Archiv für den Monat: November 2015

Fördert Kultur Eskapismus?

Wahrheit oder Schönheit oder weder noch

Wenn in dem folgenden Zitat – es stammt aus einem Filmlexikon (!) – von medialen Texten die Rede ist, könnte man sich fragen, bis zu welchem Punkt es inhaltlich erweitert werden könnte: darf man es auf Romane, Gedichte, Gemälde, Grafiken, Sinfonien, Opern, Kammermusik beziehen?

Mediale Texte bieten sich als Mittel eskapistischer Nutzung an, weil sie dem Zuschauer imaginäre Gratifikationen in einem risikofreien Raum gewähren. Er weiß, dass ihm nichts passieren kann und er jederzeit aussteigen bzw. abschalten kann; er muss keine Verantwortung übernehmen und kann trotzdem aus seinen Alltagsrollen heraustreten und sich in die kompensatorische Medienwelt flüchten. Gerade fiktive Charaktere und unrealistische Abenteuer erleichtern die Flucht aus der Realität.

Quelle HIER

Im Wikipedia-Artikel Eskapismus findet man folgenden Hinweis auf Peter Handke:

Gelegentlich wurde der Kunst im Allgemeinen sowie der Dichtung im Besonderen vorgeworfen, Mittel zur Realitätsflucht zu sein. Oft wurde hierfür das Bild des Elfenbeinturmes gebraucht, in dem der Dichter sich vor der wirklichen Welt verschanze und zurückziehe. Insbesondere auf die Kunst der Romantik, etwa die Dichtung Friedrich Hölderlins wurde dieser Begriff angewandt. Peter Handke ist diesem Vorwurf in seinem Band Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturmes (1972) begegnet. Dort betont er den utopischen Charakter der Kunst, der gerade durch seine Distanz zur Wirklichkeit ihre Veränderung ermögliche.

Ich neige dazu, die Kunst als ein Mittel gegen den Tod zu betrachten. „Nicht wirklich“, nicht in der Realität, aber in einer Sphäre, die es geben müsste, und deren Realität in der Kunst unbezweifelbar wird. (Was nicht im geringsten esoterisch gemeint ist! … oder … doch? im Sinne von „wundergläubig“?)

Aber die Hoffnung, durch Distanz zur Wirklichkeit doch noch deren Veränderung zu bewirken, scheint mir zu den 70er Jahren zu gehören, als es ohne diesen revolutionären Ausblick einfach nicht ging.

Es bleibt zu abstrakt. Konkreter Ausgangspunkt sind zwei Zeitungsartikel, die offensichtlich situationsgerecht sind und zugleich Widerspruch herausfordern. Skrupel darüber, dass bei uns Kultur stattfindet, während der Weltlauf (früher weit draußen, jetzt vor unserer Tür) ein Veto einzulegen scheint?

Es genügt nicht mehr, den Bürger aus Goethes Faust ironisch zu zitieren, – wissend, dass der Faust hoch genug angesiedelt ist, um alles zu integrieren, auch das Böse in der Welt. Wir haben Fernsehen und Medien aller Art, anders als der Biedermeier von einst, es quillt von überall herein. Wir stehen nicht mehr zufrieden am Fenster:

Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried und Friedenszeiten.

ZITAT aus DIE ZEIT:

Noch hat die Flüchtlingswelle, unter der das alte Europa ächzt, Salzburgs Festspielmeile nicht erreicht. Noch sind es einzelne Gestalten, die in der Hofstallgasse vor den Eingängen von Felsenreitschule, kleinem und großem Festspielhaus kauern und knien, auf Lumpen und in Lumpen, die Mienen stoisch, in den Händen Pappbecher, die sie den Besuchern stumm entgegenrecken – wohlweislich stumm. In Salzburg gebe es kein Bettelverbot, lässt die SPÖ-regierte Stadt verlauten, und solange diese ungebetenen Gäste niemanden verbal oder körperlich angingen, könne man nichts gegen sie unternehmen.

Wie umgehen mit solchen Situationen, fragt man sich und stellt sich vor, wie leicht aus diesen wenigen viele werden könnten und wie die Kunstliebhaber sich nicht mehr durch ihresgleichen wühlen müssen, um zu Wolfgang Rihms Eroberung von Mexico oder Beethovens Fidelio zu gelangen, sondern durch Menschenmengen, ja -massen aus Syrien und dem Irak, die sich auch in Salzburg in Turnhallen und Zelten eingepfercht wiederfinden. Die etwas abhaben wollen vom schönen Leben in Europa und sich vielleicht um so etwas wie Bettelkodizes nicht mehr scheren werden. Zu Recht.

Quelle DIE ZEIT 6. August 2015 Seite 47 Hier Leben. Da Kunst Vor den Operntoren von Salzburg kauern Flüchtlinge. Haben die Festspiele die Zeichen der Zeit erkannt? Von Christine Lemke-Matwey  Nachzulesen in ZEIT online: HIER.

Ja, man lese es nach und denke und zweifle … und stehe da als armer Tor und sei so klug als wie zuvor. Ganz besonders bei dem verwegenen Satz:

Vielleicht war Christoph Schlingensief der Letzte, der aus einer derart brisanten Konfrontation von Kunst und Leben hätte Funken schlagen können.

Was ist damit gemeint? Bei Wikipedia finde ich dies (siehe hier):

Schlingensief selber wollte, dass der Kunstbegriff neu definiert werden würde: „Ich fordere uns alle auf, unsere Vorstellungen von Kunst über Bord zu werfen und in den Reichtum eines solchen Ortes zu investieren. Mit der Schule fangen wir an. Sie soll das Zentrum sein. Was für eine Kunst, wenn uns Kinder und Jugendliche, die einen Unterricht besuchen können, an ihrem Wissen teilnehmen lassen! Was für ein Fest, wenn sie ihre eigenen Bilder machen, Instrumente bauen, Geschichten schreiben, Bands gründen. Und was für eine Oper, wenn in der Krankenstation, die wir bauen wollen, ein neugeborenes Kind schreit.“

Nicht mehr und nicht weniger? So lasst uns alles über Bord werfen, was uns lieb und teuer ist! Niemand wird widersprechen, wenn die Alternative ein nicht gerettetes Kind wäre. Letztlich war es auch Dostojewskis Argument, auf seine Eintrittskarte ins Paradies zu verzichten, wenn auch nur ein einziges Kind in der Welt Leiden ertragen müsste. Es handelt sich um listig konstruierte Zwangslagen: denn es gibt nun einmal keine solche Eintrittskarte, aber es gibt die Dummheit und das Böse! Und es geht niemals darum, Mozart in den Orkus zu jagen und stattdessen Kindern ein lebenswertes Leben zu ermöglichen, sondern z.B. darum, Kindern ein lebenswertes Leben zu ermöglichen, damit sie u.a. die Chance haben, Mozart (wahlweise auch gern Amadinda-Musik aus Uganda)  kennenzulernen und zu wissen, was Leben für eine Bedeutung haben kann. Man soll uns nicht Alternativen anbieten, die keine sind, weil die Wahl in jedem Fall absurd wäre.

