Archiv für den Monat: Mai 2020

Palmers Fauxpas und die Grundrechte

Jürgen Habermas im Gespräch mit Klaus Günther 

Oder zuerst mal Lanz mit und über Palmer: Im Sat.1-Frühstücksfernsehen hatte Palmer vorige Woche gesagt: „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Beim Großteil der an einer Corona-Infektion Gestorbenen handele es sich um Menschen mit Vorerkrankungen, die ohnehin nicht mehr lange zu leben gehabt hätten.

 bis 29.5.2020 HIER ab 20:23

 Weiterlesen? eine kleine Hürde HIER

ZITAT Klaus Günther:

Das Recht auf Leben in Artikel 2 Absatz 2 GG war ursprünglich vor allem ein Abwehrrecht gegen einen Staat, der häufig mit Zwang und Gewalt willkürlich in das Leben seiner Untertanen eingegriffen hat. Infolge von Krankheiten sterben zu müssen gehörte in früheren Zeiten dagegen zum allgemeinen Lebensrisiko, das sich nur selten vermeiden oder reduzieren ließ. Erst seitdem wir über ein hochkomplexes und aufwendiges medizinisches Versorgungssystem verfügen, stellt sich überhaupt die Frage, was und wie viel Staat und Gesellschaft tun können und müssen, um vorhersehbar lebensgefährliche Krankheitsverläufe zu verhindern oder abzumildern.

Innerhalb des Rechts auf Leben tritt damit eine zweite Bedeutungskomponente hervor – die Verpflichtung des Staates, Leben und Gesundheit zu schützen, und zwar nicht nur, wie immer, vor rechtswidrigen Angriffen Dritter, sondern auch durch die Bereitstellung adäquater medizinischer Versorgung. Das steht jedoch unter dem Vorbehalt des Möglichen; keine Gesellschaft kann alle ihre Ressourcen in das Gesundheitssystem stecken. Je nachdem aber, wie gut eine Gesellschaft ihr Gesundheitssystem ausstattet und funktionsfähig hält, verschiebt sie die Grenze zwischen unvermeidbaren und vermeidbaren tödlichen Folgen der „allgemeinen Lebensrisiken“. Hier scheint mir der Kern des Abwägungsstreits zu liegen: Es herrscht Uneinigkeit darüber, wo die Grenze zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren tödlichen Krankheitsverläufen angesichts des hohen und in seinen Folgen nicht absehbaren Aufwands an Freiheitsverzichten gezogen werden soll – zwischen Minimum und Maximum.

Jürgen Habermas:

Ihre Beschreibung der unübersichtlichen Folgen der rigorosen Eindämmungspolitik leuchtet mir ein. [wurde hier nicht wiedergegeben JR] Wir müssen den Spielraum für rechtlich unbedenkliche Lockerungen erst ausloten. Aber Ihre Beschreibung berührt den kontroversen Punkt erst, wenn Sie im Vorbeigehen sagen, dass die Abwägung „vorstrukturiert“ sein kann durch einen Vorrang des Rechts auf Leben: Soll das heißen, dass es „immer“ Vorrang behält? Worauf könnte sich dieser Vorrang stützen, wenn das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gegen alle übrigen Grundrechte abgewogen werden kann?

Schon Ronald Dworkin hat uns vor der Metapher der Waagschale gewarnt. Rechte beziehen sich nicht auf „Güter“, die man nach Gewicht abwiegen könnte. Rechte sind auch keine „Werte“, die man nach politisch-kulturell geteilten Vorlieben in eine transitive Ordnung bringen könnte. Die Entscheidung, ob ein recht auf einen Fall zutrifft, erlaubt nur entweder ein „Ja“ oder ein „Nein“. Im Laufe der richterlichen Abwägungsprozesse können Grundrechte miteinander konkurrieren. Aber im Ergebnis behält eines die Oberhand, das heißt, es sticht alle anderen aus, auch wenn es erforderlichenfalls im Hinblick auf die Beeinträchtigung der anderen „zurücktretenden“ Grundrechte eingeschränkt werden muss.

