Archiv für den Monat: Oktober 2016

Musiktheorie – grau und leblos?

Etwas zum Einlesen: Hier

Sprechen Sie es ruhig aus, im ironischen Tonfall: die Probleme möchte man haben…

Die beiden Konzerte des Rahmenprogramms überschreiten die zeitlichen Grenzen des 19. Jahrhunderts und präsentieren einerseits selten gespielte Kompositionen von Theoretikern des 18. Jahrhunderts in historisch informierter Aufführungspraxis, andererseits Uraufführungen von neun Kompositionsstudierenden der Hochschule der Künste Bern, die nach einem didaktischen Modell des 19. Jahrhunderts ein „klassisches“ Werk „rekomponiert“ haben.

Natürlich fühlte ich mich an die jüngste Lektüre erinnert. Obwohl der Zusammenhang auch wieder nicht auf der Hand liegt. Hat Schubert etwa über einige Jahre hin auch nur meisterhaft „rekomponiert“?

Auch der Beitrag über das „im Stil“ improvisierende Wunderkind hat damit zu tun. Hier.

Und dann lese ich im Oktoberheft der Zeitschrift „Musik & Ästhetik“ in einem Aufsatz von Johannes Menke:

Es gibt Absolventen der Schola Cantorum Basiliensis, die bestimmte historische Stile auf höchstem Niveau täuschend echt imitieren können. Man kann diskutieren, ob sie diese Stile nur kopieren oder sich authentisch in ihnen ausdrücken, und man kann ebenfalls diskutieren, bis zu welchem Punkt eine Spezialisierung hier sinnvoll oder grotesk ist. Hier ist musikalisches Werturteil auf eine bisher ungewohnte Weise gefordert.

Zu einer guten Stilkopie „à la Mozart“ gehört etwa, dass darin nicht mit Harmonien gearbeitet wird, die erst bei Wagner vorkommen. Das wusste man schon immer, also auch in meiner Studienzeit, trotzdem störte es einen nicht, wenn man in dem Fach „Harmonielehre“ nach einer zeitlosen Methode erarbeitete, als habe sich in der Klassik ein ewiger Standard entwickelt, der im 19. Jahrhundert nur ausdifferenziert worden ist. Dann wurde nach Adorno viel vom „Stand des Materials“, auch von der Abnutzung gewisser Akkorde geredet, in voller Schärfe wurde einem die historische Gebundenheit des Blicks auf die Harmonielehre aber erst bewusst, als die Harmonielehre von Diether de la Motte diese Sicht in die Musikgeschichte zum Prinzip machte.

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Diether de la Motte: Harmonielehre / Bärenreiter Verlag Kassel 1976

In diesem Sinne hatte ich zunächst die Zielrichtung des Aufsatzes von Johannes Menke (miss-)verstanden, auf den ich hier eingehen möchte, um mir selbst die scheinbar abgelegene Fragestellung zu erklären.

Johannes Menke: Musiktheorie und Werturteil / Beobachtungen zur Geschichte eines systematischen Fachs. Zeitschrift „Musik & Ästhetik“ Oktober 2016 Seite 76 – 84.

Menke bezieht sich dabei auf einen noch nicht veröffentlichten Vortrag von Thomas Christensen, dessen inhaltliche Vorbereitung in dem oben gegebenen Link wiedergegeben ist:

Für gewöhnlich wurde und wird Musiktheorie als etwas verstanden, das durch das Wirken von Autoren in Texten verfasst ist. Wir finden tendenziell diejenigen musiktheoretischen Werke am prestigeträchtigsten, die komplexe und eigenständige Ideen vorbringen und von einer strengen Systematisierung geprägt sind; diese Ideen gelten dann als Produkte der Inspiration einzelner Autorinnen und Autoren und werden in der Regel in wissenschaftlichen Abhandlungen oder anderen diskursiven Medien zum Ausdruck gebracht. Diese Auffassung von Musiktheorie möchte ich „monumentale Theorie“ nennen. Viele von uns vermuten, dass sie das höchste Ziel unserer eigenen Arbeit sei. Doch die unausgesprochenen Annahmen, die in diesem heroischen Modell wissenschaftlicher Arbeit stecken, können auf vielen Ebenen infrage gestellt werden. Historisch betrachtet stimmt es nicht, dass alle musiktheoretischen Schriften notwendigerweise zu den Textmonumenten gehören, die wir in der Geschichtsschreibung unseres Faches feiern; die meisten Schriften verfolgen weniger ehrgeizige Ziele. Noch weniger kann man alle Texte in der Geschichte der Musiktheorie einzelnen Autoren zuordnen, insbesondere in der Vor- und Frühmoderne. Viele Aspekte in der Geschichte unseres Faches haben eigentlich schon immer der Kodifizierung durch Texte widerstanden. Dies ist die unterirdische Welt der „verborgenen Theorie“ – eine Welt der Handschriften, der mündlichen Tradition und des verkörperten Wissens –, auf die ich in meinem Vortrag aufmerksam machen möchte; dazu ziehe ich mehrere Beispiele aus verschiedenen Perioden der Musiktheorie heran. Es zeigt sich, dass die Monumentalität selbst der kanonischsten musiktheoretischen Texte radikal ins Wanken gebracht werden kann, wenn man genau untersucht, wie diese Texte von den Lesern und Leserinnen verstanden und verwendet wurden. Meine These lautet, dass man Musiktheorie eher als eine fungible soziale Praxis denn als Kanon fester Lehrsätze verstehen sollte.

