dann stieß ich auf ein Buch, das meine Mutter in den 90er Jahren mühsamst durchgearbeitet hat. Ich wusste von dieser Tendenz, aber wie kann man soviel Energie aufwenden, über Monate, – für nichts… Ich habe jetzt jeweils nachts vorm Einschlafen hineingeschaut, es war mir nicht ganz neu, habe tagsüber auch in Wikipedia über Rudolf Steiners Lebensleistung nachgelesen, ich finde daran nichts und wieder nichts. Nur diese Spuren ihrer Arbeit, die Notizen am Rande machen mir zu schaffen, sie wollte es wissen und hat all den Stoff in ihrem Geist nebeneinandergestellt und irgendwie bewegt. Unmöglich sowas zu akzeptieren. Warum kann ich es nicht sofort ad acta legen? Das hat eben mit meiner Mutter zu tun, nicht mit Steiner oder seiner „Geheimwissenschaft“, an der sie unbedingt teilhaben wollte.

Hier war sie am 25.9.81 stehengeblieben, ein anderes Mal wohl am 17.4.89, und sie hatte auf dem unteren Rand ein Fazit notiert: Tröstlich zu wissen, daß alles einen Sinn hat, alles Entwicklung. Auch die Stunde vor meinem Tod ist noch sehr wichtig für mich, immer noch Entwicklung möglich. Auch das Geistige hängt von uns ab. Die letzten Seiten erreichte meine Mutter am 10.11.1991, da war sie 78 Jahre alt und wurde noch 93. Die Frage ließ sie nicht los. Aber wer war denn da eigentlich für Sinngebung zuständig, wieso hat sie ausgerechnet diesem Schriftsteller geglaubt? Ein Rätsel. Was sagt er denn selbst, woher er sein hier niedergelegtes „Wissen“ bezogen hat? Was sind seine Quellen? Im Vorwort stehen ein paar Hinweise, die ich zitieren will, und dabei will ich es bewenden lassen. Den heutigen Nachrichten und der Sendung „Hart aber fair“ habe ich zwischendurch entnommen, dass ich meine Zeit sinnvoller anwenden könnte, als über derlei Texten zu brüten. Und gerade über Sinn zu diskutieren, wäre ich am wenigsten geneigt. Ist es denn sinnvoll, sein Leben mit Musik zu verbringen? (Natürlich! Da gibt es keine Diskussion. Und ich lache dabei.)

Meine Erkenntnisse des Geistigen, dessen bin ich mir voll bewußt, sind Ergebnisse eigenen Schauens. Ich hatte jederzeit, bei allen Einzelheiten und bei den großen Übersichten mich streng geprüft, ob ich jeden Schritt im schauenden Weiterschreiten so mache, daß voll-besonnenes Bewußtsein diese Schritte begleite. (…) Daß man von einer Imagination weiß, sie ist nicht bloß subjektives Bild, sondern Bild-Wiedergabe objektiven Geist-Inhaltes, dazu bringt man es durch gesundes inneres Erleben.

Quelle Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriss / Verlag der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung Dornach/Schweiz 1962 Seite 12

Das ist alles, der Kern der Beglaubigung, – und der Joker ist das Wort „gesund“. Was ist das denn??? So wird der größte imaginierte Unsinn zum objektiven Geistes-Inhalt. Wir haben es mit einem, der schaut, zu tun, er ist ein Seher, wie die Propheten. Da stellt man keine weiteren Fragen.

Neuartige Übung

The exterior of the National Museum of African American History and Culture in Washington, D.C., on February 27, 2020, as seen from 15th Street NW Quelle: hier

Schlimm genug: ich habe das Gebäude bis heute nicht gekannt. Erst dank des Interviews in der Süddeutschen Zeitung mit Elizabeth Alexander.  Wer das ist? Ich weiß es auch erst seit heute:

Übrigens wurde das Gedicht bzw. dieser Vortrag vom 20. Januar 2009, wenn wir Wikipedia glauben dürfen, nicht einhellig positiv aufgenommen, im Gegenteil. Heute also lese ich das Interview. Und notiere:

Zu Anfang etwas über Wörter:

Als ich mich auf unser Gespräch vorbereitete, habe ich mir die deutschen Wörter für „commemoration“ angesehen, für Erinnerung, da haben Sie sehr viel mehr Nuancen als wir im Englischen. Da gibt es das Gedächtnis und das Gedenken, die Erinnerung als Warnung, als Bildung, als Aufarbeitung, als Trauer.

Später:

Stimmt es eigentlich, dass es in ganz Deutschland kein einziges Hitler-Denkmal gibt?

Und:

Hat das Vietnam Memorial den Umgang mit Erinnerung in Amerika verändert?

Schon, aber der eigentliche Wende- und ein wirklicher Höhepunkt war das National Museum of African American History and Culture in Washington, das 2016 eröffnet wurde. Weil das als Gebäude des Smithsonian Institute auf der National Mall auch eine gewisse Beständigkeit hat. Und eine Architektur, an der man nicht vorbeikommt.

Quelle Süddeutsche Zeitung 17. November 2020 „Warum wussten wir das nicht“ Elizabeth Alexander leitet die größte Kulturstiftung der USA. Ein Gespräch über neue und alte Denkmäler, amerikanische Erinnerungen und die Verehrung von Rassisten. (Interview: Andrian Kreye)

Vormerken und nachhören

Falls Sie DIE ZEIT lesen und somit auch das Zeit-Magazin: erwarten Sie sich nichts Nennenswertes von Mozarts Salzburger Geige. Es ist ein gefühliger Artikel, für Musiker*innen ungenießbar. Ich erwähne das nur, weil der Mozarts Wiener Geige betreffende Blogbeitrag so oft abgefragt wird, also: die Wiener Geige. Das liegt aber an dem kompetenten Text eines Musikwissenschaftlers namens Ulrich Leisinger. Das Zitat unterhalb der folgenden Titelzeile betrifft ein ganz anderes Thema, nicht Mozart, sondern die RAF-Jahre.

Auf dünnem Eis – wie viel Zeit lässt uns der Klimawandel noch?

https://www1.wdr.de/daserste/hartaberfair/videos/video-auf-duennem-eis–wie-viel-zeit-laesst-uns-der-klimawandel-noch-100.html HIER (bis 16. November 2021)

Ab 8:30 – 10:30 Klimaschutzaktivistin Carla Reemtsma Zitat: „über Klimaziele zu reden, [ist] noch längst keine Klimapolitik!“ / danach Hannes Jänicke (10:55), Zitat: „Corona ist in dem, was auf uns zukommt, in 30, 40 Jahren, ehrlich gesagt, der berühmte Klacks!“

Hölderlin in der Musik

https://www.deutschlandfunk.de/schola-heidelberg-ensemble-aisthesis-250-jahre-hoelderlin.1988.de.html?dram:article_id=482222 HIER (bis 15. Dezember 2020)

*    *    *

Um nun, wirklich abschließend, auf den Anfang mit Hans Blumenbergs Buchtitel zurückzukommen, – eine insgesamt lesenswerte Seite in der Süddeutschen von gestern, hier nur ein Teaser:

Wer aber auf ideale Nacktheit aus ist, darf nun mal keine konkreten Menschen nötigen, sich auszuziehen: Diese Lektion ist eigentlich wirklich bekannt. Selbst Rubens, heute Synonym für scheinbar lebensnäheste Fleischlichkeit, hatte immer empfohlen, lieber antike Statuen abzuzeichnen. Exakt dafür sind die schließlich über Generationen hinweg zu derart übernatürlichen schönen, derart unnatürlich perfekt proportionierten Traumfiguren ausgeformt worden, dass sich am Ende selbst die Schneider daran orientierten, damit wir Irdischen wenigstens angezogen dem Ideal irgendwie mal nahekommen.

Quelle Süddeutsche Zeitung 20. November 2020, Seite 13: Nacktes Entsetzen Beim entblößten Körper trudelt derzeit die ganze klassische Tradition der Kunst in die Krise / Von Peter Richter

Wie schwierig es ist, die Metapher von der nackten Wahrheit beim Wort zu nehmen, kann man bei Blumenberg gut lernen. Er behandelt sie am Leitfaden verschiedener großer Geister (Nietzsche, Freund, Adorno, Kafka, Pascal, Rousseau  u.a.), und ich wähle Schopenhauer, den Frauenhasser, weil dieser Abschnitt auch mit Bildender Kunst zu tun hat und den Verdacht heimlicher Lüsternheit schnell ausräumt. Gelöst ist die Frage natürlich nicht, sonst hätte das Buch nicht so viele Kapitel.

Schopenhauer schildert ein Gemälde von Lucca [Luca] Giordano im Palazzo Riccardi in Florenz, das als Deckengemälde für einen Bibliothekssaal dient. Auf ihm ist dargestellt, wie die Wissenschaft den Verstand aus den Fesseln der Unwissenheit befreit. Die Wissenschaft thront als weibliche Gestalt auf einer Kugel und hat dazu noch eine Kugel in der Hand. Neben ihr befindet sich die Figur der Wahrheit als nackte. Was würde so ein Bild sagen, ohne die Auslegung seiner Hieroglyphen? Niemand könnte wissen, daß der Mann, der gerade dabei ist, seine Fesseln zu sprengen, der menschliche Verstand sein soll. Niemand könnte ahnen, daß die weibliche Gestalt mit der Kugel in der Hand und auf einer Kugel sitzend, nicht die Weltenkönigin Madonna ist, sondern die neuzeitliche Wissenschaft sein soll. Nur wenn man schon weiß, worauf es hinausläuft, kann man darauf kommen, in der Nacktheit der anderen weiblichen Figur die Allegorie der Wahrheit zu finden, weil zu dieser, im Gegensatz zu den beiden anderen Figuren, das metaphorische Element hinführt, sie sei dann am vollkommensten, wenn sie ohne Hüllen angeschaut werde. Aber auch die Metaphorik ist hier erst sekundär erfaßbar, wenn schon das Gesamtkonzept der Allegorie zur Verfügung steht, das der Figur der Wissenschaft so wenig abgelesen werden kann wie der des Verstandes. Als ästhetische Qualität vermag Schopenhauer die Nacktheit nicht zu sehen, und es ist daher für ihn nur von der Sprache her verständlich, daß die Wahrheit als weiblicher Akt auftritt. Die Sprachen der europäischen Tradition haben damit für die Wahrheit einen erotisch-ästhetischen Zug gesichert, der für den Misogyn nicht selbstverständlich und daher in seiner sprachlichen Vorgabe rein kontingent ist. Dennoch hat es der Vorzug der weiblichen Nacktheit in Verbindung mit dem weiblichen Geschlecht des Ausdrucks der Wahrheit [d.h.: des Wortes ‚Wahrheit‘ JR] in unserer Tradition ungeheuer erschwert, an die nackte Wahrheit als eine erschreckende und unerträgliche Größe zu denken. Um dies zu erreichen, mußte das mythisch-religiöse Moment hinzugenommen werden, von dieser weiblichen Gestalt als einer Göttin zu sprechen.

Quelle Hans Blumenberg: Die nackte Wahrheit / Herausgegeben von Rüdiger Zill / suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2281 / Suhrkamp Verlag Berlin 2019 / Zitat S.125f

Es gibt da keine Abbildung als Nachhilfe für eingefleischte Empiristen, daher meine Ratsuche bei Youtube. Hier mein Screenshot der offenbar im Text beschriebenen Szene:

 und sukzessive der ganze Saal auf youtube hier. Weitere Deutungen stehen uns also offen. Ich bin glücklich, dass der Kreis sich geschlossen hat.

Nachtrag 10.01.2021

Und ja, es gibt keinen Kreis, der sich nicht noch runder schließen ließe, wenn man nur darauf wartet. Der SZ Leitartikel vom vergangenen Wochenende kam wie gerufen (s.a. hier):

Von Corona und Chorälen

Einzigartige Himmelserscheinungen

Die Gelegenheit ist günstig wie selten:

 Ganzer BR-Artikel hier 

Vgl. Screenshot Wikipedia „Stern von Bethlehem“

Was mir eine neue CD bedeutet

   Enno Rudolph siehe hier

 .    .    .    .    .    . Hineinhören hier Zu diesem Werk s.a. hier

Zum Coverfoto der CD (Hieronymus Bosch)

 Wikipedia, mehr dazu hier

Mit den Planeten, die am Anfang dieses Artikels stehen, habe ich begonnen wie meine eigene Oma, wenn sie uns Kindern „den Glauben“ predigte und zum Einstieg gern auf die Blümchen am Wegesrand verwies, die alles bezeugen könnten, was sie sagte. Sie drohte uns selten, wir hatten ohnehin kein Sündenbewusstsein, höchstens mal ein schlechtes Gewissen. Aber Predigten sind mir seitdem zuwider. Das Ende der Zeit! Das jüngste Gericht! Jahrzehnte später habe ich mich noch über das Wort „glauben“ aufgeregt. Nur weil ich nicht alles wissen kann, muss ich doch nicht irgendetwas „glauben“!?

Es dauerte also auch hier eine Weile, ehe ich glaubte, dass dieser Philosoph nicht predigt, sondern Gedanken entwickelt. Sein Einführungstext, dessen erster Teil oben in der Booklet-Übersicht zu lesen ist, endet tatsächlich erst nach drei Seiten und zwar – wie man es schon argwöhnte – bei der „Gültigkeit des Wortes Gottes“, aber ganz anders als man dachte. Denn: „Die Zeit dieser Choräle ist die Zeit der Glaubenskämpfe, und die Zeit der Glaubenskämpfe sind Kämpfe um die menschliche Freiheit.“

Ich denke an die intensive Lektüre des Jahres 2014, als ich ein Buch las über „Das Böse oder das Drama der Freiheit“, und doch erlebte, wie Rüdiger Safranski, der klar denkende Autor, der mich von A bis Z überzeugte, sich im folgenden Jahr ins Abseits bugsierte, als er in der Flüchtlingskrise so hasenherzig Distanz suchte. Heute lese ich sein Buch aufs neue, weil diese CD so vieles aufrührt. Auf der einen Seite die beredte Schönheit der alten Choräle, auf der anderen die Reflexionen, die in all dem das unerhörte Spiegelbild, den Vorschein unserer eigenen Zeit aufdecken. Und da heißt es schließlich nach Orlando di Lasso: „Die Zeit ist böse geworden.“

ZITAT Enno Rudolph:

In den Zeiten gigantischer Katastrophen, ob naturbedingt wie die Tsunamis oder von Menschen gemacht, wird immer wieder die Abwesenheit Gottes erfahren. Die Frage ist auch heute noch immer wieder: Wie kann Gott das zulassen, dass im Jemen die Menschen massenweise verhungern, dass Kinder in den erbärmlichen Flüchtlingslagern Griechenland Entsetzliches zu leiden haben, dass der Mensch im Regenwald Brasiliens seinen eigenen Lebensraum brutal zerstört, dass ganze Völker in Myanmar, die Uiguren in China, in Somalia, in Mali oder im Kongo schlimmeres Leid zu ertragen haben, als es durch Folterungen aller Art verursacht werden kann? Warum der Mensch nicht eingreift, wenn der Mensch so handelt, wissen wir auch von den Chorälen. Er ist böse. Er ist der Verursacher. Oder er ist gleichgültig und satt. Beides sind auch Hilfskräfte des Bösen.

Dies hören wir in Tr.29, und Sekunden später in Tr.30 den alten Tonsatz aus dem Jahre 1609, von Michael Prätorius: „Es ist ein Ros entsprungen“, und in Tr.31 trauen wir unseren Ohren nicht beim „Mirabile Mysterium“.

Ich muss so vieles wissen, weil ich so wenig glauben kann: wie erfand man derart gewaltige, für das einfache Volk geeignete Weisen (Luther?), das Wunder der einfachsten melodischen Bausteine, Tonfolgen, Fertigteile, wie wurden sie aufgeladen durch das Wunder der Harmonie, des mehrstimmigen Tonsatzes (nicht erst bei Bach), und wie konnte dann die Melodie allein eine so ungeheure Wirkung entfalten, sobald sie von einer inbrünstigen Gemeinschaft aufgesogen und ins Gedächtnis eingraviert worden war?

Die Gelegenheit ist günstig wie selten: die CD wird mich einige Zeit begleiten. Letztlich weil das Ensemble unvergleichlich sauber, im wahrsten Sinne des Wortes himmlisch singt, auch: weil die Prosatexte den Kopf freigeben und weil der Sprecher mit einer geradezu zärtlichen Überredungskraft zu lesen vermag. Es aktiviert, es lähmt nicht.

Ich werde hier noch einige Hintergrundtexte oder Links versammeln.

Zur Theodizee hier 

Zum Horizont der Musik-Interpretation finden Sie dies und zu anderen Projekten des Ensembles weiteres hier , darin etwa auch ein Beispiel zum „Sternbild Mensch„.

Über die Herkunft der Choräle bzw. des Chorals überhaupt lese ich von Martin Geck: LUTHERS LIEDER Leuchttürme der Reformation / Georg Olms Verlag Hildesheim etc. 2017 Aber es geht mir nicht um das Konfessionelle, nicht einmal um das Christentum, es geht mir um die Musik und um die Sprache. Es kann nicht schaden, Tr.14, ein so bekanntes Lied, mehrfach zu hören, 4 verschiedene Tonsätze zu unterscheiden, zu lächeln über so wunderbar rührende Zeilen wie: „Daß du da liegst auf dürrem Gras / Davon ein Rind und Esel aß!“ und am Ende das Kapitel 5 im Luther-Buch „Vom Kränzelsingen zum Kindelwiegen“.

 

Als Max Reger die Choräle entdeckte (aus dem Vorwort zu den Choralfantasien Edition Breitkopf 8496 von Hans Haselböck):

Guido Bagier (1923) fügt hinzu: „…die Gewalt der textlichen Unterlage [!] ergreift Reger mit einer solchen Heftigkeit, daß die musikalische Phantasie ganz von deren Vorstellungen erfüllt wird.“

Wunderwerk der Chromatik

Mirabile Mysterium

Extern hier Über das Ensemble: Stile Antico hier

Über den Komponisten Jacobus Gallus hier

 MGG Edo Škulj Hartmut Krones

Jacobus Gallus (1550-1591) war sehr vertraut mit dem kompositorischen Stand der Musik seiner Zeit, besaß z.B. viele Werke von Orlando di Lasso (1532-1594).

Neben derartiger Verwendung von Chromatik als ‚Thema‘ bzw. Kontrapunkt steht eine mehr harmonisch orientierte, eindrucksvoll repräsentiert in Lassos Prophetiae Sibyllarum mit dem beziehungsreichen Textanfang: „Carmina Chromatica quae audis modulata tenore […]“. [JR vgl. hier] Die Farbenpracht des Vokalsatzes, die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der Lasso in einem schwerelos wirkenden harmonischen Raum die Klänge fluktuieren läßt, unmittelbar von C-Dur nach E-Dur, in zwei Schritten von G-Dur nach cis-Moll gelangt, findet in der Instrumentalmusik etwa bei G. Gabrieli und seinem Umkreis ihre Nachwirkung; späterhin begegnet man vergleichbaren harmonischen Erscheinungen wohl erst bei Bruckner wieder.

Quelle MGG (neu) Sachteil Bd.2 „Diatonik – Chromatik – Enharmonik“ Sp. 1227 (Peter Cahn)

*    *    *

Anmerkung bei Dahlhaus „Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität“ Bärenreiter 1968 hier ZITAT:

Ich erinnere mich (leider nur vage) an Adornos Einschätzung der frühen Chromatik (Schütz): sie sei atavistisch und zeuge nicht etwa von einer leittönigen Durchdringung des Materials. Dahlhaus hätte ihm bis 1969 gerade noch widersprechen können.