Aber man kann auch nicht jedes Argument akzeptieren, das zugunsten der (nutzlosen) Kunst plädiert. Nützlicher wäre, sie tatsächlich nutzlos zu nennen, und über den Sinn des Spielens und des bloßen Lebens zu reden. Warum beschleicht mich ein solches Missbehagen, wenn ich einen gutgemeinten und ziemlich hoch angesiedelten Beitrag (s.o. Stichwort Faust, jetzt wird bald Adorno folgen) im letzten Wochenend-Feuilleton der SZ lese? Er beginnt so:

Jeder, der derzeit in Konzerte, Museen, Buchhandlungen geht, wird dabei auch an die Flüchtlingsströme und den (Pariser) Terror denken. Und es ist kein Wunder, dass das Theater, eine so wendige wie schnelle Kunstform, diese Erschütterungen schon kommentiert, dass in Konzerten der Opfer gedacht, für die Flüchtlinge gespielt wird. Aber all das sind äußerliche Aktionen, die kaum ins Innere der Kunst vorstoßen. Deshalb dürften viele Kunstfreunde immer ein etwas schlechtes Gewissen haben angesichts der desolaten Weltlage: Ist es nicht hedonistischer Egoismus, sich derzeit mit Kunst abzugeben? Zumal auch noch Bertold Brechts berühmte unselige Einlassung durch viele Hirne spuken dürfte: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“

Was soll denn das heißen? – „unselige Einlassung“? Das Gedicht wurde  im Jahre 1939 geschrieben. Ich habe es selbst kürzlich memoriert: hier, „In finsteren Zeiten“.

Ich möchte sagen: die „finsteren Zeiten“ heute erleben wir mehr oder weniger konfrontal in Syrien, indirekt in Gestalt der Flüchtlingsströme aus Süd und Südost, die „Bäume“ aber in Gestalt der Klimakonferenz in Paris, die das Gegenteil eines Verbrechens ist, die vielmehr „über so viele Untaten“ nicht mehr schweigen will.

Ich fahre fort im ZITAT, wobei ich mir ein paar Einwürfe nicht versagen möchte), nenne aber zunächst die originale Quelle:

Quelle Süddeutsche Zeitung 28./29. November 2014 Akkordmonster Angst vor dem Fremden? Nein. In ihren großen Momenten bringt die klassische Musik zusammen, was unversöhnlich erscheint / Von Reinhard J. Brembeck.

Theodor W. Adorno hat, zuletzt noch in seiner unvollendet gebliebenen „Ästhetischen Theorie“, immer darauf bestanden, dass es einen unaufkündbaren und wesentlichen Zusammenhang gebe zwischen den Kunstwerken und der Wirklichkeit. „Wird sie strikt ästhetisch wahrgenommen“, schreibt Adorno über die Kunst, „so wird sie ästhetisch nicht recht wahrgenommen.“ Denn: „Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form.“

Adorno bleibt konkrete Belege für solche Thesen erst einmal schuldig [Einspruch! sein Werk quillt über von Belegen], weshalb solche Statements manchem Leser vielleicht erst einmal als wohlfeiles Philosophengeschwätz gelten mögen. [Nein, man misstraut zunächst dem Journalisten!]. Macht man sich jedoch die Mühe, seine Thesen in der Wirklichkeit der Kunstwerke zu überprüfen [statt sie „erst einmal“ in Adornos Kontext zu verstehen] , dann dämmert einem schnell, dass es tatsächlich oft diese nicht von der Hand zu weisenden Bezüge zwischen den beiden Sphären gibt und dass dabei zentrale Widersprüche des Daseins verhandelt werden. Und zwar nicht so sehr in den an Themen gebundenen Künsten wie der Literatur, dem Theater oder Teilen der zeitgenössischen bildenden Kunst, der Malerei, sondern gerade in der scheinbar so abstrakten, sperrigen Instrumentalmusik der Wiener Klassiker, die einst als „absolut“ und „erhaben“ gedacht wurden, als aller Diesseitigkeit entrückt.

Wie lang zurück liegt denn dieses „einst“? Seit 50 Jahren liest man, wenn man über Beethoven liest, auch von Französischer Revolution, wenn über Schubert, dann auch über Metternichs Polizeistaat.

Eigentlich möchte ich nicht mehr zum neuen Hören der Eroica und der C-dur-Streichquartetts angeleitet werden, wenn etwa die Exposition des Beethovenschen Kopfsatzes als ein „forsch dahinwalzerndes [!!!] Anfangsstück“ gelten soll, und Schuberts Adagio als „ein E-Dur-Idyll [!!!], in dessen Zentrum er eine f-Moll-Hölle implantiert“.

Das derzeitige Flüchtlingselend, der Terror und die Kriegshysterie schärfen den Blick für die Bedeutung solch formimmanenter Prozesse. (…) Niemand, der das Fremde, Neue und Unvereinbare ausgrenzen will, kann sich auf Beethoven und Schubert berufen.

Niemand will heute das „Fremde, Neue und Unvereinbare“ ausgrenzen, es wird ja sorgfältig umetikettiert. Es heißt dann: die, die von unseren Sozialleistungen profitieren wollen. Die, die hier Parallelgesellschaften bilden wollen, die unsere christlichen Werte nicht anerkennen. Die uns – „ich hab nichts gegen sie“ – aber doch mit ihrer schief intonierten Jammermusik etwas auf die Nerven gehen und vor allem: keine Mittagsruhe einhalten. usw. usw.