Quelle im Link des Gesamtprogramms zum Jahreskongress 2011 Seite 9

Es geht also offensichtlich um die Theorien im Wechsel der Zeiten. Sie haben lediglich sekundär mit den Wandlungen der großen komponierten Werke und ihrer Stilistik zu tun, mehr mit der Methode, sie einzuordnen, zu analysieren und für die Praxis (!) gebrauchsfähig zu machen.

Oder: sollte ich erstmal versuchen klarer zu sehen, was Musiktheorie überhaupt ist? Schau ich doch mutig ins große MGG-Lexikon. Die Systematik zeigt immerhin sofort, dass ich Musiktheorie nicht abtun kann mit den Worten „alles nur graue Theorie“, Musik ist doch vor allem eins: Praxis, Praxis, Praxis. Na ja, und Emotion vielleicht. Oder nein, frei nach „Faust“: Gefühl ist alles, Namen, Begriffe, Formen … sind Schall und Rauch. Und ist es Schwachsinn, so hats wenigstens auch keine Methode… (die folgende stammt von Klaus-Jürgen Sachs).

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Zu meiner Befriedigung geht der Text auf der nächsten Seite weiter (genaugenommen folgen noch 10!), zunächst mit Kritik an Punkt 1., und dann folgt ein für mich wichtiger Satz: die Kritik am Verständnis von „Theorie als musikalischer Handwerkslehre“. Im übrigen sei die Sache aber noch offen, zumal ein „Hauptproblem, auch die außer-europäischen Musikkulturen einzuschließen, vor erhebliche, auch im Ansatz ungelöste Schwierigkeiten stellt.“

Auf weiteres lasse ich mich jetzt nicht ein, erwähne stattdessen beschämt, dass ich in dem Menke-Aufsatz auf eine fatale Bildungslücke gestoßen bin: das – als allgemein bekannt vorausgesetzte – Wort „Oktavregel“ war mir noch nie begegnet. (Es geht nicht um „Oktav-Parallelen“!) Die Lücke sei sogleich gefüllt und zwar doppelt: zuerst hiermit und dann damit.

Und nun zu dem oben zitierten Christensen-Text, in dem es um „monumentale Theorie“ und ihr Verhältnis zur „verborgenen Theorie“ geht. Menke äußert sich dazu folgendermaßen:

Der Paradigmenwechsel von der großen Theorie, die sich im monumentalen Text manifestiert, hin zur verborgenen, oder vielleicht besser impliziten Theorie, die sich in der Anleitung, Beispielsammlung, Unterrichtsdokumentation verbirgt, hat etwas mit Repertoire- und Kanonbildung sowie mit unausgesprochenen oder vielleicht sogar ausgesprochenen Werturteilen zu tun.

Spitzt man es ein wenig zu, so könnte [man] sagen: Die große Theorie beschäftigt sich mit Vorliebe mit dem großen Meisterwerk, die verborgene Theorie mit dem Handwerk und einem breiten Repertoire bislang oft vernachlässigter Kompositionen. Die großen Theorien wetteifern darum, welches die gültige Deutung eines herausragenden Werkes sei, die verborgene Theorie geht davon aus, dass das herausragende Werke [sic!] nur vor dem Hintergrund unzähliger anderer Werke möglich und verständlich sei oder sie zweifelt sogar daran, ob die Kategorie des Meisterwerks angesichts der unüberschaubaren Fülle der Musikproduktion überhaupt angemessen sei. Die Faktizität des Historischen setzt hinter jedes Werturteil ein Fragezeichen.