(Fortsetzung folgt)

Ich muss einfügen, dass etwas Problemfremdes mich motiviert hat, bei diesem umfangreichen ZEIT-Artikel nicht lockerzulassen. Die umständlich klingende, aber sehr präzise juristisch-philosophische Sprache reizt mich in mehrfacher Hinsicht, ich ärgere mich, wenn ich konzentrationsmäßig „aussteige“ und ebenso, wenn ich diesen Punkt überwinde, einzelne Fragen nachgeschlagen habe, z.B. was mit „transitiver Ordnung“ gemeint ist, und schließlich eine zweite Gesamtlektüre durchziehe und alles intelligent finde, – als sei ich selber intelligenter geworden. Was mir vorher abstrakt erschien, ist jetzt konkret geworden, seltsam, und hat unmittelbar mit dem Thema zu tun, von dem ich sozusagen im täglichen Leben (Corona!) ausgegangen bin. Wer sagte dies:

Diejenigen, die jetzt im Namen der Freiheitsgrundrechte für noch weiter gehende Lockerungen plädieren und sich dafür auf die Relativierung des Grundrechts auf Leben berufen, glauben dies vermutlich deswegen tun zu dürfen, weil die oben genannte Grenze zwischen noch vermeidbaren und nicht mehr vermeidbaren tödlichen Krankheitsverläufen so schwer zu ziehen ist. Aber sie müssten dann nicht nur sagen, wie hoch die Zahl der vorhersehbaren Todesfälle denn ansteigen dürfe, ohne das Recht auf Leben ad absurdum zu führen, sondern sie müssten eben auch dem ersten Patienten, der infolge der Lockerungen nicht mehr beatmet werden kann, erklären, dass er um der Freiheit anderer willen zu sterben habe.

Vor allem wird dabei übersehen, dass es das Bundesverfassungsgericht ist, das in seiner Rechtsprechung dem Recht auf Leben einen hohen Rang beimisst. In seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch von 1975, die unverkennbar die Handschrift des Richters Ernst-Wolfgang Böckenförde trägt, leitet es aus dem Grundrecht auf Leben für den Staat das Gebot ab, sich „schützend und fördernd“ vor das Leben zu stellen, und weist ihm „innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert zu, nicht zuletzt mit Bezug auf die deutsche Vergangenheit. Dabei stellt es auch einen Zusammenhang mit Artikel 1 her, der nicht näher erläutert wird: Das Recht auf Leben sei „die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte“ – also auch des Rechts auf Freiheit.

Dies sagte der Richter Klaus Günther, und der Philosoph Jürgen Habermas antwortet:

Bei diesem Urteil sind natürlich ganz andere Fragen im Spiel. Aber die beiden Formulierungen, die Sie zitieren, sind doch aufschlussreich. Die Rede von „einem“ statt von „dem“ Höchstwert zeigt die Unangemessenheit der Sprache von Werten: in einer Rangordnung kann es immer nur einen einzigen obersten Wert geben. Andererseits soll mit der Formulierung wohl angedeutet werden, dass – anders als Schäuble und der Ethikrat meinen – „Leben“ einen ähnlich hohen Stellenwert hat wie „Menschenwürde“. Nehmen wir einmal an, wir hätten die von Ihnen beschriebene Grauzone verlassen und wüssten ziemlich unstrittig, was zum gegebenen Zeitpunkt  an Einschränkungen von Grundrechten in Kauf genommen werden müsste, um eine vermeidbare Steigerung der Todesraten voraussichtlich ausschließen zu können.  Bezeichnet dieses Kriterium (sagen wir: die „flache Kurve“) dann eine notwendige Bedingung für die Wahl gerechtfertigter Exit-Strategien?

Meine erste Konsequenz: endlich wieder nachlesen!

     

Kunstgesang Im Frühling

Vorläufig zum letzten Mal

Ich bin mehrfach darauf zurückgekommen und weiß, dass ich niemanden davon überzeugen kann, der/die nicht schon davon überzeugt war. Zum Genießen des Kunstgesangs (gerade im Lied) kann man niemanden überreden. In der Oper läuft es über das Szenische, die Phantasie hat fortwährend Nachhilfe. Aber im Lied? Das ist ja, wie wenn jemand geziert Hochdeutsch spricht. So scheint es den meisten Verächtern des Kunstgesangs.

