Archiv der Kategorie: Indien

Musikalische Meinungsmache – indisch

(in Arbeit)
Lassen Sie sich auf fremde Musik ein? Sie ist nicht fremd.
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Kaushiki Screenshot 2016-04-16 09.29.17 (abrufbar nach dem folgenden Text)
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Gewiss, ich glaube dieser Künstlerin alles, egal, ob jemand eine abweichende Meinung dazu vertritt. Ich habe sie selbst in Konzerten erlebt, kenne viele Aufnahmen von ihr, habe versucht, einiges auf westliche Art zu analysieren und bin immer wieder bezaubert von dem Live-Erlebnis, auch wenn es, als Youtube-Aufnahme nicht die technische Qualität der CD oder gar der Realität bieten kann. Ich vermute aber, dass genau diese Aufnahme auch Menschen hinreißen kann, die noch keine große Erfahrung mit indischer Musik haben: es ist eine Einheit von stimmlicher Perfektion und zugleich von so souveräner wie freundlicher Suggestion, wie man sie selten bei westlichen Musikern oder Sängerinnen erlebt. Kaushiki Chakraborty spricht singend mit ihrem Publikum, ohne wie eine schauspielernde Bühnenfigur zu wirken. Es würde uns nicht wundern, wenn sie uns zwischendurch eine Tasse Tee anbieten und dann mit größtem Ernst ihren Gesang fortsetzen  würde. Versuchen Sie doch nur  8 Minuten lang sich einspinnen zu lassen in diese Zauberkünste der indischen Musik. Und kommen Sie dann zurück, um die Fachsimpelei einiger indischer Kenner klaglos hinzunehmen. Es ist nicht ohne Nutzen. Vor allem, wenn Sie sich auf einen detaillierten Vergleich mit der anderen Sängerin einlassen wollen, die im Gespräch genannt wird und deren Interpretation weiter unten folgt.

HIER Die Sängerin KAUSHIKI CHAKRABORTY mit „Rangi Sari“, einem Thumri in Raga Pahadi

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Es ist nicht uninteressant, mehr oder weniger unfreiwillig Zeuge eines Gedankenaustausches zu werden, das Insider-Charakter hat. Aber nicht kompetenter sein muss als das, was man bei uns in Konzertpausen zu hören bekommt. Meinungen eben…

KC: leicht zu erraten – ist das Kürzel für den Namen der Sängerin. Der Name Chakraborty (auch in anderen Schreibweisen) ist im übrigen weit verbreitet. Zu „Shobha Gurtu“ siehe weiter unten. „Shobaji“ = Koseform ihres Vornamens. Thumri ist ein leichter Gesangsstil, auch „semi-classical“ genannt. (Eine ausführliche Arbeit darüber findet man hier.) „Asmita Parva“ ist offenbar eine Art Festival in Mahuva (Gujarat).

Narayan Svor:
I have heard much better Thumri by KC. This one she has botched up pretty badly. In this presentation she has deviated from the aesthetics experimenting with many ‚unmusical‘ expressions. She just does not seem to be honest and sincere in this performance. Too casual approach. She can learn aesthetics of presentation just by listening to this thumri sung by legendary Shobha Gurtu.

Ajayverdhan Maury

 Ajayverdhan Maury

 

Narayan S

Narayan an Ajayverdhan
I am shocked to receive your unexpected response. It seems that you completely misunderstood my point. I have been listening to this little ‚gem‘ of classical vocal singing ever since she appeared on the stage. Believe me she has sung this and other thumris much better in the past. I am not comparing her to the stalwarts you mentioned. I do not know where you got that silly idea. I am not degrading her at all. All I said that this thumri ‚Rangi Sari‘ has been immortalized by late legendary Shobhaji and Kaushiki can absorb the beautiful aesthetic nuances just by listening to Shobhaji’s rendition. Hope you get my point this time (if I am lucky). It is quite possible that you have not heard Shobhaji’s ‚Rangi Sari‘. If you did, then you would understand my points. Good luck.

Shreenivas Mate'

Shreenivas Mate:
 
I agree. Shreenivas श्रीनिवास स्थपति

Bishakha Chakraborty

Bishaka Chakraborty an Narayan S.:
You are right…. Shobaji sang it with more heart and leaves us spell bound with clarity of her voice and nuances of the raag. KC seems to loose many notes here and there in alaps.

Narayan S

Narayan Svor an Bishaka Chakraborty:
I am glad you understood my honest criticism of KC’s. I know she is a fantastic female vocalist today but this one she did not do justice. You probably have the same sensitivities like me. Thanks.

IndianClassical97

„Indian Classical 97“:
Yes. The same thumri, she sang exceedingly well in the Asmita Parva.

Abhishek Singh

Abhishek Singh an Narayan Svor:
You are correct, Sir,  and I fully agree with you. Thumri is a different style of singing which lies in semi classical music category in which the use of taans are limited and only used for ornamenting the bol or words. But here she is deviated enough with long taans and showing her taiyari or taans. I think she needs to take a break and revive the aura.

 

Narayan S

Narayan Svor an Abhishek Singh:
You said my thoughts in a very nice manner. We are both on the same wavelength and I do feel she should pay attentions to our comments. I strongly feel she can learn a lot by simply listening to Begam Akthar, Girija Devi, Shobha Gurtu, Bade Ghulam Ali etc who were great thumari singers in the history.

Abhishek Singh

 Abhishek Singh an Narayan Svor:
Sir, among these names there is also a name of my guruji that is pt channulal mishra ji…. he is awarded as thumari samrat and these is a soul in his singing….

IndianClassical97

 „Indian Classical 97“ an Abhishek Singh:
Taking a break, is slightly on the harsh side, I think. She is a beautiful and amazing artist. It’s just that excess of any one one particular thing is not good. It drains the overall feel of Indian Classical Music.

***

Zur Sängerin: Shobha Gurtu / in Wikipedia HIER und HIER

Zum Text:

Rangi Saari Gulaabi Chunariya Re
My beloved coloured my Saree pink
(Saari/Saree is a traditional dress of women in India)
Mohe Maare Najariya Sawariya Re
My beloved is throwing gazes at me
(My beloved is throwing arrows of his gaze at me)
Mohe Maare Najariya Sawariya
My beloved is throwing gazes at me 

Hmm... Rangi Saari Gulaabi Chunariya Re
My beloved coloured my Saree pink
Rangi Saari Gulaabi Chunariya Re
My beloved coloured my Saree pink
Mohe Maare Najariya Sawariya Re (x2)
My beloved is throwing gazes at me 

Rangi Saari… Gulaabi… Gulaabi Chunriya…
My beloved coloured my Saree pink
Haan...

Jao Ji Jao, Karo Na Batiya…
Go away, don’t make false/sweet talks
Jao Ji Jao, Karo Na Hi Batiya… 
Go away, don’t make false talks
Jao Ji Jao, Karo Na Batiya…
Go away, don’t make false talks

Ae Ji Baali, Ae Ji Baali Hai Mori Umariya
I’m in my prime youth
Mohe Maare Najariya Sawariya Re (x2)
My beloved is throwing gazes at me

Rangi Saari Gulaabi Chunariya Re
My beloved coloured my Saree pink
Mohe Maare Najariya Sawariya Re (x2)
My beloved is throwing gazes at me 

Rangi Saari Ho…
He coloured my Saree
Pehni Saari Gulaabi Chunariya Re
I’ve now worn that pink Saree
Mohe Maare Najariya Sawariya Re (x2)
My beloved is throwing gazes at me

Text gefunden – hier:

http://www.bollynook.com/en/lyrics/13995/rangi-saari-gulaabi/

Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Linearität und „Musik im Delta“

Einige Anregungen zu musikhistorischen Fragen, die sich – direkt und indirekt – bei der Lektüre des Buches von Gunnar Hindrichs („Die Autonomie des Klangs“) ergeben, – wenn man gewöhnt ist, die Systeme zu wechseln. Etwa: von der Affektenlehre im Barock zur Bedeutung der „Rasas“ in indischer Musik – vielleicht letztlich in beiden Fällen auf Aristoteles zurückgehend. (Verbindung über Hellenismus in Baktrien, vgl. Lutz Geldsetzer „Nagarjuna“ Hamburg 2010, Vorwort ab Seite XII).

