Was war Unterhaltung, was war Klassik?
Ich gehe aus von dem Artikel über Mozarts Oper „Le Nozze di Figaro“ hier. Das folgende Buch erwarb ich im Dezember 1955, ich kann aber nicht beschwören, dass ich damals jede Seite gelesen habe, etwa Mozarts Brief über den Figaro in Prag… Prager Karneval? Ich kannte nicht einmal den Kölner, an Unterhaltung aus dem Radio allenfalls „Das ideale Brautpaar“ mit Jacques Königstein, mein Bruder hatte den Film „Die Glenn Miller Story“ gesehen und war Feuer und Flamme.
Mozart am 15. Januar 1787 aus Prag
Das Kapitel „Volkstümliches und Gesellschaftliches“! Die Anregung, Mozart in einem größeren Zusammenhang zu sehen.
Paul Nettl
Bruno Nettl
Im ersten großen Kapitel dieses Buches geht Bruno Nettl am Beispiel der Oper „Figaros Hochzeit“ auf die Bedeutung Mozarts und anderer großer Komponisten in unserer Kultur ein. Sehr wichtig ist seine Begründung einer relativistischen Sicht auf die Kulturen der Welt, was nicht bedeutet, sie alle (und unsere eigene) für letztlich unwichtig zu halten.
Inzwischen gibt es eine 7. Edition, man findet das Werk leicht im Internet; es ist die beste Übersicht zum Thema Weltmusik (nicht Welt-Popmusik), die je geschrieben wurde. Die Widmung, ein Zitat aus dem berühmten Buch von John Blacking, dürfte gerade auch für Musikethnologen maßgeblich sein, die zuweilen meinen, sich mit der ausgewählten Musik einer anderen Kultur die eigene ersparen zu können…
(Dieser Beitrag ist unfertig, erläuternde Bemerkungen folgen)
Um weiterzukommen, habe ich heute den programmatischen Text von Bruno Nettl kurzerhand ins Deutsche übertragen, nicht ganz wörtlich, einfach so, dass er für mich überzeugend wirkt und mich vielleicht einlädt, auf zusätzliche Gedanken zu kommen. (Also keine Gewähr für Korrektheit, alle Schuld liegt auf meiner Seite!)
Wenn die Oper „Die Hochzeit des Figaro“ ein großes Musikwerk ist, muss dies wohl daher kommen, dass sie für ihre Konsumenten – Europäer und Amerikaner, die Opern hören – bestimmte Kriterien erfüllt: Es ist ein Werk von großer Komplexität, seine Struktur hat innere Logik, es hat Harmonien und Kontrapunkt, wobei verschiedene simultan erklingende Melodien sowohl unabhängig als auch aufeinander bezogen sind; der Komponist zeigt eine Fähigkeit Musik zu schreiben, die besonders geeignet ist für Stimmen, Instrumente und Orchester, und hat ein besonderes Geschick, Wörter und Musik zu verbinden; das Werk übermittelt eine besondere soziale und spirituelle Botschaft; und so weiter. Wenn man diese Kriterien aber gebraucht um die Musik anderer Kulturen zu beurteilen, würde man schnell zu dem Urteil geführt, dass westliche Musik die beste und die größte ist. Vom Standpunkt eines indischen Musikers jedoch, dessen Aufgabe darin besteht in einem Rahmen melodischer und rhythmischer Regeln zu improvisieren , würden die Mitwirkenden des „Figaro“ nicht so gut wegkommen, einfach weil sie ein existierendes Werk ganz präzise wiedergeben müssen, im Vertrauen auf eine Notation, die sie vor jeder Abweichung bewahrt, so dass wenig Gelegenheit zu eigenen Kreativität bleibt. Ein Native American, der einen Song als einen Weg betrachtet, über den Geister mit Menschen kommunizieren können, mag staunen über den Kontrapunkt von Bach, aber er könnte auch empfinden, dass es keinen Sinn macht, dieses ganze Konzept von „guter“ oder „besserer“ (oder „mieser“) Musik ernstzunehmen. Mitwirkende eines westafrikanischen Percussionsensembles könnten die melodische und harmonische Struktur des Figaro interessant finden, aber seine Rhythmen einfältig.
Wir als Studenten aller Musikkulturen der Welt können diese divergierenden Standpunkte nicht in Einklang bringen. Wir kommen eher klar mit einer relativistischen Haltung. Wir – die Autoren dieses Buches – glauben, dass jede Gesellschaft ein musikalisches System hat, das zu ihr passt, und obwohl wie sie miteinander vergleichen mögen hinsichtlich ihrer Struktur und Funktion, vermeiden wir es, diese Vergleiche zur Basis qualitativer Urteile zu machen. Stattdessen erkennen wir, dass jede Gesellschaft ihre eigenen Musikwerke nach ihren eigenen Kriterien einschätzt. In der amerikanischen Gesellschaft setzen wir als selbstverständlich voraus, dass Musik eine erfreuliche Hörerfahrung bietet; anderswo könnte etwas ganz anderes als musikalisches Ideal gelten. Wir wollen deshalb jede Musik als einen Aspekt der jeweiligen Kultur verstehen und anerkennen, dass jede menschliche Gemeinschaft genau die Art von Musik erschafft, die sie braucht für ihre speziellen Rituale und kulturellen Events, die zugleich ihr soziales System unterstützen und so ihre Grundwerte reflektieren.
Zugrunde liegen folgende Basis-Annahmen:
- Eine relativistische Sicht (kein musikalischer Stil ist „besser“ als ein anderer)
- Welt-Musik umfasst eine Gruppe von Musiken
- Das dreiteilige Modell: Klang, Verhalten und Konzeption bzw. Ideen-Konstrukt
(Fortsetzung folgt)