Die großen Theorien gerade oft aufgrund ihres Systemzwangs in Schwierigkeiten, wenn sie auf kompositorische Realität stoßen. Paradoxerweise speist sich aber gerade aus diesem Scheitern ein Staunen über dkie Meisterwerke, deren Faktur sich dann genialisch über die spröde Rationalität der Systematik erhebt. Die verborgenen Theorien hingegen zielen – allein schon aufgrund ihrer ständischen Herkunft aus den Werkstätten – nicht auf Bewunderung, sie wollen durchschauen, nicht bestaunen. Die Erfahrung zeigt, dass insbesondere die Satzmodelle den Weg zur Produktion auf ungeahnte Weise erleichtert haben. Was heute in historischen Stilen improvisiert und neu komponiert wird, war noch vor 20 Jahren unvorstellbar.

Falsch wäre aber zu meinen, dies schmälere die Bedeutung der auf uns überkommenen Werke. Gerade die verborgene Theorie kann uns lehren, dass Meisterwerke einen kulturellen Humus brauchen, auf dem sie gedeihen können. Verborgene Theorie geht davon aus, dass dieser Humus ebenso interessant und relevant ist wie die Werke.

Quelle Johannes Menke: Musiktheorie und Werturteil / Beobachtungen zur Geschichte eines systematischen Fachs. Zeitschrift „Musik & Ästhetik“ Klett-Cotta Stuttgart 20. Jahrgang Heft 80, Oktober 2016 Seite 81.

Das Verdienst dieser Ausführungen liegt darin, eine Heroen-Musikgeschichte wieder auf den Boden der Realität zu setzen, auf dem die „verborgene Theorie“ zu Hause ist. In Millionen Improvisationen und kleinen Kompositionen für den unmittelbaren Gebrauch im Gottesdienst, Kabarett, bei Familienfeiern und Chor-Freizeiten, – mit den unmittelbar zur Verfügung stehenden musikalischen Mitteln, die natürlich auch nicht vom Himmel fielen, aber auch nicht aus den Meisterwerken herausfiltriert, sondern gelehrt wurden – im Privatunterricht ebenso wie im Konservatorium oder in Methoden zum Selbstunterricht (siehe Methode Rustin hier), ebenso wie heute in Pop und Jazz. Man bekommt eine Ahnung davon, wenn man die Violinkonzerte von Franz Clement hört (siehe hier) oder in den Veröffentlichungen von Dabringhaus & Grimm die Musik der Brahms- und Schumann-Freunde (David, Bargiel, Berger, Herzogenberg) studiert, – selbst wenn man sich nur fragt, weshalb sie doch eher zum „Humus“ gehören als zum „ewigen“ Bestand der genialen Meisterwerke.

Selbst wenn man geneigt ist, ein „Werturteil“ (das allzuleicht Vorurteile petrifiziert) so lange wie möglich auszuklammern, – auch Meisterwerke werden in einem neuen Licht erscheinen, vielleicht sogar realistischer, wie von Menschen gemacht… Das schadet ihnen nicht.

Raga Piloo 1966 – 2016

Sitar und Violine

Am 23. April 2016 im Konzerthaus Berlin, – anklickbar unten, aber auch hier, wenn Sie das Bild in ein separates Fenster verlegen und beim Zuhören weiterlesen wollen; oder auch, wenn Sie zwei der hier gegebenen Versionen unmittelbar miteinander vergleichen wollen. Die Geige beginnt hier bei 1:29. Interessant aber auch die Wechselwirkung der beiden Protagonistinnen A & P vorher. Einsatz der Tabla bei 6:00. (A blättert um.) Einsatz der Geige (+ Sitar) bei 6:13. Weiß P, wann sie dran ist? / Ende 16:28.

Rückblick

ZITAT

Einige Jahre später, 1955, versuchte Yehudi anläßlich einer Indischen Woche im Museum of Modern Art in New York für mich ein Konzert zu arrangieren. Leider konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht nach New York kommen, schickte jedoch statt meiner Ali Akbar und den jungen tabla-Spieler Chatur Lal. Viele Male bin ich an den gleichen Orten aufgetreten wie Yehudi, doch nicht mit ihm zusammen, da war die UNESCO-Feier 1958 und das Commonwealth-Festival 1966. Bei den Festspielen in Bath 1966, mit deren Leitung er beauftragt war, spielten wir dann unser erstes Duett. Die Festspielleitung hatte einen jungen deutschen Komponisten beauftragt, für uns ein Stück zu schreiben, doch als wir probten, schien die Musik nicht zufriedenstellend. Wir ließen den Anfang der Komposition mehr oder weniger unverändert, doch den Rest schrieb ich völlig um und behielt nur Raga Tillang als Grundlage bei. All das machten wir in nur drei Tagen! Das Stück hatte sofort Erfolg. Als wir kurz darauf eine Plattenaufnahme davon machten, schrieb ich es wieder völlig um und nannte es „Swara Kakali“. Ich schrieb auch ein kurzes Solo für Yehudi auf der Basis der Morgen-raga Gunakali und nannte es „Prabhati“, was „vom Morgen“ bedeutet. Yehudi hatte nie zuvor indische Musik gespielt, und in dieser kurzen Zeit waren seine Bemühungen, mit seinem Spiel dem indischen Geist möglichst nahe zu kommen, wirklich lobenswert. In dem neuesten Duett, das ich für uns komponiert habe, – es basiert auf Raga Piloo, und wir spielten es bei der Feier zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 1967 bei den Vereinten Nationen – hatte er den Geist der Musik wirklich erfaßt, und ich bin sicher, daß während unseres Spiels dies dem Publikum ebenso bewußt wurde wie mir.