Das Hintertürchen, das Adorno für Komponisten offenhält, die nicht in sein Schema passen: etwa Janáček oder Bartók, – im Gegensatz zu Elgar oder Sibelius, die keine Gnade finden.

Aus meinem Exemplar der „Philosophie der Neuen Musik“ von Theodor W. Adorno (Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1958), studiert ab 13.V.1960 in Berlin):

Adorno Philosophie Janacek

Bei Hindrichs nun scheint problemlos Platz für alle. Einige Umwege sind unvermeidlich, auch dank des Verdachtes einer kryptisch-theologischen Hermeneutik (seit Hegel eine gute philosophische Tradition,  vielleicht die Grundlage aller Philosophie).

Eine Assoziation* sei an dieser Stelle eingefügt; ich werde ihr nachgehen, sobald ich mich wieder an meinem Schreibtisch befinde.

Carlo Ginzburg über Italiens kulturhistorische Situation etc s.a. hier. Siehe zunächst die Quelle zum Thema Ungleichzeitigkeit bei Bloch !!! Hier

Was in der Szene der „neuen Neuen Musik“ gegen Gunnar Hindrichs vorzubringen ist, lässt sich gut bei Stefan Hetzel verfolgen. Siehe HIER. Wobei der Respekt durchaus zum Vorschein kommt:

Hindrichs ist ein äußerst ernst- und gewissenhafter, zudem ehrgeiziger intellektueller Arbeiter, das ist wohl kaum in Frage zu stellen. Schreiben kann er auch, das Buch hat zweifellos Stil und der Autor ist in der Lage, auch über längere Strecken Gedankenfäden auf abstrakter Ebene zu spinnen, die sogar – so man denn Spaß am Umgang mit Abstrakta hat und die Prämissen des Autors akzeptiert – eine deutliche Sogwirkung entfalten: eine echte Seltenheit! So gesehen, ist “Die Autonomie des Klangs” ein gut, ja sogar hervorragend gemachtes Buch. Aber mir sind nun mal Inhalte wichtiger als Form – und was die betrifft, hockt der Text im allerverstaubtesten Dachkämmerchen des Elfenbeinturms und wünscht sich zurück in eine heile Welt absoluter, metaphysisch legitimierter Autorität.

(Stefan Hetzel a.a.O.= s. den Link oben)

Im Blick auf die bedeutende Musik anderer Kulturen interessiert mich weniger die im § 26 des Hindrichs-Buches im Anschluss an Doflein hervorgehobene Spielmusik, die von der Linearität eines Materialfortschritts nicht erfasst würde – womit etwa die Linie von Bach über Beethoven zu Brahms/Wagner und Schönberg gemeint wäre – , dennoch ist der Gedanke grundsätzlich festzuhalten:

ZITAT

Der Hauptangriffspunkt gegen die Theorie von der Tendenz des musikalischen Materials bildet ihre vermeintliche Verpflichtung auf die Annahme von Linearität. Wenn es eine Tendenz des Materials gibt, dann scheint sich die Musikgeschichte einer Linie gemäß zu vollziehen. Das schneidet die Mannigfaltigkeit musikalischer Entwicklungen ab.

Im Hintergrund dieses Einwandes steht oft das Ressentiment gegen „die Moderne“ oder „das Neue“. Daneben aber gibt es auch reflektierte Stimmen. Einer der ersten wichtigen Einsprüche erfolgte von Erich Doflein. In ihm ist der Hauptgedanke aller späteren Gegenargumente vorweggenommen. Es lautet: Statt der Linearität eines Materialfortschritts sei die Vielfalt der neuen Musik anzuerkennen. Dofleins Titel für diese Vielfalt hieß „Musik im Delta“. Das Delta der neuen Musik umfaßte in seinen Augen neben dem obligaten Stil einer vollständigen Durchdringung des Tonsatzes, der zur Zwölftontechnik geführt habe, auch spielerische Formen, das Laienmusizieren, die Stücke der Musikpädagogik oder die Linie Reger-Hindemith-Orff. Die Regionen dieser auseinanderstrebenden Leitbilder bilden die Provinzen der Musik, die sich nicht mehr miteinander verständigen können. Sie alle aber besitzen in ihren regionalen Grenzen Legitimität.

Dofleins Gedanke einer Vielfalt von Formen statt eines einfachen Fortschritts des Materials – „Delta“ statt „Linie“ – läßt sich unabhängig von seiner Entfaltung in die Musikwelt des Adenauer-Deuschlands betrachten. Er beruht auch nicht auf dem Ressentiment gegen die Moderne. Statt dessen führt er die Konzeption regionaler Legitimitäten ins Feld. Zwar stellt der von ihm behauptete Gegensatz von obligatem Stil und Spielmusik keinen Gegensatz gleichrangiger Entwicklungen dar; diese inhaltliche Bestimmung des Deltas ist zeitgebunden und muß aufgegeben werden.

Quelle Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs / Suhrkamp Berlin 2014 (Seite 56 f)

Die Anhänger neuester Strömungen, denen das „Delta“ gleichgültig ist, interessieren sich auch in geringem Maß für das Faktum, dass klassische Musik, – also Musik einer vergangenen Epoche, einer abgelebten Gesellschaft -, den heutigen Menschen weiterhin etwas zu sagen hat. Eine vergleichbare Situation: Wer sich für Musik fremder Kulturen begeistert, scheint sich in eine vor-industrielle, mythisch befangene Gesellschaft zurückzusehnen. Er ist nicht „auf der Höhe der Zeit“. Auch das ist Quatsch, – was aber nicht ganz leicht nachweisbar ist.

*Assoziation: das oben verlinkte Buch über Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen / Fünf Studien zur Geschichte Italiens / edition suhrkamp 991 / Frankfurt am Main 1980 / Siehe dazu den späteren Artikel, – wobei ich beim Thema Italien immer das große Thema Indien mitdenke:

Italien Storia

Italien Storia Aufsätze

Zugabe in gleichzeitigen Naturalien

Texel Paal 19 a  Texel Paal 19 c

Texel Paal 19 d Texel Paal 19 d'

Texel Paal 19 HandyFotos: JR

Nachtrag 6. April 2016

Im April-Exemplar des Magazins „Musik & Ästhetik“ (Heft 78) äußert sich Christian Utz zu einem Kongress-Beitrag von Gunnar Hindrichs und bringt zum Vorschein, was in der zeitgenössischen Diskussion gegen diesen Autor vorgebracht wird.

