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Ethnopluralismus

Ein unschuldiges Wort?

Die Betrachtung zweier Dinge möchte ich lebenslang im Zentrum wissen, auch wenn es widersprüchlich klingt: die Natur, wie sie [ohne uns] existiert. Und: wie wir leben oder wie wir in Zukunft leben können. Wie aber all dies sich anfühlt, zeigt fortwährend die Musik.

Weshalb ich (JR) mich für Themen interessiere, die nicht unmittelbar damit zu tun haben, ist schnell gesagt: es gibt bestimmte Worte, auf die ich nicht verzichten möchte, ohne aber Gefahr laufen zu wollen, mit völlig absurden Tendenzen in Verbindung gebracht zu werden. Zum Beispiel die Worte Heimat, Vielfalt, Globalisierung. Auch die Wortungetüme Multikulturalität oder Bi- (bzw. Multi-) Musikalität. Etwa hier, die „Alte Heimat“ Lohe betreffend; oder hier, die neuere Heimat Solingen. Überhaupt mehrere „Heimaten“, die mir viel bedeuten. Themenkreise überpersönlichen Charakters (aber amalgamierbar). Urlaubsorte, die mir ans Herz wachsen. Dann z.B. das alte Thema Globalisierung bzw. Vielfalt hier. Daher bin ich dankbar für klärende Texte wie den folgenden von Philipp Krüpe.

ZITAT

Wenn auf [bestimmten Internet-] Seiten ein Europa zelebriert wird, das aus rein weißen Menschen besteht, die in traditionalistischen Gebäuden wohnen, geht es den Verantwortlichen vordergründig nicht um einen White-Supremacy-Rassismus, sondern um das neurechte Konzept des „Ethnopluralismus“.

Der Historiker Volker Weiß sieht in diesen Argumentationen den bekannten Rassismus im modernisierten Gewand. Wenn die Rede vom Ethnopluralismus ist – also das angebliche Recht jedes Volkes (in diesem Fall gar eines europäischen), seine ethnokulturelle Identität bewahren zu dürfen -, wird das Bild einer Vielfalt suggeriert, die auf der „Gleichwertigkeit homogener Völker in ihren angestammten Lebensräumen“ 05 basiert. Das klinge „zunächst wesentlich menschenfreundlicher als die üblichen Ungleichheitslehren“, so Volker Weiß, berge „aber im Glauben an ethnische Homogenität und der Verbindung von Volk und Raum dieselben Ausschlussmechanismen“. 06

Eine Vielzahl vornehmlich junger Menschen scheint Gefallen an den dramatischen Bildern zu finden, bei denen aus einer romantisch-nostalgischen Verklärung Europas geschöpft wird. Dass hier rechtes Gedankengut vermittelt wird, fällt oft erst auf den zweiten Blick auf, da durch geschickte Formulierungen vorbelastete alt-rechte Vokabeln umgangen werden. Eine kleine Gruppierung, die in dieser Hinsicht – und auch außerhalb des virtuellen Raumes – produktiv agiert, ist die sogenannte Identitäre Bewegung (IB), deren Hauptkennzeichen neben Ethnopluralismus Islamfeindlichkeit und die vehemente Verteidigung der „eigenen“ kulturellen Identität sind. Sie pflegt eine starke Vernetzung zu rechtspopulistischen bis rechtsextremen Organisationen, von denen sie sich jedoch durch ihr junges Alter und den sicherlich damit zusammenhängenden geschickten Umgang mit sozialen Medien abhebt. Wie Kai Biermann und andere in der ZEIT darlegten, sind die Identitären „keine ‚Bewegung‘ , ihre Distanzierung von der rechten Szene ist Taktik. Ihre Führungsfiguren kommen aus der NPD-Jugend, aus radikalen Burschenschaften und sogar aus der verbotenen Neonaziorganisation Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ). Die Identitären bieten ihnen eine neue Heimat und eine frische Corporate Identity, unter der sie alle Ziele weiterverfolgen können.“ 07 Die Identitären schaffen es, mit relativ einfachen Mitteln große Aufmerksamkeit zu erzielen, indem sie gut inszenierte und aufgebauschte Videos ihrer Guerilla-Aktionen verbreiten. 08 Es verwundert kaum, dass die Mehrzahl ihrer Protagonist*innen den oben beschriebenen Seiten wie European Beauty und Architectural Revival folgen, auf denen in kulturell-ästhetischer Hinsicht ziemlich genau ihre Ansichten verbreitet werden.