Es machte Yehudi große Freude, mit mir zusammen an einer Komposition zu arbeiten und sie zu proben; ich komponiere die Musik spontan, und er schreibt sie nieder. Wenn wir dann üben, ist es eine Freude zu sehen, wie dieser großartige Musiker all seinen Stolz und sein Selbstbewußtsein ablegt und wie ein Kind oder ein ergebener Schüler meinen Unterricht und meine Musik akzeptiert, obwohl er mir an Alter, Erfahrung und Ruhm überlegen ist. Nach jeder Probe springt er auf und umarmt mich, und ich kann fühlen, wie sehr er unsere Musik liebt. Seit meiner Kindheit war er mein Idol und Held, und nun nennt er mich seinen guru.

Quelle Ravi Shankar Meine Musik mein Leben / Einleitung von Yehudi Menuhin / Nymphenburger Verlagshandlung München 1969 (Zitat Seite 165 f)

Anoushka Shankar & Joshua Bell (anklickbar unten, aber auch hier) / ab 17:00 neues Stück „Pancham Se Gara“ (siehe Info hier , beim Vergleichen ist die unterschiedliche Höhe des Grundtones berücksichtigen)

Die Geige beginnt bei 0:59. Filmfehler: Die Bewegungen sind leider nicht ganz synchron mit dem Ton. Einsatz der Tabla bei 5:28. Rhythm. Feuerwerk, A hilft J beim Einsatz (5:44). Es sieht merkwürdig aus, dass J an der Bühne steht. Als ob er führt, aber das Gegenteil ist der Fall. (Es gibt eine erhellende Geschichte, die mir Vilayat Khan über eine Begegnung mit Heifetz im Hotel erzählte. Darüber an anderer Stelle.) Ende: 16:05.

(Falls das obige Video nicht funktioniert, ein Ausweg: HIER (Tabla-Einsatz bei 4:50)

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Quelle Walter Kaufmann: The Ragas of North India / Indiana University Press Bloomington London 1968 / Zitat Seite 389 f

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Ravi Shankar & Yehudi Menuhin / die alte Schallplatte (unten oder hier). Einsatz der Tabla bei 4:10.

Ein Sandkorn der Weltgeschichte: 1857

Am Beispiel Indiens

Wann habe ich dieses Buch gelesen? Ab 18.1.1994, vor allem im Flugzeug, auf dem Weg nach Indien, hochmotiviert, und dort in den Hotels. Habe es recht gründlich durchgearbeitet, mit vielen Unterstreichungen, nicht aber auf diesen beiden Seiten: die einschneidende Bedeutung des Jahres 1857 war mir entgangen.

Dietmar Rothermund: Indische Geschichte in den Grundzügen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1989

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Jetzt liegt es wieder auf dem Tisch und fasziniert mich. Der letzte Satz zwingt weiterzublättern: „Der Aufstand hatte weitreichende Konsequenzen.“

Aber ein neues Buch liegt ebenfalls in Reichweite und hat dieses und noch andere aktualisiert, schon weil die Fakten in unterschiedlicher Breite zu lesen sind, aber vor allem dank der unterschiedlicher Gewichtung und Deutung. Pankaj Mishra hat das ausgelöst und das Interesse wachgehalten, indem er Einzelereignisse plakativ herausstellt, von Anfang an und immer konkret („Am frühen Morgen des 5. Mai 1798 verließ Napoleon Paris, um sich zu einer 40 000 Mann starken Armee zu begeben und mit ihr nach Ägypten zu segeln.“) –  über dem Kapitel steht:

Ägypten: „Der Beginn einer Reihe großer Schicksalsschläge“

Und auf Seite 48 ist das Thema schon „Der langsame Zerfall Indiens und Chinas“. Und von vornherein ist klar, dass die Perspektive nicht von Westen nach Osten verläuft, sondern umgekehrt:

 Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empires / Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens. / S. Fischer Frankfurt am Main 2013

Das Motto des Buches zeigt mit Wucht die Umkehrung der Perspektive:

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Hervorragend auch auf der folgenden Seite das Zitat von Marx, dass die Religion in Indien weit mehr als ein Glaubenssystem darstelle: Sie sei vielmehr „die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistisches Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund“.