Hindrichs (…) möchte zeigen, dass musikalische Form als „Antwort auf Notwendigkeiten des Materials“ eine normativ verstandene „ästhetische Wahrheit“ begründet, die unabhängig von einzelnen Interpretationen und deren Geschichte bestehe. Vor diesem Hintergrund wird die Musikgeschichte für Hindrichs lesbar als Werden auf ein Noch-nicht-Vollkommenes hin. Hindrichs‘ zum Apodiktischen neigender ontologischer Zugang, der auch aus Anlass seines Buchs Die Autonomie des Klangs (2014) vielfach kritisiert worden ist, mag aus einer gewissen Tradition philosophischer Denkfiguren in der deutschsprachigen Philosophie begründbar sein, kann aber gerade auf einem derartig kontrovers und intensiv debattierten Feld wie der Musikgeschichtsschreibung kaum darüber hinwegtäuschen, dass sein Modell den Stand der Diskussion verfehlt. Wenn – der postmodernen Skepsis an „Meta-Narrativen“ zum Trotz oder gerade durch diese beflügelt – Fragen der Globalgeschichte, die Historizität nicht-westlicher Musikformen oder eine integrierte Diskussion von Kunst- und Popularmusik zur Sprache kommen, wird ein Diskursfeld geöffnet, vor dessen Hintergrund Hindrichs‘ Argumentation als zirkulär und eindimensional erscheint. Aber auch zu einem im engeren Sinn musitheoretischen Diskurs vermag die fragwürdige Denkfigur einer „Einbahnstraße“ vom Material zur Form kaum etwas beizutragen.

Quelle „Gegliederte Zeit“ / Der 15. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) an der Hochschule für Musik Hanns Eisler und der Universität der Künste Berlin, 1.-54. Oktober 2015 / Von Christian Utz / in „Musik & Ästhetik“ (s.o.)

Dem soeben aufgeführten Zitat folgt ein Satz, der unbeabsichtigt, aber in willkommener Weise den Titel dieses Blogbeitrags stützt (en passant erinnere ich an die Tatsache, dass Brahms auf einem virtuellen Kongress, den etwa Wagner dominierte hätte, durchaus vorteilhaft die Ungleichzeitigkeit mancher Zeitgenossenschaften exemplifiziert hätte) :

Waren somit durch die Hauptvorträge eher gewisse „Ungleichzeitigkeiten“ des Diskurses sichtbar geworden, so brachte das sonstige Kongressprogramm ein sehr facettenreiches Spektrum von „zeit“-bezogenen Fragestellungen zur Sprache, gerade auch unter spezifischer theoretischen Gesichtspunkten (…).

Auch sonst ist diese Ausgabe von „Musik & Ästhetik“ besonders zu empfehlen, weil sie gerade den hier angesprochenen Beitrag von Hindrichs enthält („Musikalische Eschatologie“), aber auch dank der Texte „Zum Tod von Pierre Boulez“ (Larson Powell) zur Qualitätsfrage (Claus-Steffen Mahnkopf) oder über „1001 Mikrotöne“ (Hans Peter Reutter) und andere mehr. Siehe hier:  https://www.musikundaesthetik.de/.

Kann man Kulturen vergleichen?

Ein Beispiel zur Musik in Indien und Europa

Ronald Kurt geht in seinem Buch (siehe hier) von Max Webers Entwurf aus  und schreibt:

Immerhin, mit der Trias ‚Schriftlichkeit, Mehrstimmigkeit, Komposition‘ hatte Weber einen kategorischen Bezugsrahmen bereitgestellt, mit dem sich die abendländische Kunstmusik kultursoziologisch in den Blick nehmen ließ. Durch die Brille dieser (aus der eigenen Kultur für die eigene Kultur entwickelten) Begriffe nach Indien zu blicken, würde aber bedeuten, das Fremde in der Optik des Eigenen zu sehen. Um nicht gezielt am Anderen der indischen Kunstmusik vorbeizusehen, mussten angemessenere Begriffe her. Einerseits; andererseits erforderte die Logik des Vergleichens, dass die Begriffe für die indische Musik zu den von Weber gewählten Begriffen passen mussten. Nach der Lektüre der einschlägigen Fachliteratur, insbesondere Daniélous Einführung in die indische Musik (1982), Bagchees Buch Nād. Understanding Rāga Music (1998) und dem Indienartikel in Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG 1996) kristallisierten sich die Begriffe ‚Mündlichkeit‘, ‚Improvisation‘ und ‚Einstimmigkeit‘ als Kernbegriffe für die Charakterisierung der klassischen indischen Musik heraus. In diesem Sinne fasst auch Ravi Shankar die Hauptmerkmae der klassischen indischen Musik zusammen. In einem Radiointerview mit Radio France Internationale vom 16.02.1998, auf das ich bei Recherchen im Archiv von All India Radio in New Delhi stieß, sagte er: „Our music has been always a oral tradition, it is not a written down music […] and the performance of a raga is all improvisation, nothing is fixed […] we don’t use harmona or structured composed music like in the west“. Der Stimme des weltweit wohl bekanntesten indischen Musikers folgend, entschied ich mich dann für die Konstruktion von Begriffsdichotomien und spannte den Vergleich der Musikkulturen Indiens und Europas in die folgenden Gegensatzpaare ein:

Indien - Europa

Ich weiß nicht, warum Ronald Kurt hier ein Interview bemüht, das Ravi Shankar für ein westliches Medium gegeben hat. Mir scheint, dass der indische Meister situationsbedingt oder aus rein pädagogischen Gründen die Sache absurd vereinfacht. In seinem 30 Jahre früher erschienenen Buch „My Music, My Life“ (New York 1968) gibt er jedenfalls eine weit differenziertere Darstellung, die zu anderen Folgerungen zwingen würde. Und auch Daniélou hat in seiner „Einführung in die indische Musik“ (1975) Formulierungen gewählt, die sich kaum in das obige Schema fügen:

Nicht die melodische Folge der Töne ist wichtig, sondern die Gesamtheit aller Töne. Dies erklärt, weshalb die modale Musik bei ihrer Ausführung improvisiert werden kann. Das Bewußtsein des Musikers ist auf das Gebäude als Ganzes gerichtet, auf eine vertikale Struktur. (S.17)

Einerseits wieder eine fragwürdige Aussage über das Improvisieren, andererseits der wichtige Hinweis auf die vertikale Komponente der indischen Musik.

Mit Blick auf das Schema könnte ich fragen, ob mit der Mündlichkeit in Indien nun grundsätzlich etwas Nicht-Fixiertes gemeint sein soll, und ob die Schriftlichkeit im Westen eigentlich einer abweichenden, improvisatorisch erweiterten Interpretation wirklich entgegensteht. In jeder mündlichen Überlieferung gibt es doch durchaus fixierte (unantastbare) Gebilde: in der südindischen Tradition kennt man eindeutig melodisch-rhythmische Kompositionen, deren tongenaue Wiedergabe von allen Kennern streng überwacht wird. Die Werke bestimmter Komponisten um 1800 gelten bis heute als sakrosankt. Es gibt in Süd und Nord zahllose Trommel-Kompositionen, die zwar nur im Gedächtnis der Interpreten „aufgezeichnet“ sind, jedoch dergestalt verfügbar, dass sie z.B. als Geschenk weitergegeben werden können. Auch jeder nordindische Künstler kennt eine riesige Anzahl eigener und fremder „Compositions“, Melodiegebilde, die refrainartig wiederkehrend das Rückgrat seiner Konzertvorträge bilden.

Wenn etwa Joh. Seb. Bachs zweistimmige Inventionen einen hohen Grad entwickelter „Mehrstimmigkeit“ realisieren, darf man ein raffiniertes Wechselspiel zwischen Sitar-Melismen und Tabla-Rhythmen keineswegs als Beispiel für „Einstimmigkeit“ subsumieren. Die indische Improvisation ist einerseits nicht zu leugnen, andererseits wieder in vielen Details so streng determiniert, dass man dafür einen neuen Ausdruck wählen müsste, um nicht eine Freiheit vorzugaukeln, die dort fast ebensowenig besteht wie in Europa beim Vortrag einer Beethoven-Sonate. (Übrigens soll diese klingen, als werde sie gerade geschaffen, – und nicht wie ein Schrift-Stück.)