Ich gebe ein Beispiel: hier (bitte nur hören, entspannen Sie die Augen, kommen Sie hierher zurück, aber: Achtung, es könnte im Hintergrund mit 4 sec Reklame beginnen, keine Empörung, nur Geduld!).

„Still sitz ich an des Hügels Rand, / Der Himmel ist so klar, / Das Lüftchen spielt im grünen Tal, / Wo ich beim ersten Frühlingsstrahl / Einst, ach so glücklich war.“

Wenn Sie schon öfter in diesen Blog geschaut haben: ich hoffe nicht, dass Sie auch nur einen Moment geglaubt haben, ich komme schon wieder mit Elly Ameling. Nein, es ist geradezu antipodisch anders, gestelzt, preziös, geziert, hochkulturell zelebriert, aber vielleicht technisch gut gesungen, – es interessiert mich nicht.

Versuchen Sie vielleicht diese Aufnahme, und glauben Sie mir: es geht mir nicht darum, einen Mann gegen eine Frau auszuspielen, das wäre lächerlich: hier .

Ich habe die Aversion gegen künstlichen Gesang nicht erst mühsam entwickelt. Es war schon vor 50 Jahren so: da waren mir die Volkslieder von Brahms in verteilten Rollen mit Elisabeth Schwartzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau unerträglich, weil sie tatsächlich Rollen spielten. Sie konnten nicht „einfach“ singen, die Schwartzkopf noch weniger als Fischer-Dieskau, der aber hat doch in späteren Jahren auch allerhand Manieriertes herausgearbeitet hat. Wie einzigartig war er in seiner frühen Zeit, als er die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ mit Furtwängler aufgenommen hat. Und auch das Lied „Im Frühling“ sang er zeitlos schön. Hier ist es.

Informationen: über den Dichter hier , weiteres im lesenswerten Blog eines Sängers hier .

Ich will meine früheren Beiträge nicht hervorheben, zumal mir wichtig war, sie in einen heterogenen Zusammenhang zu stellen, genauer gesagt: in den gegenwärtigen Alltag. Geben Sie einfach in das Suchfenster oben „Ameling“ ein. Das „Kunstlied“ bei Schubert gehört in die Nähe des bürgerlichen Alltags, obwohl beschönigend als „holde Kunst“ tituliert und auf andere Weise vom Opernsänger Vogl popularisiert, der dem schüchternen Komponisten gern auch mit Theater zu helfen versuchte. Die Crux für das heutige Publikum ist das Vibrato und die gut gestützte Bühnenstimme. (Wir erkannten die Sänger in der Mensa an ihrem Bühnen-Gelächter!)

Also, wie gesagt: nachschauen und hören, zum Beispiel hierhierhierhier, und hier .

*    *    *

Heute ist Donnerstag, der Tag, der mit der ZEIT beginnt, und höhere Stimmen befahlen mir (das ist ein prominentes Zitat, hoffe ich), einen bestimmten Absatz abzuschreiben; gleich daneben stand eine dickgedruckte Sentenz, die ich kopiere, weil das besser aussieht:

ZITAT

Es ist die Andersartigkeit , der man in der Natur begegnet. Plötzlich Lebewesen gegenüberzustehen, die einst aus derselben Zelle hervorgingen wie wir, aber irgendwann in den vergangenen 3,8 Milliarden Jahren eigene evolutionäre Wege eingeschlagen haben. Die andere Überlebensstrategien verfolgen, die Flügel haben,  nachts leuchten, als Spore überleben, verrottendes Holz verdauen, im Boden wühlen. Solche Strategien sind nicht besser als unsere. Nur anders. Manchmal sind sie dabei auch: schön. „Oft tun wir eine ästhetische Erfahrung als oberflächlich ab – und erklären Schönheit als bedeutungslos“, sagt David Haskell. Doch gerade darin, dass wir Genuss empfinden, wenn wir einen Schmetterling oder einen Blühenden Fliederbusch betrachten, zeige sich die uralte Verbundenheit. Haskell geht noch weiter: „Schönheit kann dich aus deiner profanen Umwelt reißen. Der Gesang einer Amsel kann deine Vorstellungskraft anregen und dich an einen anderen Ort tragen.“ Auch das bietet Natur: eine Flucht in die Schönheit. Wo unser Sinn für sie entstanden ist? Draußen.