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Man vergisst, dass 400 weitere Seiten folgen, und wenn man kann, sucht man auch noch weitere Bestätigung im vielgelobten Meisterwerk des folgenden Historikers

Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. C.H.Beck München 2009

Um bei den Seitenzahlen zu bleiben – hier auf Seite 788 hat man fast die Hälfte geschafft (ich leider nicht, ich bin von hier nach dort gesprungen und habe mich immer wieder am Inhaltsverzeichnis und der ungewöhnlichen Gesamtanlage des Buches orientiert. Man sieht, extrem wichtige Themen, und von hier an wohl noch eine Aufgabe für die nächsten zwei Jahre…

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Und wie immer flüchte ich mich in mein kleines Taschenkompendium, das schnellste Orientierung bei weitester Perspektive garantiert:

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Imanuel Geiss: Geschichte im Überblick / Daten und Zusammenhänge der Weltgeschichte / Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1986

Ich empfehle, in diesem Zusammenhang ein Gespräch mit dem indischen Autor Pankaj Mishra nachzulesen, durch das ich auf diese Thematik gebracht wurde. Clair Lüdenbach im Internetmagazin Faust-Kultur HIER.

Dort findet man auch einen Link direkt zum Buch „Aus den Ruinen des Empires“.

Ganesh (Ganesha) dansant Nord du Bengale, 11ème siècle après J.C. Musée d'art indien de Berlin (Dahlem)

Ganesh (Ganesha) dansant
Nord du Bengale, 11ème siècle après J.C.
Musée d’art indien de Berlin (Dahlem) Foto: Jean-Pierre Dalbéra 2008 / Wikipedia

Ausblick: Vom Rhythmus des Lebens

(Wer ist Ganesha? Siehe hier (für mich) und hier (für Indien).)

TEIL II HIER

Ganz am Ende von Teil II Abspann mit allen Mitwirkenden und Urhebern (1998) und:

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Dank an Kanak Chandresa in Solingen!

Starke Meinungen

Schöne Sätze von Anne Will

Sie bringt es auf den Punkt. 2007 soll sie im SPIEGEL gesagt haben: „Wenn die große Koalition als Regierung jetzt nichts Großes leistet, bekommen die Volksparteien ein echtes Problem, sich überhaupt noch so zu nennen.“ Jetzt wird sie gefragt, ob sie zufrieden sei, dass sie vor neun Jahren die Wahlergebnisse von heute vorhergesagt habe.

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Nein. Ich bin eher traurig darüber, was sich entwickelt hat. Offener Rassismus, wachsende Fremdenfeindlichkeit, immer mehr politisch motivierte Straftaten, das dürfte es in unserem Land nicht geben. Und ich bin wirklich entsetzt darüber, mit welcher Verachtung, mit welcher Aggressivität auf dem „System“ herumgetrampelt wird, von dem all die, die das tun, ja in immensem Maße profitieren.

Was daran beschäftigt Sie am meisten?

Die Frage, ob Menschen für Fakten und Belege überhaupt noch empfänglich sind oder ob inzwischen nur noch Gefühle und Stimmungen verfangen. Und natürlich fragen wir uns: Wie reagieren wir darauf mit der Sendung? Können wir das auflösen? Oder bedienen wir das gelegentlich sogar, weil wir Zuspitzungen suchen? Was mache ich in der Sendung mit einer rein populistischen Argumentation, die keine faktische Rückbindung mehr hat, die allein auf der Behauptung fußt: Das fühlen die Menschen aber! Das finde ich außerordentlich problematisch.

Können Sie da Beispiele nennen?

Wenn etwa einfach und ohne jeden Beweis behauptet wird, man dürfe in Deutschland nicht mehr alles sagen. Wenn behauptet wird, alle Medien seien gesteuert, würden Sachverhalte verdrehen, würden wesentliche Informationen zurückhalten, weil diese nicht in irgendeine Linie passten.

Woher kommt dieser Siegeszug des Post-Faktischen?