Das „Fremde“ hat eine andere Dialektik als zu Schuberts Zeit, als es um ein Fremdempfinden innerhalb der vertrauten Gesellschaft ging, ein Ausgestoßensein, man schaue nur, was die Verehrung der „Fremden“, der „Peregrina“, des fremden Mädchens (möglichst noch stumm), des exotischen Erotischen in der Romantik bedeutet hat. An die Anerkennung einer fremden Musik zum Beispiel hat niemand nur im Traum (oder nur im Traum!) gedacht.

Man darf das nicht alles – etwa die gleichen Worte, die in der Substanz scheinbar verwandten Themen – über einen Kamm scheren. Etwa so:

Für dieses Phänomen bietet die Naturwissenschaft eine Erklärungshilfe. Mögen zwei Menschen auch noch so verschieden sein, in der DNA ist der Unterschied zwischen ihnen so gut wie irrelevant. Genau diesen Zusammenhang zwischen Außen und Kern hat Beethoven in der „Eroica“ vorweggenommen.

Nein, das hat er nun gerade nicht! Die kleinen Unterschiede sind z.B. das Relevanteste an zwei scheinbar ähnlichen Akkorden.

Man vergleiche nur die Ähnlichkeit der DNA eines Säugetieres mit der eines Menschen. Dieses Argument ist äußerst gefährlich…

Ausblick 2. Dezember

Es ist noch längst nicht zuende gedacht. Vor einigen Jahren habe ich es schon mehrfach angefangen. Hier zum Beispiel, in dem Essay 2012 für SWR 2: Schöne Fremde, verlorenes Ich… Wenn die Musik an ihre Grenzen stößt.

Oder in einem früheren Anlauf 2008, speziell für meine Geburtsstadt Greifswald, die ich bei dieser Gelegenheit wiederzuentdecken hoffte. Mir war allerdings schnell klar, dass hier keine Freunde zu gewinnen waren, gerade nicht unter Schubert-Freunden. Mit einer einzigen indischen Musik hat man sie für den Rest des Abends vergrätzt. Was man natürlich auch als Auszeichnung empfinden kann. So behält doch jeder seinen Schubert und muss an den vertrauten Klängen nicht irre werden.

Schubert und die Romantik des Fremden
Von österreichischen, ungarischen, schwedischen Farben,
romantischen Sehnsüchten und ethnischen Fragwürdigkeiten
Ein Vortrag von Jan Reichow

Nachzulesen HIER.

 Und erst heute erlebe ich nun in ein und derselben Süddeutschen Zeitung, wie Schubert unter Anrufung Adornos mit untauglichen Mitteln für das Flüchtlingselend mobilisiert wird und gleich daneben der romantische Begriff des Orients (vs. Naher Osten/Mittlerer Osten) aufs neue in Frage gestellt wird:

Solange die arabische Welt ein ferner Schauplatz von Konflikten und Kriegen war, genügten die spröden geografischen Bestimmungen. Nun, da dessen Bewohner zu uns kommen, kehrt ein Begriff zurück, der für das Fremde, das ganz andere steht, der aus einer vorglobalisierten Welt stammt, als nicht Hunderttausende ins Abendland aufgebrochen sind. Nun steht der Orient nicht mehr für Schlangenbeschwörer und Bauchtänzerinnen, sondern für Selbstmordattentäter und Traumatisierte in Second-Hand-Klamotten. Um die Menschen und ihre Kulturen ging es in diesen Fantasiene damals so wenig wie heute.

Quelle Süddeutsche Zeitung 28./29. November 2015 Seite 17 ORIENT Ein Klischee kehrt zurück. Von Jörg Häntzschel.

Fazit? Die krasse Wirklichkeit wird nicht in den Kunstwerken verhandelt, sondern in real politischen Schritten und direkter Öffnung. Ich möchte mich am liebsten nicht auf Schubert berufen, wenn es um die Flüchtlinge geht. Sondern z.B. auf den Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach, der „mehr konkretes Engagement der Kirche bei der Unterbringung von Flüchtlingen“ forderte:

Er wolle sich nicht vorstellen, dass Katholiken festlich erbaut aus der Christmette kommen, am leeren, beheizten Pfarrheim vorbeigingen und wüssten, dass ein paar hundert Meter weiter die Flüchtlingsfamilien in Zelten hausten.

Quelle Solinger Tageblatt 1. Dezember 2015 Seite 15 Kurzbach: Kirchen sollen sich mehr engagieren. (Tim Kurzbach ist Vorsitzender des Diözesanrates.)

Kurzbach ST 151201

Ein Rätsel als Platzhalter

(Inzwischen durch Erweiterung gelöst)

Von Hinten P1050310 HH 56 P1050295 Chilehaus

Von Vorn P1050301  HH 59b P1050302 Chile Spitze

Nächste zu erwartende Hinzufügung: das Schild an der Hauswand hinter dem Paar.

Hamburg ChilehausReise nach Hamburg (s.a. hier) 19.-21. November 2015

HH 75 P1050322 altes Hafen-Gebäude HH 82 P1050334 roter Turm

HH 80 P1050329 blaue Kräne HH 86  P1050340 Hafen & Flanierende

HH 74 P1050321 Hafen Kräne HH 84 P1050336 Hafen Film Polizeistation

HH 69 P1050316 Elbphilharmonie HH 73 P1050320 Elbphilharmonie

HH 81 P1050333 Oevelgönner HH 87 P1050342 Lotsenhaus

HH 41 20151121_122050 Hafen a HH 50 20151121_125420 Treppe zum Elbstrand

HH 83 P1050335 Durchfahrt verboten

(Hamburg Hafen Fotos: E. Reichow 21. November 2015)

… das Universum berühren

… mit Richard Wagner?

Wenn jemand, der den Wotan singt, solche Worte findet, muss ich wissen, worum es sich handelt. Es gehört zur Untersuchung der Chill-Effekte, denen ich kürzlich einen Beitrag gewidmet habe (hier). Die Journalistin Christine Lemke-Mattwey fragte den Sänger Matthias Goerne: Haben Sie Lieblingsstellen als Wotan? Und er antwortet:

Eigentlich alles in der Walküre, was mit Brünnhilde zu tun hat, wegen der ungeheuren psychologischen Tiefenschärfe, was da zwischen Vater und Tochter alles passiert … Und dann Wotans „Wer bist du, mahnendes Weib?“ im Rheingold, seine erste Begegnung mit Erda. Da gibt es zwei Takte, mit denen berührt Wagner das Universum.