Quelle DIE ZEIT 7. Mai 2020 Was uns nach draußen zieht Die menschliche Sehnsucht nach der Natur ist ein mächtiges und uraltes Gefühl. Wer es entdeckt, kann große Kräfte freisetzen – gerade jetzt. Von Fritz Habekuss.

Einer meiner Lieblingsautoren. Der Artikel basiert auf Recherchen zu einem Buch, das er mit Dirk Steffens zusammen verfasst hat „Über Leben – Zukunftsfrage Artensterben: Wie wir die Ökokrise überwinden“ Ab 11. Mai – Penguin Verlag.

Wikipedia David Huskell siehe hier.

An dieser Stelle stand bis vorhin: „Forstsetzung folgt“…

Wald am Engelsberger Hof

Im Frühling

       

Es war sehr still. Aber in jedem Bereich hörten wir einzelne Vögel mit Kraft singen.

Mönchsgrasmücke, Schwarzdrossel (mit Antwort aus der Ferne), Buchfink (mit Antwort),

Zaunkönig, Rotkehlchen, Buntspecht, Zilpzalp, und zuletzt (wir hatten einen Kreis

beschrieben und blickten durch das Zweigdickicht auf den Engelsberger Hof

wie auf ein verwunschenes Schloss) hörten wir noch eine Weile

der erregten Mönchsgrasmücke zu. 

  

  

 

(Fotos ER & JR)

Meisterfotografen würden nicht ruhen, bis sie die ganze Mächtigkeit der Bäume wirklich zum Ausdruck gebracht hätten. Ich verstehe nicht, weshalb keines dieser Fotos vermag, die Gewalt dieser Stämme einzufangen, die aus anderen Jahrhunderten in unsere Zeit ragen. Ich weiß, wie ich mich gefühlt habe, als ich auf dem Waldweg stand: klein, – aber nicht so wie auf dem Foto, also wie aus der Ferne, sondern klein wie im Innern eines Grasbereiches. Den Anblick des Weltalls brauche ich nicht unbedingt, um mich als unbedeutende Kreatur zu fühlen. Es genügt das Bewusstsein, von diesen geduldigen Ungeheuern in solchem Maßstab überragt zu sein, einfach ignoriert zu werden, mit der Lizenz, irgendwie an ihrem unbewussten Spiel mit Licht und Schatten teilzunehmen.

Ich habe nirgendwo zufrieden gesessen und hinabgeschaut auf eine offene Landschaft, glücklich, als sei sie für mich dort ausgebreitet. Aber die Erinnerung an das, was ich zuhaus gehört und gelesen habe, konkurriert natürlich im Untergrund, und das Lied, das mich ungefragt begleitet, ist selbst (Stichworte „einst“ und „damals“) eine Erinnerung, und zwar die eines anderen (Schulze), die sich wiederum ein anderer (Schubert) angeeignet hat. Und mit ihm diejenigen, die es interpretieren und der ganzen scheinpräsenten Realität entgegensetzen. Eine Art Schreitrhythmus, ein melodisch-rhythmisches Wogen und eine Harmlosigkeit, die man gern hinnimmt, weil sie den Waldspaziergang umschmeichelt.

„Still sitz ich an des Hügels Rand, / Der Himmel ist so klar, / Das Lüftchen spielt im grünen Tal, / Wo ich beim ersten Frühlingsstrahl / Einst, ach so glücklich war.“

Das hat mit mir nichts zu tun, oder jedenfalls nur mit dem Modus meiner Fortbewegung und der Wahrnehmung der Vogelstimmen. Sich vielleicht nur mit leiser Befremdung zu erinnern, dass jemand davon träumt ein Vöglein zu sein, – das akzeptiert man nur, weil die Musik mit ihren merkwürdigsten Modulationen darüber hinwegschreitet, so dass man keine weiteren Fragen stellt. Zu Hause schaut man nochmal nach und hört alles aufs neue. Wie schön das ist! So sang der junge Fischer-Dieskau: hier.