Früher bekam jemand mit starken Meinungen ohne jeden Beleg an der Theke nur die Zustimmung von den zwei, drei anderen, die da saßen und vielleicht nickten. Jetzt finden sich übers Netz schnell ganze Gruppen, richtige Echokammern, die jede auch noch so absurde These liken. Damit fühlt sich der Einzelne in einer Weise bestärkt, die ich für absolut gefährlich halte.

Was kann man dagegensetzen?

Gegensetzen kann man guten Journalismus: Sagen, was ist, sauber seine Arbeit machen, aufpassen, nicht nachlassen.

Quelle: Süddeutsche Zeitung 1./2./3. Oktober 2016 Seite 58 DAS INTERVIEW Anne Will übers REDEN (Fragen: Evelyn Roll)

Der Begriff des Post-Faktischen ist kurios, aber neuerdings in aller Munde; insbesondere, seit Angela Merkel ihn gebraucht hat. Man muss ihn nur googeln und erfährt mehr als einem lieb ist. Und wenn man den Namen Donald Trump dazusetzt, geht es ins Uferlose. Wie absurd auch immer, das Wort wird stufenweise nobilitiert, in die Nähe einer philosophischen Perspektive gerückt.

Schon Friedrich Nietzsche sagte, dass es keine Fakten gebe, nur Interpretationen. Diesen Gedanken griffen postmodernistische und relativistische Denker auf, um zu argumentieren, dass jede Version eines Ereignisses eine eigene Realität habe, dass Unwahrheiten „eine alternative Sichtweise“ darstellten, weil sowieso alles relativ sei. In den vergangenen 30 Jahren sickerte dieses Denken durch in die Medien, in die Gesellschaft und in die Politik.

Constantin Wißmann im CICERO (hier)

Es ist auch nicht falsch, das „Postfaktische“ als eine neue Dimension des Lügens anzusehen. Christian Bos erläuterte das im Kölner Stadtanzeiger und erinnerte an einen amerikanischen Philosophen, der den „Bullshitter“ erfunden hat.

Egal, ob man nun lügt oder die Wahrheit sagt, man spielt dasselbe Spiel. Der eine beugt sich den Fakten, der andere widerspricht ihnen frech. Vor 30 Jahren [?] identifizierte der amerikanischen Philosoph Harry G. Frankfurt in einem kurzen Essay noch eine dritte mögliche Position. Eine, die das Spiel um Wahrheit und Lüge schlicht ignoriert, die einfach gar keinen Bezug mehr auf die Fakten nimmt: Den „Bullshitter“. Gemeint ist der Dummschwätzer, der Märchenonkel und Schwachsinnsverbreiter, der – betritt er das Feld des Politischen – schnell zum Demagogen werden kann, zum Hetzer. „Der Bullshit“, schreibt Frankfurt, „ist ein mächtigerer Feind der Wahrheit als die Lüge.“

Quelle: http://www.ksta.de/24814972 ©2016 (s. hier).

Der Essay erschien nicht vor 30 Jahren, sondern vor gut 10 Jahren. Siehe auch hier. Ich verdankte das Büchlein seinerzeit dem Freund Berthold Seliger, ohne dass ich die Bedeutung recht erfasst hätte. Jetzt ist die Zeit endlich reif… Übrigens darf man in geeigneten Fällen auch ein zischendes deutsches Wort verwenden.

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ZITAT

Niemand kann lügen, sofern er nicht glaubt, die Wahrheit zu kennen. Zur Produktion von Bullshit ist solch eine Überzeugung nicht erforderlich. Wer lügt, reagiert auf die Wahrheit und zollt ihr zumindest in diesem Umfang Respekt. Ein aufrichtiger Mensch sagt nur, was er für wahr hält, und für den Lügner ist es unabdingbar, daß er seine Aussage für falsch hält. Der Bullshitter ist außen vor: er steht weder auf der Seite des Wahren noch auf der des Falschen. Anders als der aufrichtige Mensch und als der Lügner achtet er auf die Tatsachen nur insoweit, als sie für seinen Wunsch, mit seinen Behauptungen durchzukommen, von Belang sein mögen. Es ist ihm gleichgültig, ob seine Behauptungen die Realität korrekt beschreiben. Er wählt sie einfach so aus oder legt sie sich so zurecht, daß sie seiner Zielsetzung entsprechen.

Quelle: Harry G. Frankfurt BULLSHIT Suhrkamp Frankfurt am Main 2006 ISBN 3-518-58450-2 (Seite 62/63)

Bartók als Problem

Wiedergänger nach 30 Jahren

Darf ich mich vorweg ausweisen? Bitteschön:

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Gewiss, das ist lange her und keine große Sache, den Rang eines „Auditors“ bestätigt zu bekommen. Aber schon in meiner Schulzeit kannte ich recht gut das V. Streichquartett und die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta. In der Studienzeit kam einiges an größeren Werken dazu, unentwegt lief das „Konzert für Orchester“ vom Tonband des Auditors in der Feldgärtenstraße Köln-Niehl. In der Praxis am Klavier leider nur die Ungarischen Bauernlieder und einiges aus dem Mikrokosmos, auf der Geige die Rumänischen Volkstänze und in immer neuen Anläufen die Solosonate, auf lange Sicht habe ich mit gutem (violintechnischen) Grund nur die Melodia, den dritten Satz daraus, weitergepflegt. In Szombathely hatte ich gehört, wie Geörgy Kurtág mit dem ganz jungen András Keller den Anfang der Solosonate arbeitete. Typisch für die charakteristisch bohrende Arbeit des Komponisten: sie kamen über die ersten zwei Akkorde nicht hinaus (ich übertreibe nicht!). Im Vorfeld des Kurses hatte ich mir dank WDR, der in Gestalt von Dr. Alfred Krings den Besuch des Kurses ermöglichte, eine wesentlich erweiterte Werkkenntnis angeeignet. Natürlich auch alle sechs Streichquartette, bei deren Einstudierung im Kurs ich Stunden und Tage zuhören durfte, meist bei dem wunderbaren Lehrer Sándor Devich, der im Januar dieses Jahres leider verstorben ist.

Es kam mir nicht in den Sinn, dass Bartók einmal wieder zu den „bedrohten Komponisten“ gehören könnte, wenn auch ein Kollege der Neuen Musik, dessen Bahngespräche auf dem Weg nach Köln unvergessen sind, zuweilen bedenklich das Haupt schüttelte: „Manches ist heute doch etwas peinlich.“

Nun lese ich am Wochenende die Süddeutsche Zeitung und sehe, dass es immer noch – oder mehr denn je – ein Problem mit  Bártok gibt. Obwohl oder weil er heute als Ideal der Integration gelten könnte oder – plötzlich dafür herhalten soll.

Quelle 1./2./3. Oktober 2016 Von wegen unpolitisch Das Münchner Festival „Bartók for Europe“ erklärt den Komponisten zum Vorbild für Integration / Von Reinhard J. Brembeck.

(Der Artikel ist heute überraschenderweise – SZ?! – im Internet abrufbar: HIER.)

Und wer schaut so ernst und abwesend und fast abweisend aus dem ovalen Farbbildchen heraus, auf uns oder an uns vorbei? Es ist „der Festivalleiter und Geiger András Keller“, den ich oben schon erwähnte und von dem es hier im Text heißt: Er

wollte weit mehr als nur Bartók spielen. „Europa“, heißt es in der Festivalbroschüre, „scheint in den Augen vieler Bürger Europas einige ihrer Ideale aus den Augen verloren zu haben. Was wir am meisten vermissen, findet sich exakt im Geiste Bartóks: die Wahrung von nationalem Charakter und unserem Erbe, und auf diesem Fundament die Verwirklichung einer echten und authentischen europäischen Integration.“

Ist denn heute ein besonderer Tag, ein besonderes Jahr? (Oder das Jahr danach.) Gewiss, nur weiter im Zitat:

Weil nun die ungarische Regierung, die nicht gerade als Vorreiterin der Toleranz gilt, das Festival im Bartók-Jahr (70. Todestag 2015, 135. Geburtstag 2016) mit umgerechnet einer Million Euro unterstützte und sich András Keller vor seinem Festival nicht immer ganz geschickt ausdrückte, stand die Veranstaltung, schon bevor sie begonnen hatte, in einem schiefen Licht.

Und dann zieht Brembeck, durchaus überzeugend, in Zweifel, ob Bartók wirklich als Ideal für gelungene Integration taugt. Und dies ausgerechnet in einer Zeit, angesichts einer Regierung, von der man bezweifeln kann, ob Bartók sie klaglos hingenommen hätte. Eine Regierung, die heute das Volk per Abstimmung darüber entscheiden lässt,

ob es will,  „dass die Europäische Union ohne Zustimmung des ungarischen Parlaments die verpflichtende Ansiedlung von nicht-ungarischen Bürgern in Ungarn anordnet“. Im Kontext mit dieser Abstimmung wirkte das jetzt erstmals in München abgehaltene Festival „Bartók for Europe“ wie eine ungarische Charmeoffensive.

Das Wort „Charmeoffensive“ wirkt allzu harmlos, wenn man von Brembeck später erfährt, dass die von ihr gemeinten Adressaten in der Mehrzahl – ausgewichen sind.

Es dürfte aber nicht nur den politischen Implikationen geschuldet sein, dass das Festival auf geringes Publikumsinteresse stieß. München ist musikalisch saturiert, die Neugier auf Ungewohntes unterentwickelt. Zudem schreckt das Oktoberfest mögliche Konzertgänger ab, die nach dem Kunstgenuss nicht immer gern mit Menschen in der S-Bahn fahren, die gerade aus dem Bierzelt kommen. Also war bei den Auftritten des Concerto Budapest sowie des London Philharmonic Orchestra unter dem grandiosen Vladimir Jurowski – sein Debussy-„Faun“ war der beste seit Menschengedenken in München – die 2200 Plätze bietende Philharmonie allenfalls zu einem Zehntel besucht. Auch das viereinhalbstündige Kammerkonzert sowie die Auftritte der fulminanten, in Ungarn sehr bekannten Folkloregruppe Muzsikás und des Münchner Kammerorchesters in der Allerheiligenhofkirche waren nicht besser besucht. Selbst beim abschließenden Abo-Konzert der Münchner Philharmoniker blieben viele Plätze leer. Der nicht nur in seiner politischen Haltung kompromisslos direkte Bartók ist vielen Hörern zu unbequem. So schön und richtig Kellers Gedanke vom Integrationsvorbild Bartóks ist, er wird vom „Volk“ aus ästhetischen Gründen nicht angenommen.

Aus ästhetischen Gründen??? Zu unbequem?? Zu streng? Ich finde lesenswert, was Brembeck über diese Gründe schreibt, und sei es nur, um ihm zu widersprechen. Welcher neuere Komponist hält denn ein mehrtägiges Festival aus, das ausschließlich seinem Werk und darüberhinaus nicht einmal einigen anderen Kontext- oder Quell-Werken der Moderne gewidmet ist!?

Aber kam es hier nicht zum falschesten aller Zeitpunkte? Als niemand, der auf Bartók große Stücke hält, ausgerechnet IHN, den Integren, im Rahmen eines von der ungarischen Regierung in eigener Sache gesponserten Festivals ehren und genießen (ja!) möchte.

Ich finde es angebracht, eine Rezension in Erinnerung zu rufen, die ebenfalls in der Süddeutschen erschienen ist, allerdings „in den alten Zeiten“, als die alte Garde der Kritiker noch an der Macht war. Ein Programm, in dem Bartók zwischen Webers Oberon-Ouvertüre und Mozarts Klavierkonzert KV 595 („Komm lieber Mai“) erklang. Mir geht es nur darum zu zeigen, wie man damals über Bartóks „Konzert für Orchester“ dachte. (Zum Lesen bitte anklicken!)

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Quelle Süddeutsche Zeitung 13. Juni 1986 Bartok in den rechten Händen / Erich Leinsdorf dirigiert die Münchner Philharmoniker / Von Baldur Bockhoff.

Über Bartóks ungeheure Arbeit als Musikethnologe, die Sammlung und Analyse ungarischer (und anderer) Volkslieder, springen Sie bitte in die  Notiz zu Bartóks Bauernliedern, hier im Blog, beachten Sie insbesondere die vier dort verlinkten Abschnitte des Filmes. Ein Monument sondergleichen!

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Ironie der Geschichte:  Nachricht 19.30 Uhr Die Volksabstimmung in Ungarn ist ungültig. Es haben zu wenig Menschen teilgenommen!!!!! Vermutlich denken sie nicht „völkisch“ genug.

Gratulation an das ungarische Volk!

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Nacharbeit 3. Oktober 2016

Bartóks „Sonatina“

1) Zuerst bloßes Notenstudium.

ZITAT

Bartok wrote this „Sonatina“ in 1915, basing it on Romanian folk tunes.
I. Dudások (Bagpipes). Allegretto
II. Medvetánc (Bear Dance). Moderato (1:29)
III. Finale. Allegro vivace (2:10)
This is a corrected version of the sonatine. created, edited and mastered in Digital Performer 5.13 (MOTU), using Ivory (Synthogy) sound banks.

2) Bartóks Stimme: er spricht über die Sonatina (nur Tonaufnahme)

ZITAT

Bartók is interviewed by David LeVita / This was recorded on July 2, 1944 during a radio broadcast of a live performance by his wife Edith Pásztory-Bartók at the Brooklyn Museum, as part of station WNYC’s „Ask the Composer“ series.

3) Bartók selbst spielt die „Sonatina“ (nur Tonaufnahme)