Das Beharren auf kultureller Identität – in den sozialen Medien visualisiert durch das Verbreiten regionaler Trachtengewänder und alter Gemäuer – geht mit dem Bezugauf die in den USA entstandene Internet-Kultur, die in Teilen die Alt-Right-Bewegung 09 hervorbrachte, einher, Akiv*istinnen wie der Österreicher Martin Sellner 10 , der sich als Kopf der Identitären Bewegung versteht, beziehen sich immer wieder auf kulturelle Phänomene wie beispielsweise Pepe the Frog – eine ursprünglich unpolitische Comic-Zeichnung, die im Verlauf des US-Präsidentschaftswahlkampf[s] 2016 von der US-amerikanischen Rechten mit rassistischen, antisemitischen und antifeministischen Botschaften gespickt wurde und Trumps Wahlkampf begleitete.

Um zu verstehen, wie diese Phänomene eine solche Popularität in rechten Kreisen gewinnen konnten, muss ein Blick in die beschriebene Online-Welt geworfen werden.

(Fortsetzung folgt)

Quelle Reaktionäre Architektur-Memes in den sozialen Medien / Von Paul Schultze-Naumburg zu 4chan  [Autor:] Philipp Krüpe / in: ARCH+ Zeitschrift für Architektur und Urbanismus Nr. 235, 2019 / RECHTE RÄUME Bericht einer Europareise / Seite 38-39

Aus den Anmerkungen:

06 [Volker Weiß: Die autoritäre Revolte – Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017 siehe auch bei Perlentaucher hier]

07 Kai Biermann et al.: [Link ist bereits eingefügt]

08 2016 erklärten sie das Brandenburger Tor für besetzt, nachdem sie es mit Leitern erklommen hatten […]. Viele Medien bezeichneten die Gruppierung […etc…]

09 Alt-Right (Kurzform von Alternative-Right) ist eine Bezeichnung für die extreme Rechte in den USA, die rassistische, antisemitische, antimuslimische und antifeministischePositionen vertritt.

10 Nach dem Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch, Neuseeland, durch den rechtsextremen Australier Brenton Tarrant, bei denen er 50 Menschen tötete, wurde bekannt, dass der Attentäter an Sellner gespendet und ihm bewundernde E-Mails geschrieben hatte. [Siehe Wiki Martin Sellner auch dazu.]

Die Karte Online Culture Wars (2018-19) der Künstlergruppe disnovation.org ordnet mithilfe eines politischen Koordinatensystems die unüberschaubare Anzahl einflussreicher politischer Figuren, Memes und Symbole. Links: „Economic Left“ / Rechts: „Economic Right“ / Oben: „Authoritarian“ / Unten: „Libertarian“

Siehe ausführlich HIER.

Zur Netzkultur, – was man kennen sollte: Begriffe wie Meme (spr. mi:m) – siehe anschließend auch unter Mem (Zusammenhang mit Dawkins) – und Troll. Nerd, Noob (Neuling), Image-Board (dort auch 4chan). Safe Space. Triggerwarnungen in Internetforen und Universitäten.

Der Autor Mattathias Schwartz vergleicht in einem Artikel in der New York Times die erwähnten Plattformen mit einem „Blog ohne Beiträge und mit Kommentaren voller Slang“, womit er den dadaistischen Wesenszug dieser Sphäre charakterisiert.

(Fortsetzung des schon oben zitierten Artikels gegen Schluss:)

Wie ist auf die identitären kulturellen Angriffe zu reagieren? Gibt es eine progressive Alternative, die eine direkte Entgegnung auf die nreaktionäre Bildsprache eröffnen kann?

Wie Angela Nagle in Die digitale Gegenrevolution feststellt, wurde es den Rechten einfach gemacht, kulturelle Hegemonie in Teilen der Online-Welt zu erlangen und damit einen Beitrag zu leisten, dass Donald Trump ins Weiße Haus einziehen konnte. Nun ist aber das Internet in seiner partikularistischen Form nicht nur mit rechten Troll-Posts gefüllt. Nagle zufolge besetzen auch Linke identitäre Online-Räume, wenn immer mehr um Sprechverbote, Triggerwarnungen und Safe Spaces gestritten wird. Aber es würde sicherlich zu kurz greifen, der rechten Meme-Flut einfach nur linke Memes entgegenzusetzen. Nagle beruft sich in ihrer Kritik an der Linken auf den marxistischen Kulturtheoretiker Mark Fisher, der der britischen, in den 1990er-Jahren gegründeten Cybernetic Cultural Research Unit entstammt. Das linke Kollektiv setzte sich mit Themen wie Cyberfeminismus, Akzelerationismus und Rave-Kultur auseinander. Fisher illustriert die problematischen Dynamiken innerhalb der linken Szene, indem er sie als „priesterhaftes Verlangen zu exkommunizieren und zu verdammen“ charakterisiert.

Es bleibt weiterhin offen, wie sich die Linke ihren traditionellen Dynamiken der Mikro-Lagerbildungen und damit der Selbstzerfleischung entziehen kann. Klar ist jedoch, dass Identitätspolitik – mag sie noch so emanzipatorisch gemeint sein – nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Schließlich ist „Ethnopluralismus“ in letzter Konsequenz eben das: Identitätspolitik* einer männlich-weiß-heterosexuellen Mehrheit.

Quelle: Siehe oben „Reaktionäre Architektur-Memes“ etc. [Schlussteile]

*wichtiger Wikipedia-Artikel, zwei Zitate daraus:

Nach der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten im November 2016 betonte die Historikerin Nell Irvin Painter, das Weißsein habe sich jetzt von einer unmarkierten Kategorie, die bis dahin wie selbstverständlich das gesellschaftliche Zentrum besetzt gehabt hatte, in eine Kategorie gewandelt, die zielgerichtet mobilisiert werde, um eine politische und gesellschaftlich privilegierte Position zu sichern. Identitätspolitik sei keinesfalls nur Sache von Afroamerikanern, Latinas, Frauen und LGBTs (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender), sondern auch eine der weißen, heterosexuellen, protestantischen Männer, die damit ihren verloren geglaubten Platz im gesellschaftlichen Zentrum wieder zu festigen suchten.[5] Damit, so Frank Furedi, sei Identitätspolitik „mittlerweile zur Karikatur ihrer selbst geworden“.

Und:

Für Francis Fukuyama fiel der Krise der Linken in den letzten Jahrzehnten mit ihrer Hinwendung zu Identitätspolitik und Multikulturalismus zusammen. Die Forderung nach Gleichheit sei für die Linke weiterhin kennzeichnend, doch ihr Programm legte nicht mehr wie einst den Nachdruck auf die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft, sondern auf die Wünsche eines ständig größer werdenden Kreis ausgegrenzter Gruppen.[10] Für manche Linke sei die Identitätspolitik zu einem billigen Ersatz für ernsthafte Überlegungen geworden, wie der seit 30 Jahren andauernde Trend sozialökonomischer Ungleichheit in den meisten liberalen Demokratien umgekehrt werden könne.[11] Schon 1998 hatte Slavoj Žižek ähnlich argumentiert: Die postmoderne Identitätspolitik der partikularen (ethnischen, sexuellen und anderer) Lebensstile passe perfekt zu einer entpolitisierten Idee der Gesellschaft.[12]

Christoph Jünke betont dagegen, dass Identitätspolitik Schutz vor der herrschenden Mehrheit und Quelle von Selbstbewusstsein sein könne. Damit sei sie ein geradezu notwendiger Ausgangspunkt jeder Politisierung und notwendige Vorbedingung politischer Selbstorganisation und Behauptung: […]

Zurück zum AusgangswortEthnopluralismus(ein zentrales Wort der Neuen Rechten).

Neubeginn: die Ausführungen im Vortrag von Angela Nagle:

Virtual Futures presents Angela Nagle in conversation on her new book, Kill All Normies: Online culture wars from 4chan and Tumblr [siehe hier] to Trump and the alt-right. Angela Nagle untangles the new culture wars raging on the internet: on the one side the “alt right”, which ranges from white separatist movements, to geeky subcultures like 4chan, to more mainstream manifestations such as the Trump-supporting gay libertarian Milo Yiannopolous. On the other side, so-called ‘social justice warriors’, whose progressive, identity politics fuelled campaigns are often seen as little more than virtue signalling and also associated with closing down debate by claiming offence, using the therapeutic language of trigger warnings and safe spaces. She will join us to explore the cultural genealogies and past parallels of these styles and subcultures, drawing from transgressive styles of 60s libertinism and conservative movements, to make the case for a rejection of the perpetual cultural turn.

Als weitere Einführung in die Thematik lese man im DLF Kultur den Artikel HIER.

Intellektuelle Selbstverleugnung

Die Angst, „koloniale Denkmuster “ zu reproduzieren

Ein bedenkenswerter Artikel in der ZEIT (9. April), Überschrift: „Dröhnendes Schweigen“. Und weiter: „Früher war Religionskritik die vornehmste aller marxistischen Tugenden. Doch zum Glaubensterror des islamischen Fundamentalismus hat die westliche Linke nichts zu sagen“ (Autor: Volker Weiss). Ich springe mitten hinein in den Text, den verblüffenden Einstieg zunächst beiseite lassend:

Vor lauter Angst, „koloniale Denkmuster“ zu produzieren, findet eine Kritik des Islamismus kaum statt.

Es ist kaum möglich, über diesen blinden Fleck der heutigen Linken zu schreiben, ohne den Autor zu nennen, der ihren Diskurs in dieser Frage wesentlich geprägt hat: der 2003 verstorbene palästinensische Literaturtheoretiker Edward W. Said. Dessen Buch Orientalismus erlangte nach seinem Erscheinen 1978 mindestens die gleiche Bedeutung wie Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde für die Generation der Achtundsechziger.

Wer Saids Buch aufschlägt, heute noch wie damals, wird nicht aufhören können zu lesen. Ich greife, einer westlichen Manie folgend, Zeilen über Flaubert und das Thema Sex heraus. Ehrenwort: es besteht nicht nur daraus…