      

„Denn alles ist wie damals noch …“ Aber was ist eigentlich geschehen, damals? Von der Liebe ist die Rede, natürlich, vom Glück der Liebe, aber es muss früh zuendegegangen sein, „Und nur die Liebe blieb zurück, die Lieb und ach, das Leid.“ Also nicht das Glück. Es ist sogar von „Lust und Streit“ die Rede. Zurück blieb am Ende nur dieser ziemlich kindische Wunsch, der niemanden trösten kann.

„O wär ich doch ein Vöglein nur / Dort an dem Wiesenhang, / Dann blieb ich auf den Zweigen hier, / Und säng ein süßes Lied von ihr, / Den ganzen Sommer lang.“

Mit dieser gedanklichen Verbindung zwischen Natur und Kunst will ich nichts zu tun haben, wenn ich im Wald flaniere und den Vogelstimmen lausche. Mit Schuberts Musik sehr wohl. Sie passt zu meiner Gangart und öffnet immer neue Ausblicke, wie unser Waldspaziergang.

Ich kenne nur eine gelungene Darstellung, die eine unmittelbare  Verbindung zwischen Poesie und Realität plausibel macht, wo sich allerdings zugleich zeigt, dass dadurch das Verständnis des Kunstgebildes kaum gefördert wird.

Man könnte ja auch sagen: Fischer-Dieskau überzeugt mehr als Elly Ameling, weil die Geschlechterrolle mit der im Gedicht vorgegebenen übereinstimmt. Aber er ist es ja auch wieder nicht, der da von seinen Erfahrungen spricht, sondern der Dichter. Und dieser auch wieder nicht, sondern sein „lyrisches Ich“. Es ist nichts gewonnen, wenn ich es in diesem Fall an der realen Person festmachen kann, die mir bis vorgestern unbekannt war: Ernst Schulze. Schauen Sie nur: hier. Tatsächlich, er liebte nur diese eine, und sie hat ihn nicht verlassen, der Tod hat sie ihm genommen. Als er sie kennenlernte, war sie kaum 17 Jahre alt, und sie starb schon ein Jahr danach. Er war an 10 Jahre älter, hatte kaum noch Zeit, sich in die Schwester der Geliebten zu verlieben, denn er starb ebenfalls bald, an derselben Krankheit. Das ist alles tragisch, bringt aber für die Interpretation des Gedichtes oder gar des Liedes – überhaupt nichts. Aus Ernst Schulze hätte ein Wilhelm Müller werden können! Das wär’s. – Was nicht bedeutet, dass es gar keine „Erlebnislyrik“ gibt. Aber das Erlebnis ist nicht etwa der wahre Kern. Goethe spricht von „historisch“; Näheres bei Walther Killy:

 

Quelle Walther Killy: Wandlungen des lyrischen Bildes / Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1956 [Killy bei Wikipedia hier]

Aber die Deutung des lyrischen Bildes, das sich an der Wirklichkeit entzündet, ergibt sich nicht referierbar wie ein Lehrsatz, – der Essay von Killy ist noch mehr als doppelt so lang, und letztlich ergibt sich für unser Lied die Einsicht, dass das Bild des Vögleins – nach einer gedanklich recht umständlichen Strophe – zu schwach ist, um weit zu tragen: es wird erst durch Schuberts „leicht“ dahinfließende  Musik zu einem bedeutungsvollen Bild.

Es ist der Charakter des Scheins, der uns bei der Betrachtung des dichterischen Bildes nötigt, die Schwebe zwischen Realität und Idealität, von der das Gedicht lebt, nicht zu zerstören. Das Gedicht  i s t  nicht Natur; es  h a t  nicht Bedeutung. Sein Dasein besteht aus der dauernden Verwirklichung beider im jeweils anschauenden Hörer. Es ist aber auch der Charakter des Scheines als wäre es wirklich, der dem Gedicht die Kraft der Überzeugung verleiht. Sie entspringt dem Historisch-Materiellen in ihm, das zweifellos gewesen ist.