Ein wichtiger Punkt wäre, dass die westliche Kunstmusik im künstlich eingehegten Raum entstand bzw. geschaffen wurde (Kloster und Kirche), während Volksmusik nicht etwa aufhörte zu existieren, soziologisch jedoch vollständig ausgegliedert wurde. Die indische Raga-Musik (zweifellos Kunst-Musik) kann von sich behaupten, dass sie zu 100 % auf Volksmusik basiere (Madhup Mudgal im Interview 15.04.1995); Wechselwirkungen sind also strukturell nicht ausgeschlossen.

Um es zuzuspitzen könnte man sagen: die westliche Musik ist der exotische Sonderfall, die indische Musik der Normalfall. Indische Musik kann man lernen, indem man bei Null anfängt, beim Grundton(-Klang); westliche Musik kann man nur lernen, indem man einen Teil der gesamten Musikgeschichte durchwandert, also wenigstens von 1600 bis 1900. (Man fängt nicht bei Null an, sondern mit der Kadenz, der Harmoniefolge I – IV – V – I.) Wer es kürzer haben will, halte sich an Max Regers Leitsatz „B-a-c h ist Anfang und Ende der Musik“ und beginne mit den ersten 4 Takten des Wohltemperierten Claviers.

Übrigens habe ich Bauchschmerzen bei allen allgemeinen Ausführungen zur Musik in Indien und Europa, würde aber selbst sogleich mit den Details beginnen: die Behandlung (Aussparung) des Grundtons im indischen Raga Marva und die Bedeutung des „Neapolitaners“ in der westlichen Harmonielehre. Und  so meldet sich Widerspruch, wenn ich bei Ronald Kurt auf Allgemeinheiten über Bach stoße, etwa Seite 36 – „Kunst der Fuge“ als Abschiedswerk (?), keinesfalls, man lese bei Peter Schleuning oder Christoph Wolff nach – , über Beethoven und das Subjektive als das „Allgemein-Menschliche“ (Seite 37). Oder bei dem Begriff der „Mimesis“, dessen Bedeutungsbreite auf das bloße Nachahmen im Schüler-Lehrer-Verhältnis reduziert wird, das in Indien extrem ausgeprägt sei.  „Die Bereitschaft zur Mimesis fungiert dabei als Bedingung für die Möglichkeit, dem Unterscheiden die Ich-Grundlage zu entziehen.“ (Seite 120) Und schon sind wir im Philosophisch-Allgemeinen. Hervorzuheben wäre dagegen, dass der Unterricht bei einem Meister auch im Westen unabdingbar ist und nicht halbherzig vonstatten geht. Schüler, die dem Lehrer ständig ihr unerfahrenes Ich und ihre eigene kleine Meinung entgegensetzen, sind auch im Westen hoffnungslose Fälle. Die Unterordnung unter den Komponisten ist ohnehin allererstes Gebot. Wer dagegenhält mit „Aber ich fühle es anders!“ ist auch bei uns ein Dummkopf. Der Geist des Werkes ist bei uns traditionellerweise genau so hoch angesiedelt wie in Indien der Geist des Ragas. (Ein Unterschied besteht in der religiösen Anbindung, die in Bachs Zeit allerdings noch betont wurde; wenn sie fehlte, hörte er nichts als  „ein teuflisch Geplärr und Geleyer“. In der Tat: das sieht man heute anders.)

Der Begriff der Mimesis (Ronald Kurt Seite 121) wird also als „nachahmende Handlung“ viel zu eng gesehen. Er wäre zu klären vor dem Hintergrund so heterogener Anwendungen wie in Berthold Auerbachs Buch zu Mimesis oder in der musikalischen Interpretationslehre von Adorno bis Jürgen Uhde und Renate Wieland:

Uhde Mimesis etc Uhde Mimesis b

Quelle Renate Wieland / Jürgen Uhde: Forschendes Üben. Wege instrumentalen Lernens. Über den Interpreten und den Körper als Instrument der Musik. / Bärenreiter Kassel etc. 2002

Man sage nicht: das sei ja der ganze Schrecken einer umfassenden Interpretationslehre. Die Übermittlung der Mimesis zwischen Lehrer und Schüler in diesem Sinn, die verbal ausformuliert unendlich viel Zeit in Anspruch nehmen würde, kann aber im direkten Unterricht durchaus wortlos geschehen. Das Stück liegt im Schriftbild vor ihnen auf dem Notenpult und wird in gemeinsamer Arbeit in Geste und Geist verwandelt. Fast wie in Indien – dort allerdings ohne Schriftbild.

P.S.

Übrigens ist meine Behandlung der Arbeit von Ronald Kurt nicht als grundsätzliche Kritik zu verstehen. Das Buch ist sehr aufschlussreich und in vieler Hinsicht empfehlenswert, es gibt nichts Vergleichbares! Und wenn ich einzelnes herausgreife, um es auf meine Weise zu untersuchen, so bin ich zugleich dankbar dafür, dass es mich aktiviert und herausfordert, – vielleicht vertraue ich zu sehr auf meine musikalische Intuition und misstraue unnötigerweise einem methodischen Ansatz, den ich nicht ganz angemessen finde. Wobei ich vor allem dann kritisch reagiere, wenn ich unsere eigene Musik allzu pauschal behandelt sehe. Das beginnt schon bei Max Weber, dessen Konzept der Rationalisierung letztlich auf einer Verabsolutierung und Idealisierung der abendländischen Harmonik beruht.

Indien, Musik und Drogen 1969

Indische Sicht 

Neben den Teenagern gab es noch ein andere große Gruppe – bekannt als „Hippies“ – die zu meinen eifrigen Bewunderern wurden. Ich fand es sogar noch schwieriger, sie zu einem Verständnis und einer Wertschätzung unserer Musik aus dem richtigen Blickwinkel zu bringen. Der Grund dafür war, glaube ich, daß viele von ihnen verschiedene Arten halluzinogener Drogen nahmen und unsere Musik als Teil ihrer Drogenerfahrungen benutzten. Obwohl mich anfangs ihre Auffassung von indischer Musik als „psychedelischer“, geistiger und erotischer Erfahrung verletzte, merkte ich später, daß das nicht allein ihre Schuld war. Ich entdeckte, daß einige selbsternannte amerikanische „gurus“ in den letzten Jahren falsche Informationen über Indien verbreitet und gesagt hatten, fast alle bekannten Asketen, Denker und Künstler nähmen Drogen. Diese „gurus“ behaupteten sogar, man könne nicht richtig musizieren, meditieren und nicht einmal  das heilige Wort OM aussprechen, ohne unter dem Einfluß solcher Drogen zu stehen.

(…)

Indien wird nun überlaufen von ungewaschenen, rebellischen jungen Leuten; es ist wirklich traurig, die jungen Amerikanier und Europäer aus guten Familien zu sehen, die versuchen, auf diese Weise in Indien irgendeine Art von Spiritualität und Seelenfrieden zu finden. Sie merken nicht, daß sie nicht der echten indischen Religion, Philosophie und Denkungsart folgen, sondern sich wegen der Verbindungen mit Drogen und, in gewissem Maße, mit Sex, zu einigen der offen pervertierten und degenerierten Denkschulen hingezogen fühlen.

Bei einem meiner letzten Besuche in den Vereinigten Staaten kamen einige junge Männer zu mir, um Sitar zu lernen. Als ich sie zuerst sah, flößte mir ihr Aussehen Mitleid ein – sie waren blaß und anämisch und hatten glänzende, glasige Augen, ihre Hände hingen zitternd vor ihren schmutzigen Körpern, und sie zeigten eine seltsame, unnatürliche Nervosität. Als ich später merkte, daß einige recht begabt waren, wurde ich noch trauriger. Ich erfuhr dann, daß diese Jungen nicht nur gewohnheitsmäßig Marihuana rauchen, sondern auch LSD, Methedrin und Heroin nahmen. Ich versuchte verständnisvoll zu sein, und erklärte ihnen, sie müßten zuerst diese Gewohnheiten ablegen, bevor ich in Betracht ziehen könne, sie zu unterrichten. Doch sie antwortete mir mit den gleichen Worten, die ich inzwischen von Hunderten von anderen gehört habe – sie fühlten sich durch Drogen so viel „bewußter“, wären so viel geistvoller, und alles schiene viel schöner.