Schluss. Ende. Aber das muss ich doch wissen! Welche Takte????

Quelle DIE ZEIT 26. November 2015 Seite 64 „Keine Schludrigkeiten!“ Mit 48 Jahren gibt der Bariton Matthias Goerne jetzt sein Debüt als Wotan in Wagners „Ring des Nibelungen“. Ein Gespräch über Lautstärke, Muskeltraining und die Magie der Innerlichkeit. (Mit Christine Lemke-Matwey).

Ich verstehe – „Walküre“, ich würde sofort die Todesverkündigung nennen, oder Wotans Abschied, – mein Vater, dessen Klavierauszug ich hier verwende, weinte, als er das im Radio hörte und selbst nicht mehr weit vom Tode war. Aber dort in der Szene mit Erda, was mag da von Goerne gemeint sein? Das aufsteigende Motiv, das schon zu Anfang des Werks in Es-dur aus der Tiefe des Rheines kam, kann doch in seinen Wandlungen jetzt nicht mehr so erschüttern. Es kann sich nur um eine Stelle handeln, in der nicht Erda den Wotan-Sänger anspricht, sondern dieser selbst (der Sänger) die bedeutungsvolle Tiefe der Situation erfasst, es wäre also wieder ein Durchbruch oder zumindest die überwältigende Nähe eines Innewerdens, einer Erkenntnis. Erda hatte im Versinken gerufen: „Ich warnte dich, du weisst genug: sinn‘ in Sorge und Furcht!“ Und Wotan, in Panik, versucht die Verschwindende zu halten: „Soll ich sorgen und fürchten, dich muss ich fassen, alles erfahren!“

Das ist es! Dazu diese Akkorde, Tristan-Akkorde sozusagen vor ihrer Zeit. Crescendo!

Wagner Wotan Erda 2 Takte

Belebte Jahre

Das gestrige Treffen In Köln („Gilden im Zims„) förderte Erinnerungen und reale Bilder zutage. Rätselraten, von wann genau dies unten wiedergegebene Foto stammt, – Probe fürs Folkfestival am Kölner Dom Anfang der 80er Jahre. Ich werde es zunächst hier ablegen, vielleicht ergänzen, auch ein paar Links zu youtube-Funden aus jenen Jahren anlegen. Eine Wiederbegegnung kürzlich: Jochen Wiegandt, der bei der Trauerfeier für Helmut Schmidt am vergangenen Montag (23. November) das plattdeutsche Lied „Min Jehann“ sang, war auch bei einem der ersten WDR-Folkfestivals mit der Gruppe Liederjan zu Gast.

Folkfestival 80er (Foto:WDR)

Neben mir (Hand am Kinn) steht Dr. Werner Fuhr (der im vergangenen Monat pensioniert wurde), weiter hinten die Tonmeister-Adepten Martin Frobeen (hier schon in Amt und Würden) und Günther Wollersheim. Vorne rechts, sitzend (mit erhobenem Arm), der Fernseh-Regisseur Armin Maiwald, der das Festival mehrfach betreute, was in seiner Wikipedia-Biographie unerwähnt bleibt. Bei Bettina Böttinger (hier) ist immerhin nachzulesen, dass sie das Festival 1986 bis 1991 moderiert hat.

Dick Gaughan WDR Folkfestival Domplatz Klick hier!

Oben: Dick Gaughan / Unten: June Tabor (Screenshots)

June Tabor 1990 Klick hier!

Plakat von Heinz Edelmann: nicht immer haben uns die Motive, auf die es keinen Einfluss gab, glücklich gemacht. Aber es waren zweifellos „Eyecatcher“.

Folkfestival 82 (Edelmann/WDR)

Folkfestival 97 a

Folkfestival 97 b

Die Hauszeitschrift des WDR (Text: Peter Lüdecke) würdigte 1997 das Folkfestival, das im 22. Jahr seiner Existenz zum ersten Mal „Weltmusikfestival“ hieß, und prompt erschien das Wort „Volksmusik“ in der Bedeutung, wie wir sie immer verstanden hatten. Zu Gast u.a. die rumänische „Fanfara Ciocârlia“, die hiermit ihre Weltkarriere begann und in Kürze ein Doppeljahrzehnt öffentlicher Präsenz feiert. Dazu hätte ich auch noch eine Geschichte zu erzählen (folgt ein andermal).

Mehr über Ciocârlia heute bei Asphalt Tango Productions HIER. Noch besser – mit Musik – HIER.

Das Triolen-Problem

Schubert Wasserfluth Anfang

Alfred Brendel hat eine Besprechung des Buches „Schuberts Winterreise“ von Ian Bostridge geschrieben, wiedergegeben im Magazin ZEIT-Literatur November 2015. Sehr wohlwollend, was mich – aufgrund der näheren inhaltlichen Andeutungen – nicht verlocken kann, dieses Buch ernsthaft in Betracht zu ziehen (wie ich auch mit dem Sänger meine Schwierigkeiten habe). Festzuhalten ist unbedingt Brendels kritische Passage über die rhythmische Ausführung des Liedes „Wasserfluth“ (Triolen gegen das punktierte Achtel mit nachfolgendem Sechzehntel), da dies eine ewige Diskussion betrifft, die mit Bach beginnt und mit Beethovens „Mondscheinsonate“ noch nicht aufhört.

Bostridge möchte die Sechzehntelnote nach der Triole, also polyrhythmisch, gespielt wissen, während ich von der Notwendigkeit, diese Note der Triole anzupassen, überzeugt bin. Sowohl das Autograf als auch der Erstdruck, den Schubert noch selbst durchgesehen hat, beweisen eindeutig, dass nur Angleichung gemeint sein kann. Kein Komponist, der seiner Sinne mächtig ist, hätte die letzte Sechzehntelnote in den Takten 3, 17 und 45 so niedergeschrieben, wenn Polyrhythmus beabsichtigt wäre. (Leider ist bei Bostridge nur der erste Takt des Autografs wiedergegeben.)

Warum hat diese Triole soviel Konfusion ausgelöst? Ein Teil der Schuld trifft die gedruckten Ausgaben der Winterreise, die fast alle den Sachverhalt falsch wiedergeben. Rhythmus ist ja auch fürs Auge da; der Spieler soll ihn in der Niederschrift sofort visuell wahrnehmen.