Flaubert assoziiert den Orient in allen seinen Romanen mit eskapistischen Sexualphantasien. Wenn Emma Bovary und Frédéric Moreau sich nach etwas sehnen, das ihr eintöniges (oder bedrängtes) bürgerliches Leben nicht hergibt, so erfüllen sich ihre Wünsche mit Tagträumen voller orientalischer Klischees: Harems, Prinzessinnen, Prinzen, Sklaven, Schleier, Tänzerinnen und Tänzer, Balsame, Öle, Salben und so fort, das Repertoire ist durch die Verbindung von Orient und zügellosem Sex hinlänglich bekannt. Dabei sollten wir aber auch bedenken, dass die Sexualität im Europa des 19. Jahrhunderts durch eine zunehmende Verbürgerlichung in hohem Maße institutionalisiert wurde. Wie man sexuelle ‚Freiheit‘ noch nicht kannte, so ging Sexualität gesellschaftlich mit einer Reihe von peniblen rechtlichen, moralischen, ja sogar politischen und wirtschaftlichen Verpflichtungen einher. Wie die Kolonien – abgesehen von ihrem Ertrag – häufig dazu dienten, missratene Söhne, Delinquenten, Arme oder sonst unerwünschte Bevölkerungsteile fortzuschicken, so eignete sich der Orient auch als Ort für daheim unerreichbare sexuelle Erlebnisse. Fast kein europäischer Schriftsteller, der nach 1800 in den Orient reiste, nahm sich da aus, allen voran Flaubert, Nerval, ‚Dirty Dick‘ Burton und Lane. Im 20. Jahrhundert folgten Gide, Conrad, Maugham und andere mehr. Oft suchten sie – vermutlich zu Recht – nach einer freieren, weniger schuldbeladenen Art der Sexualität, doch sogar diese konnte bei zu vielen Nachahmern ebenso gleichförmig geordnet werden wie die akademische Forschung (was auch geschah). Bald näherte sich der ‚orientalische Sex‘ den anderen Standardwaren einer Massenkultur an, so dass Leser und Schriftsteller ihn auf Wunsch haben konnten, ohne eigens in den Orient reisen zu müssen.

Quelle Edward W. Said: Orientalismus S.Fischer Verlag Frankfurt am Main 2009 ISBN 978-3-10-071008-6 (Seite 220)

SAID Titelseite   SAID Inhalt

Volker Weiss erwähnt in dem zitierten ZEIT-Artikel, vieles von dem, was Said beschreibt, lese sich heute „wie aus einer anderen Zeit“, – und nicht nur wenn es sich, wie hier von mir herausgegriffen, explizit auf vergangene Jahrhunderte bezieht.

Heute sind es nicht mehr die Reiseberichte und geostrategischen Dossiers aus den Außenministerien, die der Welt jene „stereotypen Orientdarstellungen“ und „standardisierten Schablonen“ aufdrängen, unter denen Said so gelitten hat. Es sind die Islamisten selbst, die sich stolz eine Identität aus den Albträumen des Humanismus gewählt haben.

Wie Said vielfach beklagte, wurde seine Orientalismus-These „in der arabischen Welt als eine systematische Rechtfertigung des Islams und der Araber aufgefasst“. Der Autor hat sich zwar gegen solche Vereinnahmungen gesträubt, war aber selbst zu sehr dem arabischen, vor allem dem palästinensischen Narrativ verhaftet, um sie effektiv zurückzuweisen. Seine Herkunft aus einer christlichen Familie feite ihn nicht vor einer Gleichsetzung von Orient und Islam.

Der frappierende Grundgedanke von Volker Weiss ist der, dass heute „das allgegenwärtige Argument von den verletzten religiösen Gefühlen selbst ein Produkt des Orientalismus“ sei. Said lasse sich heute sogar subversiv lesen:

Seine Formel, dass „der Orientalismus ein konstitutiver und nicht nur beiläufiger Bestandteil der modernen politisch-intellektuellen Kultur ist – und als solcher weniger mit dem Orient selbst als mit ‚unserer‘ Welt zu tun hat“ -, lädt umgekehrt ein zur Frage, auf welche inneren Defizite eigentlich der Hass der Islamisten gegen „den Westen“ deutet. Niemand kam auf den Gedanken, sich mit der Methodik Saids dem grassierenden muslimischen Antisemitismus oder der verschwörungstheoretischen Rhetorik der mittelöstlichen Regime zu nähern (in die Said stellenweise selbst verfällt). [….]

Angesichts des wachsenden Einflusses fundamentalistischer Islam-Interpretationen (und übrigens auch einer eigenen islamischen Kolonisierungstradition) wären diese längst auf Selbst- und Fremdbilder zu untersuchen gewesen. Was sagen eigentlich die rigide und durchökonomisierte Sexualmoral und das Verschleierungsgebot des Islamismus über seine Verfechter? Wovon zeugen seine autoritäre Ordnung und die grotesken Verzerrungen in seiner Darstellung der westlichen Gesellschaften?

Quelle  DIE ZEIT 9. April 2015 (Seite 54) Dröhnendes Schweigen. Von Volker Weiss.

Volker Weiss war ausgegangen von den Ergebnissen eines provokativen Versuchs auf dem Campus einer amerikanischen Universität: der Filmemacher Ami Horowitz hatte dort zunächst die IS-Flagge geschwungen und gerufen, der IS wolle den Frieden und verteidige sich nur gegen die Aggression des Westens. Er vermerkte positive Reaktionen, – während der gleiche Versuch mit einer israelischen Flagge Proteste erntete.

Am Ende seines Artikels kommt Weiss auf die menschenverachtenden Aktionen des IS: sie seien vom Willen getragen, „sich selbst als diejenigen zu stilisieren, die mit den Konventionen der Zivilisation brechen.“ Vor diesem Hintergrund wirke der Gedanke, ein paar Zeichnungen könnten diese Leute verletzen, naiv.

Diese Druckmittel bedienen das orientalische Klischee, Muslime funktionierten jenseits politischer Interessenkonstellationen und bedürften besonderer Schonung. Dieses Rollenspiel hat den ursprünglich kritischen Anspruch der Postcolonial Studies  [nach Said] und ihrer linken Verehrer längst ad absurdum geführt. Dabei war Religionskritik einst die vornehmste der linken Tugenden. (a.a.O.)

Ich wende mich – wieder einmal – an Rüdiger Safranski. ZITAT:

Aufgeklärte Religionskritik, wie die Kants, richtet sich gegen solche menschenverachtende Gottesliebe. Sie bleibt aktuell. Denn während im Westen Nihilismus und Dekadenz zunehmen, wächst andernorts wieder eine Religiosität des verfeindenden Typs. (…) Aber (…) mit Berufung auf Gott hat man sich schon alles erlaubt. Es gibt Götter, die zum Schlimmsten anstiften.

Es spricht einiges dafür, daß es gerade diese Götter sind, die bei wachsender Zahl der Globalisierungsverlierer ihren Anhang finden werden. Traditionsverlust, Entwurzelung und der praktizierte Nihilismus der Konsumkultur bilden den Nährboden für die absichtsvolle und militante Wiedervezauberung durch eine pervertierte Religion. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielten die totalitären Ideologien des Sozialismus und des Faschismus die Rolle der pervertierten Religion im Aufstand gegen die Zumutungen einer säkularisierten, pluralistischen Moderne. Der islamische Fundamentalismus heute setzt diese totalitäre Tradition fort. Man muß übrigens nicht genau angeben können, was eine authentische Religion ist, um eine pervertierte Religion als solche erkennen zu können, denn Bestialität und Dummheit sind von schlagender Evidenz.

Die Weltbilder der pervertierten Religion beanspruchen, das wahre Wesen von Natur und Geschichte zu kennen. Sie geben vor zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie wollen das Ganze begreifen und greifen nach dem ganzen Menschen. Sie geben ihm die Geborgenheit einer Festung mit Sehschlitz und Schießscharte. Sie kalkulieren mit der Angst  vor dem offenen Lebensgelände, vor dem Risiko der menschlichen Freiheit, die stets auch bedeutet: Ungeborgenheit, Alleinstehen, Ungewißheit. (…)

Die pervertierte Religion entlastet von der Freiheit, die immer auch das Gefühl der Entfremdung und der Einsamkeit einschließt.

Quelle Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Fischer Verlag Frankfurt am Main 2004 (Seite 57f)