Quelle: Ravi Shankar – Meine Musik mein Leben Einleitung von Yehudi Menuhin  Nymphenburger Verlagshandlung München 1969 (Seite 185 f)

Westliche Sicht

Ich habe Ali Akbar Khan zum ersten Mal live spielen hören, als ich im Herbst 1969 als Erstsemester am Reed College in Portland, Oregon, anfing. Ich hatte seine Musik schon viel gehört und manchmal mit der Gitarre dazu gejamt, aber ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ein Konzert zu erleben. Als guter Hippiejunge bereitete ich mich mit einer kräftigen Dosis Meskalin vor, meiner damaligen Droge der Wahl. Auf meinem Platz in der ersten Reihe war ich wie hypnotisiert von der Musik. Aber nach dem Konzert ging das Feuerwerk für mich erst richtig los. Die Leute liefen herum, redeten über den nächsten Tag, und ich saß ehrfürchtig da und fragte mich, warum alle aufgestanden waren. Die Musik spielte doch weiter!!! Der Raga, der Tala, alles lief weiter, und ich war der einzige, der das bemerkte. Die Gespräche um mich herum WAREN der Raga und das Trapsen der Füße WAR der Tala. Ich erlebte eine göttliche Darbietung der Musik der Sphären, des Liedes des Lebens! Wir haben natürlich alle transzendentale Drogenerlebnisse, aber wie viele davon dauern länger an als bis zum nächsten Sonnenaufgang? Diese Erfahrung ist jedenfalls immer noch bei mir. Ali Akbar Khan hatte mich auf die Ebene reinen Klanges gebracht, wo die Musik Gott berührt, wo die Musik Gott IST. Und damit hat er mein Leben in neue Bahnen gelenkt.

Quelle: Jais Blog – Ali Akbar Khans göttliche Musik – Notizen von Jai Uttal In: India Instruments  Rundbrief September / Oktober 2015 HIER (unter 5.) s.a. http://jaiuttal.com/

Ich erinnere mich, dass ich Anfang der 60er Jahre auch mit solchen Gedanken spielte, mir auf Biegen und Brechen neue Welten erschließen wollte, Aurobindo las und auch – mit Goethes „Faust“ als Schulerfahrung im Rücken – allen Ernstes magische Breviere anschaffte , die mir irgendwie beweiskräftig erschienen… irgendwie …. das ging vorbei, und als ich echter indischer Musik begegnete, konnte ich sie mit Esoterik nicht mehr verwechseln.

Wolff Indien  Magie Toxikologie  a Magie Toxikologie b

Zum Gebetsruf

Ich unterstelle, dass die Zusammenfügung kleiner Meldungen nicht dem Zufallsprinzip folgt. Und im Fall der aktuellen Zeitung, habe ich einen mit Bild versehenen Artikel („40000 Jungfrauen tanzen für den König von Swasiland“) , der sich nach oben hin anschloss, noch mit Bedacht nicht einbezogen (die Zeitungsleser aber sind gewissermaßen dazu eingeladen, alle nur möglichen Querverbindungen zu improvisieren).

ST Muezzin und Schlaf

Ich kann darüber nicht lachen. Ich liebe den Gebetsruf zu sehr. Solo ebenso wie im zufälligen Ensemble: In Casablanca habe ich mein Mikrofon aus dem Hotelfenster gehalten, als aus allen Himmelsrichtungen die Stimmen der Muezzins (aus Lautsprechern) ineinandertönten. Ich liebe auch den Klang der Kirchenglocken mit ihrem seltsamen Zufallsrhythmus. Aber noch mehr die „wilde“ Musik von Nadaswaram-Oboe und Mrdangam-Trommel im Hindutempel. Dem Urteil der Gläubigen nach ist meine Liebe nicht viel wert, – hat sie doch nur mit Musik zu tun, auch wenn das Ohr (oder der Gehörssinn) für heilig gilt. Aber ich meine wirklich „nur“ Klang und Musik, und alles weitere Wissen ist mir sekundär. Wenngleich ich die starke Wirkung der Worte nicht leugne…

Suche ich nach einem schönen Gebetsruf auf youtube, stört mich die oft damit verbundene Werbung, es klingt mir bereits zu sehr nach Mission. Ich vergaß zu erwähnen, dass ich den Weg der Wissenschaft liebe. In diesem Fall sieht er so aus:

Music in Egypt Music in Egypt Quelle ISBN

Die beigefügte CD beginnt mit einem Gebetsruf, der im Textteil analysiert wird. Siehe HIER. Ich lasse eine Kopie des Azan-Textes (Buch Seite 2) folgen; sie ist hilfreich, wenn man einen der Rufe auf youtube im Detail mitlesen will. Aber die bei Scott L. Marcus analysierte Melodie habe ich nicht im Internet gefunden (jedoch Mohamed Gebril mit eindrucksvollem Qoran-Vortrag).

Gebetsruf TEXT

Die erste Analyse bei Scott L. Marcus im Internet HIER. Weiteres auf den Seiten 1-15 im Buch, dankenswerterweise mit dem Kapitel THE MELODIC ASPECT OF THE CALL TO PRAYER. Darin die Höranweisung:

Activity 1.2 Listen again to CD track 1, giving special attention to the many melismas. Photocopy the text given in Activity 1.1 and mark those syllables that are treated melismatically. Note that the melismas differ when a line is repeated.

HIER (?) oder hier

KAMASUTRA als Kopf-Problem

INDIEN-Filme auf arte – noch bis 14. Juli !!!

Man sollte diese Filme nicht versäumen, wenn man sich für die heutige Situation in der indischen Gesellschaft interessiert. Es reicht nicht, irgendwie davon gehört zu haben, dass einzelne Vergewaltigungen spektakulär diskutiert wurden und dass die Lage der Frauen in dieser höchst differenzierten Kultur, der angeblich größten Demokratie der Welt, offenbar desolat ist. Nach einem früheren Beitrag habe ich mir die Notwendigkeit einer indischen Aufklärung, eine Aufklärung in und über Indien – anlässlich des BBC-Films India’s Daughter – zum Thema gemacht, nämlich hier. Es ist unverändert akut geblieben und geht nicht nur Indien an, zumal wenn man der festen Überzeugung ist, dass gerade die indische Kultur (nicht nur die klassische indische Musik oder die neue Literatur der Inder im Ausland) eine große Bedeutung für den Rest der Welt hat. Sie ist paradigmatisch.

Der Film „Sex: Tabu im Lande des Kamasutra“ war gestern abend auf ARTE zu sehen und kann jetzt noch bis nächsten Dienstag übers Internet abgerufen werden. Hier folgt ein Pressetext, in dem das Wort „Tollereien“ befremdet, die französische Version sagt es eindeutig: Récemment, un des plus célèbres éditorialistes indien débutait son article ainsi : „Comment nous avons tué le Kamasoutra“. Effectivement, le pays qui, le premier, a répertorié nos positions sexuelles, se trouve aujourd’hui en panne d’imagination. Der Originaltitel des Filmes lautet: „Sexe, mensonges et frustrations“. Ein Film von David Muntaner und Damien Pasinetti.

ZITAT (Pressetext arte)

Vor kurzem eröffnete einer der berühmtesten indischen Journalisten einen Artikel mit dem Satz: „Wie wir das Kamasutra zu Grabe trugen.“ Es stimmt: Ausgerechnet dem Land, das seine Tollereien als erstes zu Papier brachte, mangelt es heute beträchtlich an Fantasie. Vieles, was mit Sex zu tun hat, ist inzwischen sogar tabu. Während Indien wächst, sich entwickelt und modernisiert, bleibt es auf diesem Gebiet erschreckend altmodisch. Und die konservative Welt, in der die jungen Inder aufwachsen, kontrastiert lebhaft mit den Bildern, die ihnen über Internet, Kino und Werbeindustrie vermittelt werden. Besonders schlimm steht es um das Frauenbild: Westliche Frauen gelten seit langem als freizügig und frivol, doch auch die indische Frau ist in neueren Bollywoodstreifen und indischen Medien meist kaum mehr als ein reines Sexobjekt.

Die Diskrepanz zwischen einer fast mittelalterlich anmutenden Realität und den Frauenfantasien der Medien sorgt bei indischen Männern für große Frustration. In der Dokumentation beleuchten Ärzte, Journalisten und Soziologen sowie Vertreter der indischen Sexbranche die schwierige Beziehung der indischen Männer zu den Frauen.

Hinweis im Vorfeld: Dieser Film ist nicht für Jugendliche unter 18 geeignet.

http://www.arte.tv/guide/de/051049-000/sex-tabu-im-land-des-kamasutra#arte-header HIER 

Was gab es bisher? Einer der neuen Aufklärer Indiens schien Sudhir Kakar mit Frau Katharina zu sein; dies ist die erste Hälfte der Inhaltsangabe des gemeinsamen Buches, das vor fast 10 Jahren erschien:

Kakar Inhalt

Sudhir & Katharina Kakar: DIE INDER Porträt einer Gesellschaft / Verlag C.H.Beck München 2006

Zu Ergänzung lese man das Interview mit Katharina Kakar im Deutschlandfunk hier.

Schon vor 30 oder 40  Jahren gab es einzelne Hinweise auf den problematischen und widersprüchlichen Hintergrund, z.B. in  dem schönen Indien-Buch von Gisela Bonn, – aber es ist auch typisch, dass der eigentlich alarmierende Satz doch spirituell so eingehüllt ist, dass man ihn kaum zur Kenntnis nahm:

Gisela Bonn Khajuraho

Eine Seite vorher ist von der tantrischen Lehre die Rede: demnach wohne das höchste Wissen, die erhabenste Weisheit – Pradschna – im weiblichen Organ, das männliche Prinzip aber sitze im Kopf, im Verstand. Erst beides vereint ergebe das Ganze, die Harmonie. Merkwürdig, wie es nun weitergeht:

Die Yab-Yum-Vorstellung beruht auf dem Glauben, die Frau sei das aktive Prinzip, die Lebenskraft, die sie dem schlafenden männlichen Prinzip, durch ihre Umarmung einflößt. Das Yab-Yum, das Bild der Umarmung, kann man auch verstehen, wenn man den Mann als Prinzip des Weges sieht, auf dem das weibliche als ein transzendentes Ziel einherzieht.

(Fortsetzung siehe oben im abgebildeten Text, und da steht seltsam erratisch ein Satz, als sei die Humanisierung des Geschlechterverhälnisses im Prinzip schon verwirklicht: )

Das Yab-Yum (…) humanisiert eine Religion, die für ihre Verachtung der Frau, für die vollkommene Negierung der Welt bekannt war.

Quelle  Gisela Bonn / Giselher Wirsing: INDIEN und der Subkontinent / Reiseführer / Horst Erdmann Verlag Tübingen Basel 1973 ISBN 3 7711 0160 3 (Seite 63)

Man erinnere sich an diesen Satz, wenn man in dem oben annoncierten Film die indischen „Touristen“ sieht, die ihre gewagten Tempel-Skulpturen fotografieren, als kämen sie aus einer anderen Welt. Ihre eigene (moralische) Welt aber ist die des britischen Puritanismus geblieben, die ihnen als koloniales Erbe hinterlassen wurde. Die Konfrontation mit der westlichen Welt ist zweifach: zeitgenössisch und anachronistisch.

Weitere Filme zum Thema Indien auf ARTE:

Indien – Gewalt im Lande Gandhis

Ein Land voller Pracht. Ein Land voller Ungerechtigkeit. Weltweit das unmenschlichste aller Systeme: Kasten, wie im Mittelalter. Ein Land der Moderne: Atommacht, Global Player, Hightec Jongleur, Raumfahrtprogramm zum Mars. „Den Mars zu erreichen ist eine Sache, 500 Millionen Menschen ohne Toiletten eine andere. Außer man schießt diese 500 Millionen hoch zum Mars.“ (Villoo Patell, Managerin)

ab 9:00 über „Dorfgerichte“ (die jenseits der offiziellen Rechtsordnung wirken)

bei 15:25 der Satz: „Die Kaste  ist das Zentrum der indischen Demokratie, zusammengehalten von viel Gewalt.“ (Arundhati Roy)

 HIER http://www.arte.tv/guide/de/050500-000/indien-gewalt-im-lande-gandhis / Ein Film von Lourdes Picareta (2015) / Länge 53 Minuten

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INDIEN – Land mit Zukunft (zugleich ein fabelhafter Streifzug durch die Geschichte seit 1947)

HIER http://www.arte.tv/guide/de/045935-000/indien-land-mit-zukunft / Ein Film von Laurent Jaoui (2012) / Länge 95 Minuten

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Ich rufe mir einige Sätze in Erinnerung, die ich mir Anfang der 90er Jahre aus einem fesselnden Indien-Roman des FAZ-Korrespondenten Thomas Ross notiert habe; da heißt es über den Protagonisten:

In Indien sah er eine Metapher unserer Welt, das war es, was ihn vor allem hinzog. „Indien ist noch Magma, noch nicht erkaltet und erstarrt wie Europa“, sagte er, „Indien ist ein brodelnder, blasenwerfender Kessel, und niemand weiß, ob er eines Tages überkochen wird. Steht die Menschheit heute nicht vor der Notwendigkeit, auf einem geschrumpften Erdball miteinander auszukommen? Und nirgendwo auf Erden haben verschiedene Religionen, Sprachgemeinschaften, Rassen und Kulturen in einem Land solcher Größenordnung und durch so lange Zeitläufe hindurch miteinander zu leben versucht wie in Indien. Indien ist ein einzigartiges Experiment der Menschheit“, sagte er, „und wenn dieses Experiment des Miteinanderlebens scheitert, dann scheitert die Menschheit.“

Quelle Thomas Ross: Der Tod des heiligen Baumes. Bericht aus dem innersten Indien. Carl Hanser Verlag München Wien 1991 / ISBN 3-446-16186-4

Ich bin mir nicht sicher, was ich heute – fast 25 Jahre danach – und einen Tag nach dem Resümee dieser Indien-Filme über das einzigartige Experiment der Menschheit denken soll. Hätte ich im Augenblick die Ruhe, würde ich eine der großen Raga-Interpretationen von Kala Ramnath hören, vielleicht den Frühlings-Raga, den sie in Bielefeld mit Abhijit Banerjee gespielt hat…

Und alles wäre gut.

What about India’s Daughter?

Es ist bekannt, dass die indische Öffentlichkeit und die Weltöffentlichkeit gehindert wird, diesen Film zu sehen. Es geht aber darum, weiterhin zur Kenntnis zu nehmen, was der Fall ist, – und wie die Kontrahenten argumentieren.

Ich möchte mich zumindest daran erinnern und auf dem Laufenden halten, was in dieser Hinsicht geschieht (zu NDTV siehe hier):

Siehe auch hier:

http://www.independent.co.uk/news/world/asia/indias-daughter-how-india-tried-to-suppress-the-bbc-delhi-gangrape-documentary-10088890.html

Lesenswert auch der folgende Beitrag, – schon wegen der zahlreichen Meinungsäußerungen:

http://urbanasian.com/whats-happenin/2015/03/bbc-releases-indias-daughter-on-youtube/

Nachtrag 29. Mai 2015

Man lese zu diesem Thema (und der aktuellen gesellschaftlichen Situation in Indien) das Gespräch, das die Autorin Clair Lüdenbach für www.faust-kultur.de mit dem Schriftsteller RANA DASGUPTA geführt hat: HIER.

Ausgehend von der Frage:

Die Vergewaltigungen in Delhi und anderswo in Indien kommen nun in die Medien und die Täter vor Gericht. Das ist eine neue Entwicklung. Man kritisiert auch die Verteidiger der Vergewaltiger, die sich auf die Seite der Täter stellen. Und man diskutiert über moralische Werte. Das ist doch eine Errungenschaft, da bisher alles unter den Tisch gekehrt wurde. Gibt es da Hoffnung?

Frühlingsraga in Bielefeld

Kala Ramnath live aus der Oetkerhalle

HÖRZU Indien 150311 Programmzeitschrift HÖRZU

Kala & Werner Fuhr 140311 kl Kala Ramnath & Werner Fuhr (WDR)

Zur Oetkerhalle – zeittypisch, dass man nichts über den Wandteppich im Kammermusiksaal erfährt, wohl aber, was Helge Schneider zum Holzcharakter der Halle eingefallen ist. Adorno hat gesagt, Architektur sei gefrorene Musik??? Es ist heute leicht, sich eines besseren zu belehren, siehe unter dem Begriff „Bezüge“ im Wikipedia-Artikel Architektur. Die Jury hatte einst gesagt:

„Der architektonische Aufbau des Ganzen ist von großer melodischer Schönheit.“

Niemals im Leben ist mir der zweifache Kontrast der Kulturen wunderbarer erschienen, als jetzt, angesichts der melodischen Schönheit Indiens, inszeniert vor dem barocken Wandteppich.

Probenbild (Handyfoto JR)

Kala Bielefeld Handy 150311 x

Frühling in Indien: Raga Basant (Provincial Mughal c. 1610) Krishna mit Gespielinnen

Basant Miniatur kl

Blick vom Sparrenberg auf Bielefeld (der Frühling lässt noch auf sich warten)

Bielefeld 7

Bielefeld 13

Bielefeld 12

Fotos: E.Reichow

Programm Kala Ramnath (bis 10. April 2015 nachzuhören HIER)

1) Raga Gorakh kalyan (ab 4:16 bis 53:34) anschl. Pausenbeitrag JR (Text hier)

Raga Gorakh kalyan

2) Raga Basant (ab 1:18:44 bis 1:37:53)

Raga Basant

In beiden Ragas, also 1) und 2), ist der Tala des jeweils ersten Teils: EKTAL (12). In 1) im Tempo Vilambit (Slow), was  bedeutet: 48 micro beats; in 2) schnelles Tempo. Ähnlich wie in der Übung (siehe unten).

3) Raga Chayti (ab 1:39:43 bis 1:51:35)

4) Raga Bhairavi (erst nach Ende der Sendezeit)

Übung „Music in Motion“ Gorakh Kalyan HIER, Basant HIER. Tala Ektal z.B. HIER (beginnen bei 3:07).

Bielefeld Bühne Kammermusiksaal Gobelin

Nachtrag (Nach-trag, nicht Nacht-rag) 15.03. 6:00 h

Etwas, was ich nicht vergessen möchte: K.R. erwähnte im Gespräch, dass sie die Töne sehen kann. (Sie kennt noch nicht „Music in Motion“. Also: das ist nicht gemeint!!!) Ich hätte nachfragen müssen, wie denn? Körperhaft, wie „Korpuskeln“? An bestimmten Orten, die sie im Spiel aufsuchen wird, wo sie ihnen auf dem Gang durch den Raga begegnet? Ich fühlte mich an Wagner erinnert, der erzählt, dass ihm als Kind Töne leibhaftig erschienen seien, die Quart, die Quinte… Vor allem an Viktor Zuckerkandl, der meines Wissens als einziger solche Fragen untersucht hat: die nach dem Ort in der Musik. Wo befinden sich die Töne, die ich höre, – in welchem Raum? Ich habe einmal eine SWR-Sendung über V.Z. gemacht und das arg esoterisch strapazierte Rilke-Wort vom Weltinnenraum dafür verwendet. Aber Zuckerkandl – das ist bemerkenswert – untersucht es wissenschaftlich-konkret, gewissermaßen topographisch. Und so schien es mir auch hier im Gespräch gemeint. – Ausführlich erläuterte sie, weshalb für sie Musik-Interpretation mit Meditation identisch sei. Leider habe ich nicht nachgefragt, weil mir das ein indischer Topos zu sein schien; aber vielleicht wäre doch Spezifisches zum Vorschein gekommen.

Ein anderes Thema mit A.Banerjee: dass ihm afghanische Rhythmen seltsam „irrational“ (dieses Wort hat er nicht gebraucht) erschienen seien: es habe sich – nach Meinung der Interpreten um Fünfer oder Siebener gehandelt, aber sie seien so „zusammengezogen“ ausgeführt worden, dass man es unmöglich zählend erfassen konnte. (Ich fühlte mich mich an die polnischen Rhythmen und an die bekannte Diskussion zwischen Chopin und Meyerbeer über den Mazurka-Takt und seinen „Nationalcharakter“.) All dies schließt sich „zufällig“ (jedenfalls nicht explizit) an das im Pausenbeitrag behandelte Phänomen an. Die beiden kannten ihn ja nicht. Aber K.R. reagierte lebhaft, als ich von Madhup Mudgal sprach, offensichtlich ein Künstler, der sie interessiert. Vielsagend, wie sie auf andere Namen mit Zurückhaltung reagiert. Insbesondere auf solche, die für Fusion einstehen, auch sehr bekannte, ungeachtet der Tatsache, dass sie selbst auch zuweilen in solchem Zusammenhang genannt wird. Eine westliche Manie, unsere Journalisten sehen darin reflexartig eine fortschrittliche Haltung.

***

Bemerkenswert ist die zufällige Ähnlichkeit der Bildsujets: Die Visualisierung des Ragas Basant stellt Krishna im Kreis der Gopis (Hirtinnen) dar, die am Ufer eines Gewässers Musik machen und tanzen; der Wandteppich zeigt einen behelmten Mann, der in den Kreis tanzender Mädchen einbezogen ist, eins von ihnen sitzt im Gras und schlägt ein Tamburin. Im Hintergrund ein Schiff. Odysseus trifft auf Nausikaa? (Keuscherweise alle bekleidet, anders als bei Homer, wo sie zudem nicht tanzen, sondern sich mit Ballspiel vergnügen.)

Die kleine und die große Geschichte

Das Private und die Welt

Es ist keine Überheblichkeit, sich selbst in Beziehung zum Ganzen zu setzen, so wie es kein Zeichen von Bescheidenheit ist, wenn man sich selbst als Nichtigkeit behandelt. Man bewegt sich auf gebahnten Wegen, auch wenn man den nächtlichen Sternenhimmel betrachtet und sich als Sandkorn fühlt, man beruft sich auf Immanuel Kant, die Erbauer der Pyramiden oder Millionen Menschen vorher oder gleichzeitig. Wenn einem zwei von ihnen zum erstenmal gegenüber sitzen, wird man doch sehr bald von Großeltern und Verwandten reden, von der Gruppe, aus der man kommt, von den Generationen vorher, von der Geschichte der Sprache und der Ernährung, von der Bedeutung der Musik hier und dort. Zumal im Fall Indien, wo die klassische Musik, d.h. diejenige von bleibender Bedeutung, sich vor Jahrhunderten in zwei große Stile gespalten, den der karnatischen Südindiens und den der Hindustani-Musik. Im Fall der Geigerin Kala Ramnath innerhalb ein und derselben Familie, das Instrument selbst führt in die Tiefe der Geschichte. Im Fall des Tabla-Spielers Abhijit Banerjee schnell zurück zu jenem Punkt, als die Begegnung mit dem berühmten Namensvetter ihn in den Fokus öffentlicher Wahrnehmung führte. Weltöffentlichkeit. Das Dokument der Zusammenarbeit mit Nikhil Banerjee bedeutet ihm persönlich viel.

Kala Ramnath & Abhijit Banerjee

Banerjee CD

Die Jahreszahl trügt, entstanden ist die Londoner Aufnahme in den frühen 80er Jahren, Nikhil Banerjee starb am 27. Januar 1986, noch nicht 55jährig; Abhijit war ein junger Mann am Anfang seiner Karriere.

Das folgende Buch erreichte mich am Tag der Abreise nach Bielefeld, wo am 11. März das Konzert der indischen Künstler stattfand. Das ist der einzige Zusammenhang… Typisch. „Im Anfang war das Wort – aber sicher nicht die Schrift.“ Ob es in dieser Schrift ein Wort über die Musik gibt?

Parzinger Titel 1 Parzinger Titel 2

Nachtrag 18.03.2015

Schließlich machen wir Bekanntschaft mit den frühen Zeugnissen der Kunst. Wir staunen über frühe Musikinstrumente, doch stehen wir manchmal ganz und gar ungläubig vor Felsbildern, deren künstlerische Qualität und Ausdruckskraft noch heute dem Betrachter den Atem rauben. Waren es heilige Orte, an denen sich von Zeit zu Zeit Menschen versammelten und ihre Gedanken und Vorstellungswelten an den Höhlenwänden verewigten? Was bedeuten die Hände, die als Zeugnisse früher Individualität, was die Mischwesen, die vielleicht als schamanistische Bildelemente erscheinen? In diesen Fällen müssen wir bei der Interpretation besondere Vorsicht walten lassen, um nicht unsere eigenen Erwartungen und Vorstellungen in eine unendlich ferne Vergangenheit zurückzuspiegeln. Darin liegt generell wohl die größte Gefahr im Umgang mit prähistorischen Gesellschaften, die uns nicht bewusst mit Zeugnissen über sich selbst versorgt haben. Ein entscheidendes merkmal, die uns in diesem Buch begegnen, ist ihre Fremdheit und die Fremdheit der Lebensbedingungen, unter denen sie entstanden und wieder vergangen sind.

Quelle Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus Verlag C.H.Beck München 2014 (Seite 15)

Cueva_de_las_Manos Argentinien

Foto: Christof Berger January 2000 (Wikimedia siehe hier)

Zu Hand siehe auch HIER und hier.

Ravanastron – ein alter Irrtum

Urahn der Violine? 

Dieser Name fällt immer noch, wenn von der mythologischen indischen Heimat der Streichinstrumente die Rede sein soll. Der Ursprung dieser Theorie liegt offensichtlich in Europa, bei Wikipedia findet man folgenden Passus:

 Der französische Naturwissenschaftler Pierre Sonnerat (1748–1814) ließ sich in Voyage aux Indes orientales et à la Chine, fait depuis 1774 jusqu’à 1781 neben indischer Geschichte und Mythologie auch über die als harmonielos und unvollkommen beklagte  indische Musik und die ravanastron aus. Er schrieb, dass sich Bettelmönche, die er Pandarons nannte, auf der Fiedel ravanastron begleiteten. Ravanas Musikbogen ravanahattha, wie er in den altindischen Epen vorkommt, hatte sich zu einer Bogenharfe und schließlich zu einer Stachelgeige, also zu einem von der pinaki vina verschiedenen Instrumententyp entwickelt.

Zahlreiche frühere Musikologen beriefen sich auf Sonnerat und hielten den Streichbogen für eine sehr alte indische Erfindung. Der belgische Musikhistoriker François-Joseph Fétis (1784–1871) zitierte in seiner Biografie über Antonio Stradivari (Antoine Stradivari, luthier célèbre) von 1856 Sonnerats Feststellung zum Alter der ravanahattha und erklärte, dass der Violinenbogen aus Indien stamme.1915 fasste Curt Sachs die bisherige Einschätzung der ravanastron mit dem Wort „Stammvater aller Streichinstrumente“ zusammen.

Quelle Wikipedia HIER. (Die Anmerkungen und Links habe ich weggelassen.JR)

Nicht bekannt ist demnach, dass auch der große Instrumentenkundler Curt Sachs seine Ansicht später revidiert hat.

Den letzten Stand der Wissenschaft kann man im MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) Sachteil Band 8 Artikel „Streichinstrumente“ 1998) nachlesen, Autorin ist Marianne Bröcker. Wenn hier vom „Quellenbestand“ die Rede ist, kann man davon ausgehen, dass nichts unberücksichtigt geblieben ist, was zum Thema gehört und überprüfbar war.

Inzwischen gelten diese Theorien als überholt, denn nach dem bisher bekannten Quellenbestand haben Streichinstrumente weder ein so hohes Alter, noch sind sie auf eines der früher diskutierten Instrumente zurückzuführen. Tatsächlich lassen sie sich nicht vor dem 10. Jahrhundert nachweisen und entstanden, wie Werner Bachmann überzeugend dargestellt hat, offensichtlich in Mittelasien (…)

Die Existenz des Streichinstrumentenspiels läßt sich in Indien erst im 12. Jahrhundert und in Ostasien im 13. Jahrhundert eindeutig nachweisen (…). In Europa begann es sich Anfang des 11. Jahrhunderts, über das arabische Spanien und Byzanz kommend, zu verbreiten und entwickelte hier sehr schnell eine große Vielzahl an regional unterschiedlichen Streichinstrumenten. (…)

Es ist davon auszugehen, daß der Ursprung der Streichinstrumente nicht in der ‚Erfindung‘ eines neuen, eigens entwickelten Instrumentes zu sehen ist, sondern daß existierende Saiteninstrumente nicht mehr gezupft, sondern mit einem Reibstab oder Bogen angestrichen wurden.

Man kann sich also nach wie vor auf die im Jahre 1966 vorgelegten Forschungen von Werner Bachmann berufen, wenn gleich er selbst am Ende des Kapitels zur philologischen Untersuchung auf Grund literarischer Belege – eine seltsame Theorie zur uigurischen Herkunft des Streichbogens zitierend – vorsichtigerweise schreibt:

Trotz dieser und ähnlicher Untersuchungen aus jüngster Zeit ist die „Indientheorie“ im Forschungsbereich der Vor- und Frühgeschichte des Streichinstrumentenspiels bisher noch nicht faktenmäßig widerlegt und wird auch neuerdings zur Diskussion gestellt.

Wie gesagt: das war der Stand 1966. Die Musikethnologin Marianne Bröcker ist mit dem von ihr referierten Stand 1998 nicht weniger vertrauenswürdig als Bachmann. Hier sein Inhaltsverzeichnis, soweit es unser Thema betrifft:

Bachmann Streichinstrumente Inhalt

Zum Begriff Ravanastron siehe die Korrektur des Artikels der Enyclopedia Britannica HIER.