Gerald Moore, der gefeierte Begleiter, schrieb kategorisch, der Rhythmus der Wasserfluth sei so zu spielen, wie er in den Noten stehe. Aber in welchen Noten? Wenn man Autograf und Erstdruck heranzieht, stimme ich ihm mit Vergügen zu. Leider hat man diese Quellen lange Zeit wenig beachtet. Ausnahmen unter den Interpreten der Vergangenheit waren Julius Patzak mit Jörg Demus, Peter Schreier mit Swjatoslaw Richter und Peter Pears mit Benjamin Britten, die in ihren Aufnahmen allesamt den Rhythmus richtig wiedergeben. Auch die Aufführungen mit Hermann Prey, Dietrich Fischer-Dieskau und Matthias Goerne, an denen ich beteiligt war, hielten sich an den Originaltext.

Es gibt jedoch, abgesehen vom philologischen Augenschein, noch einen weiteren Grund, der für die Ausführung „punktierter Triolen“ spricht: Das musikalische Ergebnis ist, in meinem Schubert-Verständnis, ungleich überzeugender als die poetisierende Vorstellung einer schleppenden Wirkung, die das Bild des müden, von Tränen halb blinden Wanderers glaubhaft macht“ (Gerald Moore). Hier, wie in anderen Fällen, ist die einfachste rhythmische Lösung bei Schubert die natürliche. Und wie steht es mit Beethoven?, werden manche fragen. Soll im ersten Satz seiner sogenannten Mondscheinsonate die punktierte Oberstimme etwa an den Triolenrhythmus angeglichen werden? Gewiss nicht. Beethoven verwendet bereits insgesamt eine wörtliche, „moderne“ Notation, während Schubert sich noch an barocke Gewohnheiten klammerte, und nicht nur in der Triolen-Notation, sondern auch in zahlreichen Apoggiaturen – langen Vorhalten, die zu entwirren Max Friedlaenders Ausgabe sich bemüht hat. In seinen Kommentaren zu den Klavierwerken Beethovens warnt dessen Schüler Carl Czerny davor, den Rhythmus von Op. 27/2 triolisch zu spielen, was darauf hinweist, dass Angleichung immer noch vielfach praktiziert wurde.

Quelle Magazin ZEIT Literatur N°48 (Seite 45 ff) November 2015 Fremd bin ich eingezogen Der Startenor Ian Bostridge hat ein Buch über Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ geschrieben. Der große Pianist und Essayist Alfred Brendel erklärt, warum die glänzende Deutung einer unvergleichlichen Seelenmusik so aufregend ist.

Bevor ich fortfahre: es handelt sich im Zitat aus dem insgesamt sehr lesenswerten Artikel nicht etwa um eine Kleinigkeit. Ich erinnere mich, wie sorgfältig Paul Badura-Skoda das Problem bereits in seinem Buch „Bach-Interpretation“ (Laaber Verlag 1990, Seite 54 bis 62) abgehandelt hat, insbesondere auf die von Brendel erwähnte barocke Lesart :

Badura-Skoda über Triolen

Ganz so klar ist, wie Brendel andeutet, ist es im Barock auch nicht, wenn man z.B. Alfred Dürr über problematische Stellen im Wohltemperierten Clavier von Bach nachliest, und auch er verweist auf Badura-Skoda:

Dürr Notation Bach

Dürr bezieht sich z.B. dezidiert auf das D-dur-Praeludium im WTC II:

Bach WTC II D-dur

ZITAT

Das Wechselspiel zwischen triolischem und duolischem Rhythmus ist offensichtlich eine beabsichtigte Stileigentümlichkeit. (…) Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir die Schreibung [Achtel mit Punkt + Sechzehntel] triolisch aufgelöst verstanden wissen wollen, auch wenn sich die Theoretiker der Zeit hierüber durchaus nicht einig sind. Um so entschiedener sind wir der Meinung, daß die nichtpunktierten Achtel durchweg duolisch zu spielen sind, also (entgegen Keller, S. 134) auch in Takt 18. (Dürr Seite 280)

In dieser Rezension (betrifft Klavierschule von Georg Simon Löhlein 1765) von 1769 moniert Agricola Löhleins Lehre, „daß bey punctirten Noten gegen Triolen, die Note nach dem Puncte auf die dritte Note der Triole angeschlagen würde“, und fährt fort: „Dies ist nur bey der äußersten Geschwindigkeit wahr. Außer dieser aber muß die nach dem Puncte stehende Note nicht mit, sondern nach der letzten Note angeschlagen werden […] So lehrte es J.S.Bach alle seine Schüler, so lehrt es auch Quanz in seinem Versuche“. Aber schon Carl Philipp Emanuel Bach lehrt in seinem Versuch (3. Hauptstück, § 27) das Gegenteil, und nur in ganz wenigen seiner Werke schreibt Johann Sebastian Bach eine Angleichung tatsächlich vor (so bezeichnenderweise in der Kunst der Fuge, jedoch nur im Canon alla Ottava), und in den meisten übrigen Fällen liegt eine Angleichung um soviel näher als eine korrekte Ausführung, daß man meinen möchte, Bach habe seinem Schüler Agricola nur zu verstehen gegeben, daß hier „eigentlich“ eine korrekte Notierung zu fordern wäre. (Dürr Seite 91 f)

Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach / Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel Basel London New York Prag 1998 ISBN 3-7618-1229-9

Badura-Skoda aber weist ausdrücklich auf Bachs doppelte Taktbezeichnung hin, das durchgestrichene C mit 12/8, die er sich hätte sparen und „im zweiten Takt einfach wie sonst im Präludium punktierte Achtel und Sechzehntel notieren können.“ Verweis in der Fußnote auf die Gigue der ersten Partita, die übrigens im Viervierteltakt stehe. (siehe Beispiel unten)

Quelle Paul Badura-Skoda BACH Interpretation Laaber Verlag 1990 (Seite 60)

Bach Gigue Partita B

Merkzettel Papua

Was ich mir noch in Ruhe ansehen wollte

Dirk Steffens über Papua-Neuguinea / HIER /  Z.B. über Kannibalismus ab etwa 40:00 (… wurde gern bestimmten Völkern zugeschrieben, wenn die Entdecker einen Vorwand brauchten, sie auszurotten)

ZDF Mediathek Terra X: Faszination Erde  | 22.11.2015 

Papua-Neuguinea – Das verhexte Paradies

Ein faszinierender Garten Eden im Pazifik

Paradiesvögel und Krokodilmenschen, Kängurus, die auf Bäumen leben, und Vögel, die das Brüten einem Vulkan überlassen. Menschen, die sich in über 800 verschiedenen Sprachen verständigen und bis heute ihre magischen Rituale pflegen: Was hat Papua-Neuguinea so vielfältig und fremdartig gemacht?

Ein Film über die Dreharbeiten: auf facebook HIER   Länge: 3:41

Bemerkenswert die Worte (bei 2:25): „Die Probleme kommen immer … immer … vom Ton. Es ist gar nicht das Bild, das so schwer herzustellen ist, sondern der Ton. Auch jetzt wieder….“

Dirk Steffens auf Papua N Screenshot 2015-11-25 11.08.49 Screenshot facebook Beitrag Dirk Steffens

Warum all dies für mich? Um die entsprechenden Bücher und CD-Sammlungen zu aktivieren. Steven Feld „Sound & Sentiments“, Artur Simon „Irian Jaya“, Berliner Museum Ausstellungskataloge, Hans Christoph Buch über den Maler Nolde 1913 in Papua-Neuguinea

„Das Kolonisieren war eine brutale Angelegenheit und wenn eines Tages die Geschichte neu geschrieben würde, müssten die Europäer mit all ihren Humanitätslehren sich in Höhlen verkriechen“, notierte Nolde später, als er auf dem Dampfer Waldemar plötzlich einer Horde Ureinwohner gegenüberstand, die gewaltsam verschleppt, auf Schiffe verladen, weil deutsche Pflanzer Arbeitskräfte brauchten. „Die dunklen, schreckhaft geweiteten Augen der Menschen, aus denen Unverständnis und blankes Entsetzen über den Untergang ihres Volkes spricht“.

So Buchs Fazit von Noldes Reise.

Hans Christoph Buch: Nolde und ich. Ein Südsee-Traum. Kometen der Anderen Bibliothek, Aufbau Verlag, Berlin, 123 S., 18,00 Euro, ISBN 978-3-8477-3003-3

Asmat Cover

Museum für Völkerkunde Berlin 1996 ISBN 3-88609-381-6

 Irian Jaya CD   Artur Simon
Voices Rainforest Cover   Steven Feld
Wikipedia-Artikel zur Musik Neuguineas HIER
Die Frage entsteht, wieso Steven Feld, der grundlegende Arbeiten über die Kaluli (Bosavi) geschrieben hat, hier nicht vorkommt. Es sieht nach Absicht aus…
Vgl. zunächst hier.

Lähmung durch Musikjargon

„Wow!“

Wenn die Beschreibung eines Klavierabends mit diesem Ausruf beginnt, spürt man den Ehrgeiz, Ungewöhnliches in Worte zu fassen, falls man die Interjektion bereits als Wort gelten lässt. Der Pianist selbst, wie immer ein „Ausnahme-Pianist“, bewies als Moderator des Programms, so heißt es, „eine bewundernswerte Souveränität und eloquente Kompetenz“. Ich will nicht hoffen, dass die im Tageblatt gegebenen Formulierungen auf seine Anregungen zurückgehen.

Mit Beethovens Sonate op. 27 Nr. 1 in Es-Dur, der „Schwester“ der viel bekannteren „Mondscheinsonate“ saugte er dann sein Publikum nahezu in die Klänge hinein. Jeder gespielte Ton, offenbar bewusst pointiert, steigerte die spürbare Faszination im Raum, die von der atemberaubenden Mischung aus handwerklichem Können, sensitiver Ausdruckskraft und energetischer Dichte am Klavier ausging.

Liszts „Fantasia quasi Sonata“ übertrumpfte diesen Eindruck noch. Wirbelnde Läufe und perlende Tontropfen ließen vor der Pause donnernden Applaus aufbranden. Im zweiten Teil präsentierte [Pianist XYZ] mit den Fantasien op 116 ein Spätwerk von Brahms, in dem dieser sentimental auf sein Leben und seine Liebe zu Clara Schumann zurückschaut und verlangte ihm anschließend mit Skrjabins „schwarzer Messe“ mental viel ab. So viel, dass er mit „Poème: Vers la Flamme“ einen versöhnlichen fulminanten Klangteppich hinterherschickte.

Sofern man bei der Lektüre nicht längst wie gelähmt in den nächsten Artikel getaumelt ist, der weniger absurd ausklingt:

„Bis man hier eine gewisse Verdichtung wieder erkennen kann, dürften mindestens zehn Jahre vergehen“, erklärt der Revierförster.

Nicht ohne Grund ist hier von einer echten Kahlschlag-Aktion in Leichlingen die Rede. – Ich studiere also noch einmal die rein Solinger Aussage über das Spätwerk von Brahms, in dem der alte Herr sich offenbar Sentimentalitäten geleistet hat. Verständlich, dass der Pianist ihm anschließend mental etwas mehr abverlangte. Und zwar so viel, dass der Komponist „einen fulminanten Klangteppich hinterherschickte.“

Und dann war endlich Ruhe, ist zu vermuten…

ST 151124 ST 24.11.2015

Ich jedenfalls beende meine Morgenlektüre und denke an Clara Schumann. Immerhin: noch lebte sie. Dies Spätwerk war spät, aber nicht zu spät!

Kein Krieg, – nur Terrorismus

Was man „tun“ kann: Bei sich bleiben, Normalität bewahren.

ZITAT

Der Terror des IS gedeiht dort, wo alles andere Wüste ist. Nachdem autokratische Systeme wie Ägypten oder zerfallene Staaten wie der Irak und Syrien ihre Wirtschaft sterben ließen, waren Millionen junger Männer immer noch da. Und wütend. Und ohnmächtig. Diese Ohnmacht ist heute das dominierende Gefühl der arabischen Welt. Die Ohnmächtigen wollen es den Mächtigen heimzahlen.

Der Terrorismus des IS soll überraschen, Angst erzeugen, schockieren, und all das tut er. Aber er ist, jedenfalls außerhalb Syriens und des Iraks, kein Krieg, schon gar kein Dritter Weltkrieg, sondern immer noch lediglich Terrorismus. Der IS ist nicht in der Lage, unsere Staaten zu gefährden. Er kann auch nicht, so wie der Klimawandel, langfristig die Menschheit bedrohen. Das Handwerk des Terrorismus allerdings beherrscht er, und das ist bedrohlich genug. Wenn wir verstanden haben, wer der Gegner ist, können wir handeln.