[Walther Killy a.a.O. Seite 20]

Neu für mich: Elly Ameling

Seltsames Wiedersehen / eilig Notiertes im Mai

Natürlich ist das nicht ganz neu, – noch mehr, es ist fast altmodisch -, ich muss mal nachschauen, war es vor 1970? „Weichet nur, betrübte Schatten“. Unvergänglich, unvergessen, keine Phrase dafür ist zu schlecht: Größeres gibt es nicht. Klar, dass man es längst auf Youtube hören kann.

  

HIER (youtube) Achtung, wegen Reklame 3 sec vorsichtig einblenden

Ich muss das mal eben recherchieren: Bei „Weichet nur“ war ich noch nicht dabei, außer später in Konzerten, vielleicht mit Elisabeth Speiser, oder mit Agnes Giebel und den Bach-Solisten, hier aber war, wie man auf dem Cover sieht, noch die erste Formation des Collegiums unter Grehling am Werk, erst 1967 bei „Non sa che sia dolore“ habe ich mitgespielt im Cedernsaal von Schloss Kirchheim, und die Schallplatte ist noch da:

Wenn ich mich recht erinnere, kannte man die „Academy of St Martin in the Fields“ 1967 bei uns noch gar nicht; wir hielten uns oder vielmehr unseren „Erfinder“  Dr. Alfred Krings sowieso für die alleinigen Entdecker der niederländischen Sängerin. Und ich empfinde es heute als sehr merkwürdig, dass die Bach-Kantaten hier und dort (in London) fast zur selben Zeit stattfanden. Die herrlichen Schubertlieder mit Elly Ameling im Cedernsaal Kirchheim entstanden allerdings schon 1965, (die Schumann-Lieder 1967, siehe hier ) zwischen der Schallplatte von damals und den Aufnahmen dieser großen Kompilation gibt es kaum Überschneidungen, außer bei „Im Frühling“ D.882 und beim „Hirt auf dem Felsen“, die hier in einer Produktion aus Berlin 1971 vorliegen. Eine Entwicklung von 6 Jahren liegt also dazwischen, – die zu betrachten eine schöne Aufgabe für einen Mai-Nachmittag wäre. Ich melde mich beizeiten zurück.

Noch ein paar Sätze, die ich vorsichtshalber nachträglich in diesen Beitrag hineinschreibe: wer noch nicht viele Lieder kennt (und: nicht bereit ist, Zeit aufzuwenden und sie inhaltlich jeweils mithilfe des Computers zu erschließen), der kann ihnen kaum gerecht werden. Man kann zum Beispiel keinen wirklichen Zugang zum „Kunstlied“ finden – ohne den Text vor sich zu haben. Ich muss also googeln! Eine preiswerte umfangreiche Kollektion wie diese bietet halt keinen einzigen Text, keine Übersetzung, – und deren bedarf insbesondere eine ganze Reihe anspruchsvoller französischer Lieder (Verlaine, Mallarmé). Und auch bei einer gut artikulierenden Sängerin kostet es Energie, einem unvertrauten deutschen Text zu folgen, – und genau diese Energie fehlt dann bei der Enträtselung der Töne! Mozarts „Abendempfindung“ muss man gelesen haben, um erst recht – nur die Musik zu lieben… 

Und ehrlich gesagt: wer immer nur Sting hört, entwickelt – mit und ohne Text – sowieso kein Sensorium für Schubert.

*    *    *

Und weiter: nach der folgenden SZ-Lektüre gehe ich auf Suche nach dem Link:

Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung 2./3.Mai 2020 Seite 17

HIER

Und was war gestern?

https://www.literaturcafe.de/das-literarische-quartett-mit-thea-dorn-vom-publikum-allein-gelassen/ hier

Wie bitte? soll das alles gewesen sein?

Noch einmal reden lassen, und lange genug über Gabriel García Márquez ! ! !

 HIER bitte ab 20:20. Und bis 20:30!