Wie kam ich drauf? Durch eine einzigartige Weihnachtsplatte (CD Schola Heidelberg) – doch davon später…

„Die Natur erneuert sich“

  Sehen Sie Nr.30 Zum Hineinhören hier

Was ich sonst noch dringend empfehle, ist folgender Zeitungsartikel, – hat zwar mit alter Musik nichts zu tun, aber irgendwie mit der aktuellen Lage in der Vorweihnachtszeit, betrifft Lockdown (nmz): hier.

Ein weiterer Hinweis: der am meisten abgefragte Artikel dieses Blogs ist der über Mozarts Wiener Geige (2017 hier). Heute habe ich Anlass gefunden, ihn zu ergänzen (durch Hinweis auf seine Salzburger Geige), und sitze hier, von Erinnerungen übermannt … (nein Quatsch! ich verlasse den Schreibtisch, um Geige zu üben, aber nicht Mozart, sondern Bach, auf meiner Maggini-Kopie, – meine Mutter hat sie damals bezahlt, und der Kauf hat sich zweifellos amortisiert).

Glanz in E-dur

Eine Sammlung zu Bachs Violin-Partita BWV 1006

 Ohligser Heide JR 5. Nov. 2020

Ein Vergleich der verschiedenen Interpretationen dieses glänzenden Präludiums für Violine (in Erinnerung eines ebenso glänzenden Postludiums am Himmel)  soll nicht einem Ranking dienen oder einem Leitfaden zur einzig „richtigen“ Interpretation, die gibt es nicht: man kann ja eigentlich nichts falsch machen, wenn man dieses Preludio in einem frischen Tempo nimmt und – absolut sauber spielt. Sarasates Perpetuum mobile von 1905 ist ein wohl nicht ganz ernst gemeinter Husarenstreich, ein Temporekord, in dem letztlich – sobald es wirklich schwierig wird – alles gepfuscht und gehuddelt ist. Man muss nur Augustin Hadelichs ebenfalls sehr schnelle „Übefassung“ dagegenstellen. Bachs Orchesterfassung jedoch mit dem Orgelsolo – BWV 29 – sollte man nicht als Maßstab nehmen, allenfalls als Hinweis, dass für diese Musik keine metronomisch verbindliche Tempovorschrift gelten kann. (Immerhin steht ausgerechnet hier „Presto“ drüber.)

Die Form des Stückes scheint auf der Hand zu liegen, die Gliederung ist durch die Tonartstationen, thematisch zusammenhängende Gruppen, Wiederkehr von akkordischen Techniken und Bariolage-Sequenzen deutlich genug. Und doch entstehen viele Fragen in der Binnengestaltung, vielleicht weniger für den Spieler, der sich davontragen lässt, als für den Analytiker, der auf Einzelphänomenen verweilt. Für präzise hörende Menschen, die sich aber vom Anblick der zweieinhalb Seiten in Bachs Handschrift überfordert fühlen, bezeichne ich die Hauptabschnitte in Gidon Kremers Wiedergabe:

 Taschenbuch Insel Verlag 1958 sofort angeschafft von:

Studiert hatte ich die Partita 1954 nach der Bram-Eldering-Ausgabe. Habe mich dabei an bestimmte Kreutzer-Etüden (E-dur und A-dur) erinnert und von ihnen profitiert. Über die Form habe ich noch nicht nachgedacht, die schien mir sonnenklar. Ich glaubte auch, dass ich das Stück schon gut „beherrsche“, die Bariolage-Stelle war mein gern vorgezeigtes Imponier-Fragment, vermutlich habe ich die Saiten-Wechsel nie akkurat gearbeitet, von den Doppelgriffen zu schweigen. Es gab damals keine Maßstäbe, kein Youtube und kaum Schallplatten; wenn niemand in der Provinz (=Bielefelder Schulen) besser war, fand man sich schon recht gut und wurde auch leicht bestaunt.

Gidon Kremer – die äußere Form, ein erster Entwurf mit Hinweis auf die Signal-Funktion der gebundenen Zweiergruppen:

Teil A ab 0:12 / ab 0:35 Bariolage-Technik in E / ab 0:50 Aufstieg & Absturz in E / ab 0:56 Aufstieg & (Absturz) in cis-moll, 1:00 modulierende Weiterspinnung, gebundene Zweiergruppen eingestreut / ab 1:09 Orgelpunkt auf Gis: Akkord-Technik Wechsel Gis-dur cis-moll bis Pseudo-Reprise des Teils A in cis-moll bei 1:21

Teil A‘ ab 1:21 gemischt mit Akkord-Technik nach dem Muster der Takte vorher, Modulation nach A-dur, dann wörtliche Reprise des nach A-dur transponierten Anfangsteils A ab 1:31 / ab 1:43 Bariolage-Technik in E / ab 1:58 Aufstieg & Absturz in A /  ab 2:03 Aufstieg & (Absturz) in h-moll, 2:08 modulierende Weiterspinnung, weitergeführter Aufstieg, ab 2:12 neuer Ansatz Cis-dur, weiterer Aufstieg / ab 2:16 stufenweise Abstieg, gebundene Zweiergruppen (s.o.) kehren wieder, Ziel fis-moll 2:24 /

Teil B ab 2:39 Schlussphase fis-moll: ihr Beginn ist unmissverständlich angegeben durch die Wiederaufnahme des Motivs, das ich oben als „gebundene Zweiergruppen“ bezeichnet habe. Es erinnert von Ferne an die große Schlussphase der Ciaccona. Schließlich die perfekte Abrundung des Stückes durch die Wiederaufnahme und Abwandlung des Anfangs.

NB. Die gebundenen Zweiergruppen sind natürlich auch nichts anderes als eine signalartige Wiederkehr der Ausgangsmotivs, der Keimzelle des Ganzen: der ersten drei Töne in Takt 1, die schon in Takt 2, eine Oktave tiefer, in eine gebundene (erweiterte) Tongruppe eingefasst sind. Danach fortwährend in weiterführenden Varianten präsent, jedoch ab Takt 39 (1:04) und Takt 103 (2:28) jeweils bedeutungsvoll „hervorstechend“. Hochinteressant, wie Bach die gebundenen Sekundwechsel in Terzen verwandelt (Takt 104 und 105), um (?) nun auch für den neuen Formteil in fis-moll (Takt 109) die Saitenwechseltechnik als gebundene Intervallreihe (Ciaccona!) einzuführen, die er ja bisher nirgendwo eingesetzt hat, obwohl es ja schon ab Takt 13 leicht möglich gewesen wäre.

Reminiszenzen: ich bin nicht sicher, ob Bach diese Bariolage-Technik erfunden oder von Vivaldi (?) übernommen hat. An dieser Stelle jedenfalls besonders hervorstechend, weil der Gang über die Saiten nicht gebunden (wie im letzten Satz des A-moll-Konzertes), sondern im brillanteren Strichwechsel genommen wird. Seltsamerweise übernimmt er diese Technik auf dem Tasteninstrument (s.u. Kantate 29), ohne sie etwa idiomatisch abzuwandeln. / Nicht vergessen: der Anfang des Preludio ab Takt 4 erinnert an die Violinfiguren zu Anfang des Weihnachtsoratoriums („Jauchzet, frohlocket“). In D-dur, wie in der Kantate 29.

Gebundene Bariolage-Technik im A-moll-Violinkonzert BWV 1041, letzter Satz, vor dem abschließenden Dacapo, also als Höhepunkt. Manch einer wird die leere E-Saite, zumal wenn sie als Stahl ist, als penetrant in Erinnerung haben, weil sich die hohen, wechselnden Töne des Akkords dagegen nicht durchsetzen können.

Zurück zum Thema E-dur. Hier folgt Shunske Sato, Barockgeige. Niemand sonst spielt so „formalistisch“, als sei das identisch mit „expressiv“, hebt er Kadenzen und kleine Phrasierungen heraus wie sonst niemand. Akzente, Rubati, Luftpausen, das gerade Gegenteil des Schriftbildes von Joh. Seb. Bach. Womit nichts bewiesen sein soll. Einer muss es wagen, so deutlich zu werden!

Die Wiederaufnahme der Substanz des Preludio in der Kantate BWV 29 , ein herrliches Geschenk der Leipziger Stadtgeschichte, zumal mit dem nachfolgenden Eingangschor, dessen Substanz in Bachs H-moll-Messe wiederkehrte (Gratias und Dona nobis pacem). An dieser Stelle sei auch auf die erhellenden Exempel zur Fugengestalt mit Rudolf Lutz und überhaupt das ganze schweizerische „Bachipedia“-Projekt St.Gallen in einem anderen Video hingewiesen: hier.

Dies war zum genauen Mitlesen gedacht: die Aufnahme mit Arthur Grumiaux (wohl 1960). Was mir schließlich zu schaffen machte bei solchen Sechzehntelstücken, – über das vitale Miterleben und die wachsende Freude beim eigenen Erarbeiten hinaus -, war das allzu vage Formerlebnis: nicht zu wissen, warum das Stück so läuft und nicht anders. Warum es so hoch – sagen wir – über der Etüde E-dur von Rodolphe Kreutzer steht, die ich seit damals auswendig kann und sogar gern spiele. Letztlich führt sie nicht zur Analyse der Kompositionstechnik, sondern der Bewegungstechnik des Bogens:

 

Aber heute noch vermisse ich die anderen Analysen, die doch eigentlich zu den einfachsten Aufgaben der Musikstudierenden gehören müssten. Geht es um den bloßen Tonartwechsel, die geregelte Modulation? Oder um das Erlebnis der Kaleidoskopwirkung, der Kombinatorik, der unendlichen Permutation der kleinen Zellen, wie es vielleicht als erster der Komponist Hans Vogt am Beispiel des Presto-Satzes der Sonata in G-moll BWV 1001 zu bedenken gegeben hat:

Quelle Hans Vogt: Johann Sebastians Kammermusik / Voraussetzungen, Analysen, Einzelwerke / Reclam Stuttgart 1981 (Seite 166f)

Andererseits sagt der Autor selbst in dem Kapitel „Analytische Resultate“ (Seite 174):

Eine wesentliche Ursache für das Unbefriedigtsein, das sich am Ende jeder Kunstanalyse einstellt, liegt darin, daß man sich nur noch einem Berg von Einzelheiten, ja einem Scherbenhaufen gegenübersieht. Die Summe der erworbenen Einzelkenntnisse zur Synthese zu bringen, war unmöglich oder wurde einfach vergessen. Wer Kunst betrachtet, darf aber nicht beim §Einzelfaktum stehenbleiben. er muß vielmehr – und dies ist der entscheidende Schritt – sein Wissen einbinden in das Ensemble aller sonstigen Werkdetails. Er muß den künstlerischen Gesamtorganismus zur Kenntnis nehmen. Erst wenn dies geschehen ist, erhält das analytisch gewonnene Detail, das für sich allein immer nur Bruchstück sein kann, seinen Wert und seine wirkliche Bedeutung.

Mir ging es umgekehrt: der große Überblick war manchmal schnell gefunden, aber manches Detail blieb rätselhaft. So im Fall des C-dur-Präludiums BWV 1005, das ich keinesfalls vergessen habe (hier). Und auch auf das Klavier-Präludium BWV 870 (hier) werde ich mit hinzugewonnenen Einsichten zurückkommen. Weiter im zitierten Text:

Nehmen wir ein Beispiel. Eine bestimmte harmonische Wendung, die unsere Aufmerksamkeit erweckte, kommt nur deshalb zur Wirkung, weil sie mit einer speziellen linearen Konstellation zusammenfiel. Vielleicht war diese die Kulmination, vielleicht das Ende einer kontrapunktischen Peripetie, welche jedoch ihrerseits nur interessiert, weil sie innerhalb der Proportionen des Satzablaufs an eine entscheidende Stelle, vielleicht den Einsatz der Reprise gestellt wurde. Diese geschilderte Kombination sämtlicher vorgenannter Parameter aber zeitigt nun weiterhin besondere klangliche Ergebnisse, welche nur in diesem einmaligen Augenblick möglich sind und an keiner anderen Stelle einen Sinn ergäben. Hinzukommen mußte jedoch außer den erwähnten Voraussetzungen noch eine gewisse, nur in diesem Moment brauchbare Art der Themenbehandlung, etwa eine spezielle Engführung oder Umkehrung. Die Aufzählung ist fast ad libitum fortsetzbar. Im Musikwerk bedingt eines das andere; nicht daß, sondern wann, in welchem Zusammenhang und in welcher Dosierung etwas geschieht, entscheidet. Jede Einzelheit enthält ihren Sinn nur aus der Gesamtsicht.

Leider wurden, soviel ich sehe, für eine solche Gesamtsicht bisher kaum praktikable analytische Verfahren bereitgestellt. Das Werk als Organismus „ist ein Geheimnis den meisten“. Und doch haben wir von ihm, von der Ganzheit der künstlerischen Gestalt auszugehen, wenn wir analytische Resultate erzielen wollen.

Für Bach selbst stand die Ganzheit der künstlerischen Gestalt, handwerklich gesagt: die Einheit eines Satzes, offensichtlich niemals zur Debatte. Seine kompositorische Aufgabe sieht er erst dann als gelöst an, wenn er ein organisch durchgestaltetes, in sich geschlossenes, „hinterlassungsfähiges“ Satzgebilde geschaffen hat. Nur so vermag er sich auszudrücken. „Offene Formen“, „gewollte Torsi“ waren nicht eine Sache.

Vielleicht haben Sie die ganze Zeit beim Lesen zugestimmt, wie ich auch. Erst die letzten Sätze lassen mich wieder zögern. (Ich denke an die Zahl der Umarbeitungen, z.B. im Präludium C-dur BWV 870, deren Konfliktstoff ich im oben genannten Artikel außer acht gelassen habe.)

Was mir vorschwebt ist eine visuelle Analyse des Notentextes in der Art, wie ich es vor einiger Zeit im Prélude der Cello-Suite II d-moll versucht habe (siehe hier). Es liegt zur mahnenden Erinnerung vor meinem Schreibtisch. Im vorliegenden E-dur-Fall wäre es aber viel einfacher, weil die formalen Korrespondenzen soviel klarer vor Augen stehen. Schon beim bloßen Hören!

Oben: Suyoen Kim Unten: Hilary Hahn

  • – oder live hier !

Es wäre ganz falsch anzunehmen, die Form eines solchen großangelegten Stückes aus einer uferlosen Improvisationspraxis abzuleiten. Sie ist von vornherein kalkuliert, aber nicht in dem Sinne, wie die Leute meinen, die damit anfangen, die Noten oder die Takte zu zählen und diese Zahlen dann mit irgendwelchen Psalmen zu verbinden. Oder mit Hilfe eines geheimen Buchstabenschlüssels immer wieder Bachs Namen herauszulesen, hier eine 14, dort eine 41, und immer wieder irgendwo ein b-a-c-h, und jede Menge Choralmelodien, um uns auf theologisch oder fast autistisch fixierte Pfade zu lenken. Am meisten hilft es aber wohl, statt Bibel und Gesangbuch zunächst intensiv Bachs Werke zu studieren, und zwar gerade solche Kompendien der Kompositionskunst wie das Wohltemperierte Klavier (mit 24 Präludien und 24 Fugen, die seine gesamte Entwicklung begleiten) und als Ergänzung die Partiten bzw. Suiten für Tasteninstrumente. Und gerade zu dem Wohltemperierten Klavier gibt es vielfältige analytische Arbeiten, die die ernsthaft nachdenkenden Geiger/innen nicht missachten sollten. (folgt) und zwar auch, wenn sich daraus spielerisch nicht unbedingt sensationelle Neuigkeiten ergeben. Diese entstehen im Kopf und werden außerhalb keine Verwirrung stiften!

Oben: Alina Ibragimova

Die bloße Youtube-Sammlung dieses allmählich weiterwachsenden Artikels entstand an einem langen Abend, 1. November 2020, von 22.00 bis 1.00 Uhr. Vieles habe ich unberücksichtigt gelassen. Auch renommierte ältere Aufnahmen (außer Gidon Kremer und – mit Noten zum Mitlesen – Arthur Grumiaux). Auch den in den 60er Jahren allgegenwärtigen Violin-Bach von Henryk Szeryng. Entscheidend bei der Auswahl war für mich eigentlich, dass man die Interpret(inn)en auch sehen kann. Wegen der Körperaktion, der Bogeneinteilung und der Fingersätze.

 Ohligser Heide JR Abend im Wald 5. November 2020

Visuelle Analyse der Form des E-dur-Preludio BWV 1006

Genau genommen ist es nur eine Analysehilfe beim Lesen und Spielen. Man sollte die Noten so vor sich haben, dass je 2 Blätter nebeneinanderliegen und man auch die Blätter III und IV direkt mit den darüberliegenden I und II betrachten und vergleichen kann. Schließlich auch von Teil V leicht zu I und II zurückschauen könnte. (Ideal wäre es, wenn eine neue Abschrift – statt Kopie – die Gliederung der entsprechenden Takte auch visuell im Detail genau passend ordnete. Das könnte für Schüler/innen eine nützliche Arbeit sein.) Was danach noch fehlte – – -, wäre eine detaillierte verbale Beschreibung dessen, was in Teil V geschieht, beginnend mit den gebundenen Zweiergruppen (bezogen auf Teil II T.39ff) und dem „Orgelpunkt“ auf H (bezogen auf Teil II Ton Gis T. 43ff), sowie der Conclusio Teil V zweite Hälfte, beginnend in H-dur (bezogen auf die Scheinreprise Teil III T.55 und die Exposition Teil I). Abgesehen von solchen Korrespondenzen sollte man genau beachten, inwiefern Symmetrien nicht hergestellt werden können bzw. von Bach nicht intendiert sind. Mit Taktabzählspielen darf man anfangen – aber nicht enden.

   

Zur Frage „warum dies alles?“ – ich spreche von meiner etwas obsessiven Arbeit – ein bekannter Aphorismus, auf den auch Hans Vogt anspielte:

Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazuzutun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.

Quelle: Goethe, Maximen und Reflexionen. Aphorismen und Aufzeichnungen.

Zum Schluss ein origineller, rührender Beitrag von Shunske Sato zur Corona-Situation: er versucht – mithilfe einer technischen Prozedur – die berühmte Arie (mit Violinsolo) aus der Matthäus-Passion allein darzustellen: solissimo.

Erbarme dich, mein Gott,
Um meiner Zähren willen!
Schaue hier, Herz und Auge
Weint vor dir bitterlich.
Erbarme dich, mein Gott.

 

Der Reichthum Händels

Heutige Mail von Reinhard Goebel zur ziemlich frühen Aufführungspraxis

In „Studien für Tonkünstler und Musikfreunde, Berlin 1792 “ drucken die Herausgeber Kuntze/Reichardt vier „Briefe aus London“ ab, in denen u.a. von den Concerti Grossi G.F.Händels die Rede ist:

“…Indess setzt diese Art von Instrumentalmusik eine eigene sehr große Schwierigkeit in der Ausführung voraus, die unsere itzigen Instrumentalisten sehr zu vernachlässigen anfangen und die Grundlage zu allem Übrigen seyn sollte.  Vollkommene Intonation und großer Ton. Nur dadurch, daß der Ton jedesmahl seine vollkommene Reinigkeit und Kraft hat, wirkt Musik ganz bestimmt und ohnfehlbar  auf alle Nerven. Und ein Stück von der Klarheit in der Melodie und dem Reichthum und Fülle an Harmonie, wie die Händel’schen Concerto’s, mit vollkommener Intonation und kräftigem Ton von allen Instrumenten vorgetragen, müßten eine weit stärkere und allgemeinere Wirkung auf den Zuhörer thun, als die größten Schwierigkeiten und Mannigfaltigkeiten in Melodie und Figuren je thun können……“

  (RG:  „Intonation“ heißt in diesem Fall – wie bei der Zurichtung der Kiele am Cembalo – „Attacke der Töne“, ARTIKULATION)

Auch in der  „Beschreibung einer Reise 1781“ von Friedrich Nicolai werden Händels Werke erwähnt : es heißt in Band 4 « Wien » auf S. 533/34:

 „ Ich habe verschiedene von Händels vortefflichsten Werken, zum Theil schlecht, zum Theil nur mittelmäßig gut aufführen hören. Ich kann gewiß behaupten, daß ich sie sicherlich nicht in der Manier gehört habe, wie sie Händel gedacht hat. Denn da schon bey Händels Lebzeiten ein Mann wie Corelli Händels nachdrückliche Manier im Vortrage nicht ganz fassen konnte; so ist leicht zu erachten, daß bey dem jetzigen Vortrage mit leichtem Bogen und übereilten Zeitmaaßen Händels pathetische Manier wohl selten erreicht wird. Ich befürchte, es wird mit der musikalischen Aufführung immer so bleiben. Nach kurzer Zeit ändert sich unmerklicher Weise die Art des Vortrags, die mittlere Bestimmung des Zeitmaaßes, und andere Dinge mehr. Ein musikalisches Werk wird also immer, je älter es wird, desto mehr an seinem eigenthümlichen Ausdrucke verlieren….“

*    *    *

JR Erinnerung an eine ebenfalls frühe Phase der alten Aufführungspraxis (1975)

 .    .    .    .    .    . alle Mitwirkenden (auch ich) Ort, Datum, Technik Sätze und Solisten

Vormerken (Weihnachten)

Warum nicht?

Etwas zu hören, zu genießen – und zu denken.

Die Choräle gehören zu den schönsten, die es gibt. Und sie sind schöner gesungen denn je!

Aber glauben Sie nicht, dass ich Ihnen „in dieser schweren Zeit“ ein eher jenseitsgerichtetes Denken empfehle. Denn diese Form der harmonischen Disziplinierung macht uns keineswegs unempfänglich für das andere Ende der Skala, z.B. die ungehobelten, wilden Klänge des Balkans, und wenn es sein muss, verweise ich auf einen Blogbeitrag, der nach wie vor gilt und dazu anregt, das scheinbar Unvereinbare zusammenzudenken. Hier ! Es gibt auch ein Lied dort, das ich nicht ohne Tränen hören kann, was mir aber genauso bei einigen Chorälen passieren kann, die mich in das Umfeld des Weihnachtsoratoriums oder der Passionen von Bach versetzen. So ähnlich denke ich auch an die Außenbezirke von Skopje zurück. Die Welt ist keineswegs in Ordnung, so wie sie ist und wie sie war.

 .    .    .    .    .

Es ist nicht ganz leicht, diese CD zu entdecken. Und wenn Sie hier ⇑ das Impressum anklicken, wissen Sie, warum ich früher darauf komme als mancher andere inhaltlich interessierte Mensch. Ich bin also befangen. Und ich denke bei der Empfehlung nicht unbedingt an die potentiellen Kirchgänger, die jetzt ihren einzigen Gottesdienstbesuch im Jahr durch Corona gefährdet sehen. Sondern eher an säkular gesonnene, bedachtsame Menschen, die sich in einer nie so erlebten, bedrängten Zeit vorfinden und bereit sind, sich durch wundersame Klänge über das Nächstliegende erheben, mit dem Unbegreifbaren verbinden zu lassen.

Auf jpc kann man schon reinhören, zu kaufen gibt es die Aufnahme erst ab 6. November. HIER

Achtung: die von mir auf Verdacht bestellten Exemplare sind schon heute (19. Oktober) bei mir eingetroffen.

Solissimo

Reflexion über eine Bach-Wendung

Ich beziehe mich auf den vorigen Artikel zum gleichen Thema, nämlich zum Adagio der Sonata C-dur BWV 1005 hier , und ich werde mich dabei für immer an den Anblick des Bergmassivs erinnern, das ich beim Blick aus dem Fenster oft in seltsamer Verfärbung oder im Nebeldunst wahrnahm, voller Zuversicht, dass ich dort auch noch das Geheimnis der Takte erfassen würde, die mir unablässig durch den Kopf gingen. Fehlanzeige. Ich habe sie in Ermangelung meines Scanners mit dem Handy herausgepickt, das crescendo-Zeichen habe ich übrigens nicht etwa eingezeichnet, weil ich es notwendig finde, sondern nur weil ich mich daran erinnern wollte, dass Hilary Hahn es realisiert und zwar – wie ich meinte – aus genau dem Grund, der mich in den Tönen ein Rätsel sehen lässt:

Und hier folgt der etwas erweitert wiedergegebene Zusammenhang: es handelt sich also um die Takte 37/38. Sie scheinen mir etwas zu sagen, was ich nicht verstehe, nicht deuten kann, wobei ich mich nicht zu der Ausrede bewegen lassen will: darin zeigt sich eben wieder einmal das Wesen der Musik, dass sie etwas sagt, was man in Worten nicht bezeichnen kann. Ich gebe ja zu, es ist eher eine Geste, ein Augenaufschlag. Oder etwas, was ich aus der Musik kenne, aber hier nicht explizit höre, sondern als Anspielung. Sie schaut mich an, als müsse ich es verstehen. Und das greift mir ans Herz.

Erinnerung an Campra,1973, mit La Petite Bande unter Gustav Leonhardt (und Sigiswald Kuijken!), aufgenommen im Cedernsaal Schloss Kirchheim:

Es war die Anmut dieser Auftaktbewegung mit dem Sprung der kleinen Sexte abwärts. Die Vorstellung einer friedlichen Landschaft, das Wort amoen hätte ich beschworen (statt paisible). Die französische Spielweise, die wir damals entdeckten. Die „unpassende“ Assoziation des Galanten bei punktierten („inegalen“) Rhythmen…

Gewiss, es handelt sich um eine andere Tonart (e-moll) und um ein anderes Intervall im Sprung abwärts. Ich denke aber auch an die unterschiedlichen Möglichkeiten, ein Rezitativ abzuschließen – und offenzuhalten (in der Abschlusskadenz). Zum Beispiel stelle ich mir den Satz „sprachen die Hirten untereinander“ Im Weihnachtsoratorium (WO) eine Oktave höher vor und als Abschluss nicht a“-e“, sondern e“-e“ (auch das gibt es ja gelegentlich in Rezitativen), so dass eine gewisse Ähnlichkeit mit Bachs Adagio-Taktübergang von 37 auf 38 gegeben wäre; die dem Continuo-Abschluss entsprechende Kadenzwendung wäre in Takt 39 gegeben.

 WO Nr.25

Im folgenden Beispiel schaue man mit etwas Phantasie auf die Wendung des Solo-Bassgesangs: „nimm mich zu dir!“ (auch wegen des harmonischen Changierens zwischen Moll und Dur).

WO Nr.38

Dieses und anderes im Sinn, bitte ich um Vergebung für die folgende Variante der Adagio-Takte, – als hätte ich im Sinn, sie der Stringenz zuliebe kürzer zu fassen und auf die unnötige Dehnung der Sequenz nach dem gewichtigen G-dur-Akkord Takt 34 zu verzichten und weiteres mehr. Ich verstehe jedenfalls: Bach will auf eine Art Reprise in C-dur hinaus, um quasi wirklich abzuschließen… (Ich kann mich nicht völlig dumm stellen und sagen: warum ist er nicht zufrieden mit dem wieder erreichten G-dur? nur deswegen muss er doch am Ende des Satzes noch einmal nach G modulieren, um das Tor zur Fuge aufzuschieben, die mit dem Ton G beginnt.)

Ein Versuch (beginnt im letzten Takt der gedruckten ersten Zeile):

Ist das nicht ganz ordentlich – als eine Schülerarbeit? Die Aufgabe wäre gewesen:  komponieren Sie einen Schluss, der weniger sophisticated ist als die Version von Streber Johann Sebastian…

Aber jetzt wäre – ohne Spaß – meine Aufgabe: zu zeigen, warum es keinesfalls genügen konnte, auf diese Weise zu einem logischen Abschluss (mit Überleitung) zu kommen. Obwohl ich glaube, dass 90% aller Musikkenner – wenn sie das Original nicht kennten – beim bloßen Hören mit dieser Fassung völlig zufrieden wären.

(Fortsetzung folgt)

Nachhören im WDR (bis 29.10.)

Festival Alte Musik Knechtsteden: Beethovens Musikwelt – Ein Pasticcio

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Hier

Johann Sebastian Bach
Kyrie aus Messe A-Dur BWV 234
Crucifixus aus Messe h-Moll BWV 232
ab 11:45 Fuga 22 a 5 aus “Das Wohltemperierte Clavier I“ BWV 867
Fuga 22 a 5 für fünf Streichinstrumente, Bearbeiter: Ludwig van Beethoven

ab 17:22 Carl Philipp Emanuel Bach
Allegro moderato aus Sonate III/ Zweyte Fortsetzung von sechs Sonaten fürs Clavier

ab 21:45 Johann Philipp Kirnberger
Auszüge aus “Erbarm dich unser Gott“ für vier Stimmen und Basso continuo

Johann Ries
Agnus Dei und Dona nobis pacem aus “Missa Sancti Huberti“
“Alma Redemptoris mater“

Andrea Luchesi
“O Oriens“ aus “O-Antiphonen“

ab 42:00 Ferdinand Ries
“Lieder von Goethe mit Begleitung des Pianoforte“ op. 32
“An die Erwählte“
“Verschiedene Empfindungen an einem Orte“
ab 59:54 Rondo aus Klavierquintett op. 74

(ab 42:00) Christian Gottlob Neefe
Serenata
“Der Regen strömt, der Sturm ist erwacht“

Joseph Haydn
“Die Seejungfer“ und “Rückerinnerung“ aus “Englische Lieder und Kanzonetten“

Ludwig van Beethoven ab 1:10:18 (andere Reihenfolge)
Rondo C-Dur op. 51,1

ab 1:10:18 Wolfgang Amadeus Mozart
Sinfonie D-Dur KV 97

Antonio Salieri
“Salve Regina“

Johann Nepomuk Hummel
“Ich schwebe auf des Todes Fittich“ aus dem Oratorium “Der Durchzug durchs Rote Meer“

Ludwig van Beethoven
“Ars longa, vita brevis“ – Kanon für Nepomuk Hummel als Abschiedsgruß
Agnus Dei aus Messe C-Dur op. 86

Tobias Koch, Hammerflügel und Cembalo
Kerstin Dietl, Sopran
Magdalena Hinz, Mezzosopran
Andreas Post, Tenor
Carsten Krüger, Bassbariton
Rheinische Kantorei
Das Kleine Konzert
Leitung: Hermann Max

Aufnahme vom 22. September 2020 aus der Klosterbasilika Knechtsteden

Moderation: Claudia Belemann
Redaktion: Richard Lorber

 

Solissimo

Ein Versuch mit Bachs Adagio in C-dur

Thomas Zehetmair oder Hilary Hahn? Es ist nicht zu fassen, wie schön sie spielt, – ohne etwas zu „machen“, es spielt sich einfach von selbst. Was wird sie tun in diesem letzten Takt der Faksimile-Abbildung, wenn zum ersten Mal die Zweiunddreißigstel auftauchen, und dieser verminderte Akkord? Schlägt hier der Blitz ein, wie einst bei Zehetmair?

Ich dachte an ein mächtiges Glockengeläut, an die Sanctus-Rufe der H-moll-Messe, und auch an die dräuende Wellenbewegung der Streicher zu Beginn der Johannes-Passion, obwohl das ja in Moll steht und die Oboen dazu wahrlich zum Himmel schreien. Aber hier hört man auch nichts von strahlendem C-dur, hier türmen sich die Wolken stufenweise empor, majestätisch zweifellos, und im vierten Takt kommt mit großem Klagegestus das Leiden ins Spiel, (übrigens sehr nahe dem Takt 13 im Grave der Sonata II), – wie schön ist das alles, wenn eine Solissimo-Geige, klein wie sie ist, daraus nichts Weltbewegendes macht. Es erschüttert ohne jeden Kraftaufwand.

Wir haben in der Notenwiedergabe nur eine erste Formsuggestion geben wollen. (Achtung: in Takt 22 fehlen die von Bach sehr deutlich geschriebenen b-Vorzeichen vor den Sechzehnteln!)

 Die Welt gerät ins Schwingen

 Der Mittelpunkt G entfalt seine Kraft

 Trugschluss, Coda & Überleitung

Ist das ein Ansatz? Ich vermute, die Begeisterung, die Sympathie für eine bestimmte Interpretation bringt nichts Maßgebliches. Mich interessiert das Werk, nicht eine individuelle Interpretation. Der Anlass, verschiedene Interpretationen zu vergleichen, hätte erst recht kein Ranking zum Ziel. Allerdings begann die Herausforderung mit der neuen CD von Thomas Zehetmair. Ich hatte sie im Ohr, als ich eben behauptete, Hilary Hahn macht nichts, obwohl viel geschieht: pp zu Beginn, ein sehr feines Vibrato, und ein  gelinder dynamischer Zuwachs bis Takt 5, in Takt 6 wieder zum Level 1, und diese neue Zeile in Zweitaktgruppen gegliedert, nach dem Muster der Takte 4 und 5, Konzentration auf die G-Kadenz in Takt 11, deren letzter Ton schon subito p, der Sprung „von oben“ in den „Cis“-Takt 11 sehr sanft, ein mahnender Einschub mit sehr sorgfältig bogenförmig gestalteter Kadenzwendung über den Taktstrich 13/14 hinweg. Takt 15 als Neubeginn, dynamisch an Takt 1 anknüpfend. Der Ton G hat eine besondere Bedeutung (abgesehen von seiner natürlichen Dominantfunktion), behaupte ich jedenfalls in aller Un-Vorsicht, – es ist der Ton des Heiligen Geistes: das dem Pfingst-Choral „Komm, heiliger Geist“ nachgestaltete Fugenthema beginnt mit diesem Ton (meidet den Grundton), und der letzte Takt der Fuge hebt ihn besonders hervor mit der Gestalt des Akkordes C-E-c-g : die leere Quinte darf im Raum weiterschweben. Einzigartig!

Zurück zum Adagio: Was hat es mit dem Einwurf des Taktes 12 auf sich? Es ist zweifellos die Figur einer Interruptio, – der Abschluss der Kadenz wird verweigert, stattdessen erfolgt eine Interjektion, ein Weheruf. Bach hat ihn in einer Kantate folgendermaßen realisiert:

 Kantate BWV 102

An anderer Stelle ist von „Erd und Abgrund“ die Rede (Motette „Jesu meine Freude“):

Es war dieser Takt 12 in Thomas Zehetmairs C-dur-Adagio, der mich einst elektrisierte. Unerhört! Und völlig einleuchtend. Das war 1982. Schon vorher hatte mich Gidon Kremers Bach-Interpretation von der exemplarischen Aufnahme Szeryngs gelöst. Hier aber kam einer, der die Affekte der Bachschen Musiksprache mit Vitalität, ja mit einer gewissen Wildheit umsetzte, an dieser Stelle mit einem subito forte, das man allenfalls nur dem Bach-Sohn Emanuel zugetraut hätte… aber hinter dieser Interpretation des 20jährigen Geigers aus Salzburg, so hatte ich gelesen, stand niemand anders als Nikolaus Harnoncourt, sein Mentor in Wien. In der neuen Aufnahme – nach 38 Jahren – hat ihm der einfache emotionale Gestus nicht genügt, er nimmt den Ton b stark und den Ton cis noch stärker, und anderes wieder anders, ich würde sagen: mich stört nicht die Heftigkeit, sondern der häufige Absturz ins Unhörbare. Er hat sich offenbar bei allem etwas gedacht , und er zeigt es: die Kunst der unterschiedlichen Akkordbrechungen, die im weichen Arpeggio vorgenommene zarte Aufreihung der Einzeltöne, oder die erstaunliche Kompaktkonsonanz des Dreifachklanges, ohne ihn zu quetschen. Ab Takt 23 könnte man Akkord für Akkord analysieren und jeder ist anders, jeder ein bogentechnisches Wunder. Er zeigt uns darüberhinaus, dass bei zwei aneinandergebundenen, gleichlangen Tönen der erste als starker Ton, der angehängte aber wie eine unbetonte Silbe nachfolgt, in Ordnung, allerdings übertreibt er auch hier: oft hört man den Ton überhaupt nicht mehr, gewiss, wir ergänzen ihn intuitiv, entbehren ihn aber nichtsdestoweniger. Und – um ein weiteres Beispiel zu nennen – die Zeile, die mit Takt 30 beginnt, lässt eine schönklingende Sexte mit den Tönen a und fis hören, das angehängte Sechzehntel a aber geht vollständig verloren (es fehlt uns!), und dann veranlasst die Bordunwirkung der leeren G-Saite über 10 einzelne Viertel hinweg den Künstler offenbar, hier nun wieder jeden Einzelakkord für sich zu betonen, – ich will angesichts seiner Leistung nicht von mir reden, aber ich würde auf den Genuss seiner Klangtrophäen inklusive Darmsaiten-Qualität lieber verzichten. Ja, denke ich endlich, ich habe alles gut verstanden, und da wartet dann schließlich noch der Leuchtturm am Ende des Teils B, der diesseitig starke G-dur-Akkord Takt 34 auf Zählzeit 1. Und zum Ausgleich beginnt Teil C  mit einem Nichts von Halteton wie aus dem Jenseits. Nein, ich brauche eigentlich doch Töne, keine Phantome.

Letztlich muss ich inzwischen meine vorläufige Gliederung des Adagios korrigieren, denn die dritte Zeile des ersten Teils wird ja wieder aufgegriffen: der Kadenztakt 11 entspricht dem Kadenztakt 39, dem Einwurf von Takt 12 entsprechen die drei Takte 40, 41 und 42, und die Takte 43-44 sind eine Abwandlung der Takte 13-14.

Das heißt: wir haben eine kleine Reprise, die unauffällig wie ein Abgesang in Takt 34 beginnt und (von Zehetmair wieder vorsorglich markiert) die Stelle von „Erd und Abgrund“ (Takt 40) auf drei Takte dehnt, die Abschluss-Kadenztakte in die Tiefe legt (Takt 43/44). Sodann folgen noch drei Takte modulatorische Überleitung, – das Tor zur Fuge.

*    *    *

Sollte ich beschreiben, wie Christian Tetzlaff diesen Satz spielt, würde ich vielleicht sehr verkürzt sagen „so ähnlich wie Hilary Hahn“, den Takt „Erd und Abgrund“ nimmt er fast zärtlich (obwohl er ganz sicher die frühe Aufnahme von Zehetmair kennt). Auch er hat die Bachschen Solissimo-Werke zweimal aufgenommen, und er tut es in der frühen Aufnahme (Virgin 1994) ebenso wie in der jüngeren (Hänssler 2005). Vielleicht würde ich seine Akkordtechnik untersuchen, er verwendet als einziger so ausgiebig die Rückwärtsbrechung, sehr geschickt aber doch auffällig etwa ab Takt 22. Heute versteht man nicht mehr, warum Georg Kulenkampff (allerdings nur auf die Fugen bezogen) das Rückarpeggieren prinzipiell monierte, weil es den Fugenimpuls störe und „die Darstellung mit einer nicht von innen, sondern nur von außen kommenden Unruhe“ erfülle. Das war 1952 („Geigerische Betrachtungen“ Seite 55) , und seit damals hat die auf Bachs Werke bezogene Violintechnik unglaubliche Fortschritte gemacht. So kann gerade diese Arpeggio-Technik bei Tetzlaff als weiche Verzierung gelten und die nach der Kadenz in Takt 13 erstmalig auftauchenden Terzparallelen in Takt 22 gebührend ausstatten. Während z.B. die wunderbar geigende Isabelle Faust auf das Ausspielen der ersten Terz in Takt 22 und 23 verzichtet, um das obere Quart- bzw. Quintintervall in Ruhe auszukosten. Wenn ich micht nicht irre, entschließt siensich in diesem Satz nur ein einziges Mal zu einem Arpeggio in Gegenrichtung, und zwar in Takt 41 bzw. sie nimmt die beiden oberen Töne des Akkords vorweg und konzentriert sich danach allein auf den Basston A, von dem aus die folgende Sechzehntelgirlande weiterführt.

Übrigens nimmt sie den „Erd und Abgrund“-Takt deutlich im Ansatz stärker, um dann erst nachzugeben zugunsten der gedämpften G-moll-Kadenz. (Bemerkenswert, dass sie vorher die Achtel der Sextparallelen in Takt 11 „zu schnell“ spielt, vielleicht als Vorahnung, dass diese Kadenz noch zu keinem guten Ausgang kommt.)

Ich kritisiere die Meistergeigerin nicht: wenn man die ganze Sonata BWV 1005 mit Isabelle Faust hört, kann man nur staunen, was für ein gewaltiges Werk, was für ein Wunderbau das ist, und dass alles stimmt: von der Majestät des ersten Satzes bis zur atemberaubenden Geschwindigkeit des letzten. Es gibt kein Problem, und man ist glücklich, dass Bach solche Werke für die Geige geschaffen hat (und nicht – oder nur  ganz andere – für die Orgel). Es gibt nichts Größeres, nicht einmal eine zweite Konzertfuge von Bach in dieser Länge!

Nun wird einem die Größe dieses Werkes auch aufgehen, wenn es von einem der technisch versiertesten, zudem temperamentvollsten Geiger, Gil Shaham, realisiert wird; dessen Interpretation (BR Klassik) scheint jedoch vom Zufall gelenkt: das Adagio deutlich zu schnell, dafür mit Riesen-Ritardandi zwischendurch, die Fuge viel zu lustig und dadurch selbst in technischer Hinsicht nicht überzeugend; viele Akkorde wirken ziemlich rabiat, und das braucht der „Heilige Geist“ der Fuge beileibe nicht, wenn man auch sagt, er wehe, wo er will.

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Das Adagio der C-dur-Sonata in der Ausgabe von Sol Babitz (1972)

Ich komme auf diese Ausgabe zurück, weil sie das Verständnis der Form unterstützt, indem unsere hypothetischen Sinnabschnitte nun auch auf Zeilenanfänge fallen – und zwar  nicht nur Takt 16, sondern auch Takt 34; darüberhinaus stehen auch die Parallelstellen Takt 11 und Takt 39 am Zeilenanfang, so dass ins Auge fällt, weshalb wir dem dritten Teil (ab Takt 34) Reprisencharakter zugestanden haben. (Wenn auch nicht so offensichtlich wie im Adagio der Sonata I – dort ab Takt 14 – und im Grave der Sonata II – ebenfalls ab Takt 14.)

Nebenbei: es sind Fehler drin, z.B. Takt 10 letzte Sechzehntel sind gleichmäßig, nicht punktiert (zwar ist dort radiert worden, aber ohne eine den Rhythmus betreffende Folgeaktion). Takt 11 letzte Note steht bei Bach als Achtel notiert und sollte auch so gespielt werden, auch wenn es im Paralleltakt 39 anders aussieht; so parallel ist er nun auch wieder nicht.

Der Vollständigkeit halber erwähne ich an dieser Stelle, dass es die merkwürdige, sehr kunstvolle Clavierfassung BWV 968 des Violin-Adagios gibt, von der man nicht weiß, wer sie angefertigt hat. Für mich ist es sozusagen ein anderes Werk, mit dem ich mich nicht anfreunden mag. Es ist durch Kunst banalisiert. Ich kann aber nicht ausschließen, dass es mich begeistert hätte, wenn es die originale Violinfassung nicht gäbe. Man findet es leicht bei IMSLP (Petrucci), ich zeige nur eine Hälfte und lege sie auf die Seite…

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Man könnte es überflüssig finden, wenn ich mich besonders von dem zweiten Teil des Adagios herausgefordert fühle (mit der ungestellten Frage: was ist das geheime Formgesetz, dass diese taktweisen harmonischen Fortschreitungen antreibt?). Ich weiche vorübergehend aus und gebe die klare Übersicht über die Anlage der nachfolgenden Fuge und zwar so, wie sie Hans Vogt in seinem Buch über „Johann Sebastian Bachs Kammermusik“ skizziert hat. Ich würde vielleicht nur eines ändern: nämlich die Teile durchgehend nummerieren, würde auch keinen scheinbar weniger gewichtigen als „Divertimento“ bezeichnen, also von I bis VII (natürlich würde ich nicht vergessen, an die 7 Gnaden des Heiligen Geistes zu erinnern, dies aber als nicht beweisbares Gespinst auf sich beruhen lassen).

Quelle Hans Vogt: Johann Sebastian Bachs Kammermusik / Voraussetzungen, Analysen, Einzelwerke / Philipp Reclam jun. Stuttgart 1981 / ISBN 3-15-010298-7

Skizze zur Form des Mittelteils

Seitenblick (morgens um 9 Uhr)

Der Schlern im Frühnebel, Blick von Obervöls nach Osten, 20.09.2020

Bach Mittelteil des Adagios BWV 1005, Takt 15 bis 34 („il filo“)

Tagesarbeit mit Bach

Der Schlern am Abend

Man wird es nicht glauben: aber die obige Notation ist ein Ergebnis stundenlangen Nachdenkens und immer neuer Ansätze und Deutungen. Mit dem Stichwort „il filo“ erinnere ich mich an Mozarts Schaffensprozess, der aus dem ersten Entwurf konsequent einen „Faden“ entwickelte, und nur dieser musste dastehen, wenn er ein Werk als „komponiert“ betrachtete (siehe auch hier, gegen Ende). Bach muss keineswegs ähnlich vorgegangen sein, aber mir schien eine solche „Kurzschrift“ hypothetisch sinnvoll, wenn ich ein komplexes oder für mich undurchsichtiges Werk zu erfassen suche. Ich verknappe also den Notentext auf das, was ich als Erinnerungswert unbedingt brauche, um die Intentionen eines Verlaufes zu verstehen. In diesem Fall reagierte ich mit ungläubigem Staunen, als sich immer deutlicher herausschälte, dass der Mittelteil des Adagios sich folgendermaßen in Taktgruppen gliedert: 3 + 4 + 5 + 4 + 3.  So entstand die obige schriftliche Gestalt, die allerdings noch zu verifizieren ist.

Aus den frühen Studien Christoph Bergners zu den Präludien des Wohltemperierten Klaviers habe ich gelernt, wie Bach zuweilen absichtlich den allzu glatten Proportionen ausweicht, sie geradezu im Arbeitsprozess untergräbt durch „Dehnungen“ oder Verkürzungen. Mein erster Versuch galt dann dem Praeludium der Cello-Suite II, dessen Form ich in einem erhellenden Schriftbild darstellen wollte, statt mir mit Worten wie „improvisationsähnlich“ auszuhelfen, siehe hier.

Im Fall des vorliegenden Adagios muss ich „meine“ Gliederung Gruppe für Gruppe begründen können. Ich begann – mit immer neuen Versuchen – herauszuhören, ob eine Phrase, ein Motiv, eine Notenfolge für sich steht oder weiterstrebt, oder ob bereits ein reflexives Abklingen einsetzt. Was in diesem Fall manchmal schwierig zu entscheiden ist, weil der Eindruck eines gleichmäßigen Schwingens dominiert. Das was man als Interpret daraus macht, kann künstlich projiziert sein, z.B. wenn Hilary Hahn in dem Takt 38 – der allerdings hier noch nicht zur Debatte stand – auf der gehaltenen Sexte h/g ein ausgeprägtes Crescendo bringt, das zur C-dur-Kadenz hinzielt, aber doch sehr un-Bachisch wirkt. Dass dieser eine Sextklang länger gehalten wird als jeder andere, hat mit der bedeutungsvollen „Süße“ der ganzen Wendung zu tun, die eben den G-dur-Höhepunkt „im Herzen bewegt“.

Adagio Mittelteil (Takt 15 bis 34) Rh = rhythm. Figur punktiertes Achtel plus Sechzehntel, jeweils 2- bis 3mal hintereinander. B=Bass etc.: tatsächlich ist das Adagio dreistimmig gedacht, trotz der vierstimmigen Akkorde; ganz deutlich in den „Soli“ Takt 40-42.

3 Takte ab T.12 Bassgang pro Takt G – A – A / Rh taktweise aufwärts von Bass zu Mittelstimme  u Sopran /

4 Takte ab T.18 Bassgang pro Takt A – H – C – B  (erweitert) / taktweise von B zu S zu M zu S, Akkorde in M u S sukzessive verschärft, Dom.sept.akk. in Richtung F-dur

5 Takte ab T. 22 Terzenmotiv F-dur, echtes Motiv über zwei Takte, zugleich Modell für die nächsten zwei Takte d-moll, 1 Zusatztakt Dom.sept.akk. in Richtung C-dur

4 Takte ab T. 27 Sextenmotiv C-dur (mit Neigung F) , Motiv über drei Takte + 1 Takt Dom.sept.akk. in Richtung G-dur

3 Takte ab T. 31 Orgelpunkt G 10mal G-dur (mit Neigung C)  + eine melodische Aufwärtsbewegung bis G-dur-„Abschluss“ (wird im letzten Teil exzeptionell fortgesetzt, Takt 38)

Adagio Letzter Teil (Takt 34 bis 44 erstes Achtel)

Niemand unter allen Interpret/innen spielt nach dem großen G-dur-Akkord – der geigerisch das Einfachste ist, was man als Akkord anbieten kann – weiter, als sei nichts geschehen. Und was kommt – ist auch nur eine Sequenz, eine Sequenz des rhythmischen Motivs, das wir nun -zigmal gehört haben, immerhin zum erstenmal unter einem Dach von zarten Haltetönen, g – f – e / → a, und mündend in eine überirdisch schöne, abgewandelte Form, eine Geste, die nach Deutung verlangt: der höchste Ton des Stückes wird erreicht, der nur ein einziges Mal vorkam, und zwar in Takt 9 innerhalb einer Figur des Leidens, der Seufzer-Figur, die dort in einer Steigerung von Takt 5 über Takt 7 zum dritten Mal vortragen wurde. Hier in Takt 37/38 wird die erlösende Antwort gegeben.

Völs 22.09.2020 um 4:30 h

Es ist mir aufgegangen, dass ein entscheidender Punkt die Verwandlung des Rhythmus ist: aus dem „normal“ punktierten wird in Takt 37 ein „lombardischer“, und zwar demonstrativ: vor dem Sechzehntel-a steht eine Sechzehntelpause und macht aus dem rhythmischen Glied, das auf Zählzeit 1 in dem Takt vielleicht noch jambisch gedacht ist, ein lombardisches. Daher auch die unerhörte Wirkung der (von Hilary Hahn instinktiv mit einem Crescendo versehenen)  „langen“ 1 am Anfang des Taktes 38; sie ergibt mit dem nachfolgenden Achtel (a-moll-Akkord) einen verdoppelten Trochäus, kombiniert gar (auf Zählzeit 3)  mit einem „falschen“ Iambus, besser gesagt: dem lombardischen. Unvergessen ist die rhythmische Verwandlung der Zweiergruppen von Takt 4 zu Takt 5. Ich denke an die Rekapitulation dieses Taktes aus dem Grave der Sonata II, und ich denke an den herrischen Rhythmus der Allemande in Partita I.

Eben war ich aufgewacht (nach vielen vergeblichen Suchaktionen gestern Abend) mit dem Gedanken an ein bestimmtes Bachsches Praeludium, das ich aber nicht ganz aus dem Gedächtis rekapitulieren kann. Was mir jederzeit präsent ist, ist die überirdische Wendung vom Ces-dur-Trugschluss über as-moll zum Sextakkord in Es-dur (mit dem G im Bass). Morgen früh werde ich es über IMSLP aufrufen (im Gedenken an Paul Badura-Skoda, der es in Bach-Interpretation [1990] so intensiv analysiert hat), fotografieren und hier einsetzen:

(es war ein Erinnerungsfehler! WTK I BWV 853 es-moll)

EXKURS

Also Fehlanzeige, was die gesuchte melodische Wendung angeht (C-dur-Adagio Takt 37 zu 38). Um so erstaunlicher für mich, dass wieder – wie dort – der gespreizte Septakkord F-e-a eine Schlüsselfunktion spielt: so hier im es-moll-Praeludium als Ergebnis der Dominant-„Auflösung“ in den Trugschluss (T.28 in 29), Ces-(es)-b-es, und so auch in dem g-moll-Adagio BWV 1001: Takt 3, wo man allerdings die seit bald 300 Jahren übliche Korrektur des dritten „Bass“-Tones in der Bach-Handschrift von E zu Es akzeptieren muss, – worüber ich im Blog schon allerhand Worte verloren habe, seit durch Isabelle Faust die buchstäbliche Lesart mit E wieder Schule gemacht hat.

Übrigens ist es nicht abwegig, diese Schlüsselwendungen zu vergleichen, da – abgesehen von Dur und Moll – wieder der geigerische Grundakkord (leere G- u D-Saite plus 1. Finger auf A-, 2. Finger auf E-Saite) den Ausgangspunkt des Tonsatzes abgibt. In (dorischem) G-moll mit dem Bass-Gang G-F-Es-[D], in G-dur mit den modulierenden Sequenzen E-D-Cis-A / D-C-H-G / C-B-A-G / F – – – E – D – – C.

Zurück zur motivischen Gestalt der Adagio-Takte 26/27 der Sonata C-dur!

Wir gehen also aus von dem eben so genannten „gespreizten Septakkord“, sehen den vom Trochäus zum Jambus umgewandelten Rhythmus, die Sextparallelen und den Sprung vom hohen C (+e) abwärts zum G (+h), welche Tonbuchstaben ich nicht als „heiliger Geist“ lesen möchte, weil die Musiwissenschaft kein Ratespiel ist. Obwohl ich mich frage, ob es letzlich etwas anderes ist, wenn ich in Bachs Werk nach einem ähnlichen, jedoch mit Text verbundenen Motiv suche, das – freundlich (aktiv) von oben nach unten gewandt – glaubwürdiger mit einer veränderten Bedeutung belastet werden kann, die ich freilich in diesem Motiv längst fühle. Und es korrespondiert mit dem Klagemotiv, das wir in Takt 7 als Ziel der scheinbar in sich selbst pendelnden Trochäen erlebt haben…

Im Augenblick geht mir ein einziges Motiv nicht aus dem Kopf, das aus einer Oper (?) von Campra stammt; allerdings springt es nach dem Dreitonanstieg a-h-c zum E hinab. Spitzenwendung später „l’amour, l’amour“. Eindeutig a-moll. (Es muss „Europe galante“ sein, ich denke an unsere Aufnahme mit René Jacobs… nein, siehe Link). – „Zufall“. Was tun? Der Nachweis einer Figur wie der Pathopoeia würde gar nichts bringen. Jeder Komponist kann ein bisschen mit vorgefertigter Chromatik hantieren. Aber erst die Konstellation der Elemente bringt die Wirkung genialer Kunst hervor. Zum Beispiel in der ersten Zeile des Adagios wirkt der Seufzer-Takt erst dadurch großartig, weil ausgerechnet er das prächtig anwachsende Bimbam krönt und die Kraft der gleichmäßigen Bewegung ins Tragische überführt. Und die hier behandelte Lösung der Ereignisse in Takt 38 wirkt dadurch erlösend und ergreifend, weil andere großartige Lösungen schon vorher angeboten wurden, z.B. die mit Terzen (Takt 22) und die mit Sexten (Takt 27).

(Fortsetzung sollte folgen)

Nachtrag am 8. März 2021 Hören und staunen!

Ich habe genug

Eine Assoziation

 Quelle ZEIT-Magazin 3.8.2020 Nr.37 Seite 61

Es ist nur die eine, die Frage-Hälfte der Rubrik, zu der im Original die Antwort des Psychotherapeuten Wolfgang Schmidbauer gehört; beides ist immer interessanter Lesestoff. (In diesem Fall gibt er der Frau namens Nadine recht, aber seine schöne Begründung will ich hier nicht verraten.) Ich benutze die Gelegenheit, um eine eigene Assoziation anzuknüpfen. Ich gebe Nadine ebenfalls recht, bin aber irritiert, weil da steht, diese Kantate – es ist  BWV 82, eigentlich „Ich habe genung“ , – werde von einem Countertenor gesungen. Ich habe die Eingangsarie selbst einmal bei Frau Becker-Überhorst studieren müssen und zwar in Bassbariton-Lage, kannte also das Stück ganz gut, als wir es in Esslingen aufgenommen haben. Das muss ganz früh gewesen sein, um 1965, Collegium Musicum des WDR. Mit Barry McDaniel, Bariton, und Helmut Winschermann, Solo-Oboe. Der Sänger war erfrischend unkompliziert, sang lebendiger als es damals in der Kirche üblich war, und als Winschermann die letzte Arie („Ich freue mich auf meinen Tod“) anstimmte, machte McDaniel im Altarraum Hula-Hoop-Bewegungen mit der Hüfte und scherzte: „Ja, man muss das tanzen!“

Also war mein erster Griff nach dem Smartphone um nachzuprüfen, ob es diese Kantate auch mit Countertenor gibt, und in der Tat: nach einer Version mit Peter Kooy (Bass) und Herreweghe ( hier ) wurde auch eine mit Andreas Scholl (Countertenor) und dem Kammerorchester Basel angeboten. Dieselbe Tonart, wie ich höre, also im Gesang eine Oktave zu hoch. Ist das erlaubt? Mir passt es nicht, – kann man sagen, dass es darüberhinaus auch noch zu wenig „tanzt“?

Ein Auswahl-Album, – hat er überhaupt je die ganze Kantate gesungen? Es sind ja doch die anderen Sätze, die einen so ergreifen. Aber eher mit Peter Kooy.

Mein Gott, wie weit bin ich abgedriftet von Fragen der Ehe, erst recht von Tod und Leben. Es tut mir leid, dass Barry McDaniel im Juni 2018 gestorben ist, immerhin mit 87 Jahren. Er war aber auch 10 Jahre älter als ich. Und nun muss ich mit einer gewissen Betroffenheit die Antwort des Psychotherapeuten studieren. Da steht u.a.: „Wer sich Gedanken über die Musikstücke macht, die auf seiner Beerdigung gespielt werden sollen, ist sehr lebendig. Nadine kann Thomas Mann und Sigmund Freud anführen, die beide betont haben, dass Vergänglichkeit den Wert des Schönen in unserem Leben nicht mindert, sondern erhöht.“

Ich hatte mir ja auch schon mal ein solches Stück ausgesucht (Mahlers „Trinklied vom Jammer der Erde“), kam aber mit dem Gedanken nicht klar, dass ich es dann selber nicht mehr werde mithören können, nicht einmal – was mir eigentlich noch wichtiger wäre – die Wirkung auf die kleine Trauergemeinde überprüfen könnte. Wer sich dabei offensichtlich langweilt oder über die Lautstärke aufregt oder über den Affen, der da hundert Jahre … oder wie war das? Jedenfalls hätte gerade der mein größtes Mitleid!

Und jetzt wieder frustriere ich meine Leser:innen, weil unklar bleibt, ob ich eine Person oder den Affen meine. Zugegeben: ich neige zu Scherzen an den unpassendsten Stellen.