Quelle DER SPIEGEL  48/2015 19. November 2015 Seite 8 Leitartikel „Die wehrhafte Demokratie. Terrorismus führt nicht in den Weltkrieg, ist aber eine Gefahr. Was wir tun können.“ Von Klaus Brinkbäumer.

ZITAT Eva Illouz:

Die Attentate zielen auf Zivilisten als Symbole des Westens, nicht als Angehörige einer bestimmten Nation. Einen Franzosen anzugreifen ist so gut, wie einen Amerikaner anzugreifen: Beide symbolisieren Unreinheit (in einer offiziellen Erklärung des „Islamischen Staats“ hieß es, es hätten „acht Brüder […] Hunderte von Götzendienern […] auf einer Party der Perversität angegriffen – in ihren Worten verwandelte sich Paris in „die Stadt der Perversion und Obszönität“). Rockmusik im Bataclan, ein Fußballspiel zwischen den friedlich zusammenarbeitenden und sich austauschenden Nationen Deutschland und Frankreich, Meinungsfreiheit, die von einer Satirezeitung symbolisiert wird, vergnügliche Stunden mit Freunden in einem Restaurant, all dies sind die zentralen heiligen Werte des Westens (Genuss, Konsum, Individualismus, Freiheit). Und genau als solche, als die sakrosankten Werte einer ganzen Kultur, wurden sie auch ins Visier genommen.

Darüber hinaus sehen sich die IS-Kämpfer in einem täglichen Krieg mit dem Westen. Für Europäer aber, die mit ihrem guten Leben beschäftigt sind, ist der IS nicht mehr als ein Nachrichtenereignis.

Quelle DIE ZEIT 19. November 2015 Seite 51 Lasst sie nicht gewinnen Wer wissen will, wie mit einem feindlichen Umfeld zu verfahren ist, schaue nach Israel. Von Eva Illouz.

ZITAT Herfried Münkler

Der Kampf gegen den Terrorismus muss im Modus der politischen und gesellschaftlichen Normalität geführt werden, wenn der selbst zugefügte Schaden mittelfristig nicht größer ausfallen soll als der durch terroristische Anschläge.

Damit kommt ein weiteres Problem ins Spiel, dass es sich nämlich bei den jetzt angegriffenen Gesellschaften Europas – wenn wir die Pariser Anschläge als exemplarische Attacke auf den (west-)lichen Lebensstil begreifen – um postheroische Gesellschaften handelt, Gesellschaften also, in denen die Überwindung des Opfermotivs als gesellschaftlich-politischer Lernerfolg begriffen wird. Dass wir die innergesellschaftlichen wie innerstaatlichen Verhältnisse im Modus des Tauschs und nicht in dem des sakrifiziellen Opfers organisieren, wird von uns als zivilisatorischer Fortschritt begriffen, den wir nicht rückgängig machen wollen und vermutlich auch nicht können. Die in diesem Fall weniger strategische als symbolische Herausforderung durch den Terrorismus besteht in der demonstrativen Bereitschaft der Attentäter zum Selbstopfer. Neben den eigenen Opfern ist es diese Form der Selbstsakrifizierung, die uns erschüttert und das Gefühl von Wehrlosigkeit auskommen lässt. Die erste Linie des Gegenhandelns angesichts der terroristischen Herausforderung besteht also darin, dass wir das Empfinden der Wehrlosigkeit und die damit verbundenen Affekte in uns niederringen, uns nicht ducken, sondern aufstehen und uns zeigen, von Kundgebungen der Trauer bis zur Fortführung des alltäglichen Lebens, so, als hätte es die furchtbaren Anschläge nicht gegeben.

Quelle DIE ZEIT 19. November 2015 Seite 49-50  Wie wir kämpfen müssen Der Terror richtet sich gegen Europa, nicht nur gegen Frankreich. Sind wir reif für eine gefahrvolle Solidarität? Von Herfried Münkler.

Nachtrag 26.11.2015

Es gibt kaum eine überzeugende Geschichte, zu der man keine überzeugende Gegendarstellung findet. Das gilt noch radikaler für Einzelsätze, so auch für die in diesem Artikel zitierten, oder für die von Bert Brecht und Philipp Ruch des Artikels In finsteren Zeiten. Dennoch ist nicht alles gleichermaßen wahr (oder gleichermaßen egal). Gestern in der Süddeutschen Zeitung:

… man wundert sich dann doch, dass die, die nun für die Pariser Opfer zu sprechen glauben, so inständig betonen, dass die Ermordeten doch nur ein wenig Spaß haben und feiern wollten, einfach ein bisschen das Leben genießen, fast als wollten sie ihnen noch ins Jenseits nachrufen, sie seien im Schlaf ermordet worden.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Nicht die Lebensart, die vermeintlich attackiert wurde, nicht der Spaß, nicht das Feiern sind das Problem. Das Problem ist auch nicht das recht exklusive „Wir“, das hier seine Lebensart einklagt und das vermutlich mehr von „Freiheit“ als von „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ versteht. Das Problem ist das unglaubliche Staunen, das Nicht-wahrhaben-Wollen, dass auch wir, die doch nur das Leben im Diesseits genießen wollen, in dieser Welt leben, und dass diese Welt eine einzige Welt geworden ist, unteilbar, ohne Grenzen, globalisiert eben auch in Sachen Gewalt, Unterdrückung, Verfolgung.

Quelle Süddeutsche Zeitung 25. November 2015 Seite 12 Europa hat genug geschlafen Über die unerträgliche Illusion, man solle bitte lieber nicht vom Krieg sprechen / Von Stefan Weidner.

Wir kennen durchaus die Mahnung, die Zeiten seien zu ernst um Späße zu machen. Und man kann genug Fälle aufzählen, bei denen einem das Lachen vergeht. Sagt der eine: Vorsicht mit dem Wort Krieg, sagt der andere: man soll den Terror nicht verniedlichen. Sagt der erste: das habe ich nicht gesagt. Und der andere: dann nimm doch das Wort „relativieren“. Du weißt was gemeint ist.

Es sind halt Worte. Man vergesse nicht, dass die Leute, die angeblich nur gefeiert haben, vom Ernst der Kriege in aller Welt einen Begriff haben können und im Café sogar mit Sorge über die Millionen frustrierter junger Männer hier oder dort gesprochen haben.

ZITAT

Herfried Münkler etwa, der sich mit Kriegen auskennt, lobte letzte Woche in der SZ das schnelle Vergessen sogar als Haltung „heroischer Gelassenheit“. Die Menschen schlafen. Und wenn sie sterben, erwachen sie immer noch nicht.

Quelle wie zuvor

Es ist der prophetische Ton, der misstrauisch macht. Meine Oma sagte zuweilen in den ausgelassensten Momenten: Ja ja, Kinder, euch wird das Lachen noch vergehen. Ich fand das damals irgendwie unpassend. Und heute zuweilen anmaßend.

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ZITAT

Wenn Ruch schreibt, es gelte, die gegenwärtige „Trockenphase der Weltgeschichte […] mit Schönheit zu tränken“, wird aber auch klar, dass seine Gedanken mehr um seinen Nachruhm als um das Schicksal von Flüchtlingen kreisen. Die „wirklich wichtigen Fragen“ lauten für ihn, so ehrlich ist er immerhin: „Wofür will ich einmal stehen? Welches ist die größte Tat, mit der mein Name einst verbunden werden soll?“ Dieses Verlangen nach eigener historischer Bedeutung ist aber nur die Kehrseite der Kränkung, die Ruch allseits empfindet. In seinem Antimodernismus kommt jene „Größensucht“, ja ein unersättlicher Geltungsdrang zum Ausdruck.

Das wird noch deutlicher, wenn man sein Manifest mit anderen modernekritischen Texten vergleicht. Günther Anders etwa beklagt zwar ganz ähnlich die „Antiqiertheit des Menschen“, reagiert darauf aber nicht als Gekränkter, sondern mit der genauen Beschreibung dessen, was er „prometheische Scham“ nennt: Da die Menschen von immer leistungsfähigerer Technik umgeben seien und sich im Vergleich dazu minderwertig vorkämen, fühlten sie sich beschämt. Und so entwickelt Anders, statt sich Selbstmitleid und Dünkel hinzugeben, aus dem Schambegriff heraus eine Deutung verschiedener Phänomene des menschlichen Umgangs mit Maschinen, Medien und Massenprodukten. Das mag kontrovers sein, wirkt aber auch nach 60 Jahren ungleich lebendiger und aktueller als Ruchs Manifest.

Quelle DIE ZEIT 26. November 2015 Seite 53 Das Erdbeben der Schönheit Mit radikalen Aktionen ist Philipp Ruch zum bekanntesten deutschen Politikkünstler aufgestiegen. Jetzt legt er ein Manifest vor, das mit seinem Antimodernismus Sympathisanten verstören wird / Von Wolfgang Ullrich.

Was tun? – Vor allem dies zur neuen Lektüre bereitlegen:

Anders Antiquiertheit

Nachtrag 26.12.2016 Umgang mit Terror Interview mit dem früheren Bundesinnenminister Gerhart Baum im Deutschlandfunk, nachzulesen HIER.

In finsteren Zeiten

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Mit diesen Zeilen beginnt ein Gedicht, das Bertolt Brecht im Jahre 1939 „An die Nachgeborenen“ geschrieben hat:

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind!

Es lohnt sich, das Gedicht einmal wieder von Anfang bis Ende nachzulesen: „Der Neue Conrady“ Patmos Verlag, Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf und Zürich 2000 (Seite 704 ff). Siehe auch bei Wikipedia hier.

Im Spiegel-Gespräch sagt der Berliner Künstler Philipp Ruch, es gehöre zu den toxischen Ideen zu behaupten, die Welt sei so groß und unübersichtlich, dass der Einzelne sowieso nichts tun könne.

SPIEGEL: Aber die Menschen tun was, sie helfen.
Ruch: Eine Minderheit. In Deutschland leben 80 Millionen Menschen. Die allermeisten stehen dem Horror an den Grenzen gleichgültig gegenüber – wie auch die politischen Eliten. Die SPIEGEL-Bestsellerliste wird angeführt von einem Buch mit dem Titel „Das geheime Leben der Bäume“. Diese Form des politischen Eskapismus ist gerade in meiner Generation leider weit verbreitet.

Quelle Der SPIEGEL 48/2015 Seite 144 f „Wir kommen aus der Apokalypse“ Die Politik habe den Sinn für das Schöne verloren, sagt der Berliner Künstler Philipp Ruch und fordert einen aggressiven Humanismus. Aber was soll das sein?

Philipp Ruch zitiert etwas später Elie Wiesel, der gesagt habe: das Gegenteil von Liebe sei nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.

Und noch einmal sei hier Bertolt Brechts Gedicht angeführt, die letzten Zeilen:

Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

Baum 2 150213 x

Nachtrag 29.11.2015 (zur Aufhellung)

Wohlleben antwortete, sprach von „knallharter Wissenschaft“, zitierte Studien. Für die Nachrichtenverbreitung sorgten Pilze. Pilze agierten wie die Glasfaserleitungen des Internets. „Sie durchziehen den ganzen Waldboden und leiten teilweise auch elektrische Signale weiter. Sie verteilen gleichzeitig auch Zuckerlösungen. Ein Teelöffel Walderde enthält mehrere Kilometer dieser hauchdünnen Fäden.“ „Wood Wide Web“ heißt diese Vernetzungsstruktur, ein Begriff aus der Wissenschaft, nicht von Wohlleben. Bäume, sagt er, könnten sogar zählen. Im März gebe es ja schon einige sehr warme Tage, aber die Bäume würden mit dem Austreiben trotzdem warten. Weshalb? Möglicher Spätfrost. „Die Technische Universität München hat festgestellt, dass die Bäume die Anzahl der Tage über zwanzig Grad zählen. Erst wenn eine bestimmte Anzahl überschritten ist, treiben sie aus.“

Quelle Frankfurter Allgemeine online 29. November 2015 Bäume sind so tolle Lebewesen
Peter Wohlleben ist Deutschlands berühmtester Förster, sein Buch über „Das geheime Leben der Bäume“ steht seit Monaten auf der Bestsellerliste. Der Hype findet kein Ende. Wohlleben sei ein Baumflüsterer, heißt es. Aber stimmt das? / Von MELANIE MÜHL