Am vergangenen Samstagmorgen habe ich im Mosaik auf WDR3 plötzlich etwas über Aldous Huxley gehört, ich weiß nicht, warum, er hatte jedenfalls keinen runden Geburts- oder Todestag (1894 – 1963). Es wurde etwas vorgelesen, und als der Sprecher bei Meister Eckhart war und das Wort Istigkeit deutlicher als alles andere sprach, fand ich es erinnerungsträchtig und dachte im folgenden, diese Welt da, von der die Rede ist, das könnte die Wahrnehmungswelt Immanuel Kants sein, bevor die Kategorien sie filtern, ein gleichmäßiges Chaos. Ich muss das Buch lesen, gut dass es mir damals noch nicht in die Hände gefallen ist, ich blieb bei Benn, „Provoziertes Leben“ (1941 bzw.1959), das war aufgrund der  Entstehungszeit als Lebensmaxime schneller abzustreifen. Inzwischen, 51 Jahre später, ist die versäumte Lektüre eingetroffen, ich schlage sie auf und habe in demselben Augenblick die Stelle vor mir, die neulich im Radio vorgelesen wurde:

  Piper ISBN 978-3-492-20006-6

Das hat schon einen enormen Sog… Zum Glück bin ich immun.

1959 las sich das bei Gottfried Benn folgendermaßen (nebenbei bemerkt: der dicke Stift, mit dem ich Unterstreichungen vornahm, war derselbe, am einen Ende rot, am anderen blau, mit dem ich ein Jahr später im Café Kranzler in Berlin Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ durchackerte – ohne Handy oder Fremdwort-Lexikon):

Gottfried Benn: Provoziertes Leben / Ullstein Verlag 1959

In Berlin kaufte ich jeden Monat, wenn Geld von Oetker eintraf, einen neuen Band der Benn-Werke, die damals im Limes-Verlag erschienen. Und ich lernte eine Reihe seiner Gedichte. Die separat erschienenen „Statischen Gedichte“ (Arche Verlag) trug ich seit 16.9.1959 mit mir herum, ziemlich ramponiert. Kaum zu glauben, er war erst vor drei Jahren gestorben. Dieses kannte ich auswendig:

Astern -, schwälende Tage, / alte Beschwörung, Bann. / die Götter halten die Waage / eine zögernde Stunde an /

darin auch die wunderbaren Zeilen, die an Mörike erinnern:

der Sommer stand und lehnte / und sah den Schwalben zu

aber dann die letzten:

noch einmal ein Verstummen, / wo längst Gewißheit wacht: / die Schwalben streifen die Fluten / und trinken Fahrt und Nacht.

ASTERN, in diesen Zeilen fand ich eine Grundstimmung, die ich liebte oder besser: die ich mir total angemessen fand; ich ahnte nicht, dass ich sie im Jahre 2020 dankbar repetieren würde.

Botanischer Garten Solingen 1. Mai 2020 12.30 Uhr (Fotos JR Huawei)

Nachtrag für Benn

Irgendwann fiel mir ein, weshalb ich bei Benn an Mörike dachte – was so unpassend ist, wie bei Ameling an die Callas zu denken -, es sind aber wenige unverwechselbare Worte, die genügen, so dass ich selbst in einem wissenschaftlichen Essay diesen Bezug hervorheben würde. Nämlich, dass der Sommer – eine Jahreszeit! – an der Berge Wand „lehnte“, ebenso der anschließende Versteil: „die Götter halten die Waage / eine zögernde Stunde an“ –  oder „Der flüchtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch“. Bei Benn sind die „Stunden“ Chiffre eines herausgehobenen Zeitmomentes, in dem ein Glück möglich ist, auch durch künstlichen Rausch („O Nacht! ich nahm schon Kokain“), all dies schwingt unwillkürlich zusammen, wenn man heute des Pfarrers Mörike liest:

Gelassen stieg die Nacht ans Land, /  Lehnt träumend an der Berge Wand,

Ihr Auge sieht die goldne Waage nun / Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn.

Siehe hier. Und hier. 1 Stunde – das kann auch 1 Gedicht sein – 1 Lied.

Die Bedeutung der Benn-Gedichte – biographisch

Und sonst nix? Es ging nicht nur um Benn. Gedichte sind so lebenswichtig wie Lieder!

  1991, 2000,1955

Und das Lesezeichen lag mit Recht bei Brecht im gelben Conrady Seite 708, wie geschaffen für Corona-Zeiten: