Lektüre „zwischen den Jahren“
Zum Haus Bartleby in Wikipedia: hier. Über den Passagen-Verlag: hier. http://www.passagen.at
Anselm Lenz, Alix Faßmann, Hendrik Sodenkamp, Haus Bartleby (Hg.): Das Kapitalismustribunal / Zur Revolution der ökonomischen Rechte (Das rote Buch) Herausgegeben von Peter Engelmann / Passagen Verlag 2016 Wien / ISBN 978-3-7092-0220-3 /
ZITAT (Seite 14f)
Der in diesem Bande abgelegte wissenschaftliche Grundgedanke legt einen fundamentalen Blickwechsel auf die Entstehung menschlicher Ökonomie dar. Dieser lässt sich auf zwei Formeln bringen.
Erstens: Nicht die Ökonomie entsteht aus dem menschlichen Handeln und kann durch Gesetze eingedämmt werden, wie etwa die Spielregeln für einen sportlichen Wettkampf, die diesen möglichst „hart, aber fair“ ablaufen lassen: vielmehr entfaltet sich die Ökonomie erst auf Regeln, die immer grundlegend wirksam sind und im weiteren Verlauf menschlichen Wirtschaftens fortwirken. Das Kapitalismustribunal rückt die Emergenz aller Ökonomie aus den Gesetzen erstmals systematisch in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen und juristischen Erforschung, um daraus rechtswirksame Grundsätze abzuleiten.
Zweitens: Derzeit gültige Rechtstexte, in ihrer vornehmsten Form also die Erklärung der Menschenrechte von 1948, aber auch Verfassungstexte, formulieren bürgerliche Positivrechte dessen, was in einer Ökonomie jeder Bürgerin und jedem Bürger zukommen soll. Die Adresse der Gewährleistung ist dabei immer der Staat oder eine staatsähnliche Autorität. Die in allen diesen Texten kodifizierten Gesetze sind Individualrechte, die unsystematisch nebeneinander stehen. Sie kommen einem Forderungskatalog gleich, der „auf der Gnade“ der jeweiligen Autorität fußt. Ihre Umsetzung scheitert auch an eben dieser Mangelhaftigkeit ihrer Ausgangsbasis.
Die erstmalige und systematische Formulierung ökonomischer Grundrechte für jeden Menschen stellt, so lautet die begründete Überzeugung der Herausgeber dieses Buches, eine juristische Revolution dar, die aus zynischen, übereilten, unwissenschaftlichen oder ahistorischen Perspektiven nur unterschätzt werden kann.
Es geht also um nicht weniger als einen grundlegenden „Wechsel der Perspektive für die Grundlegung des Rechts.“
Keine Zeit könnte günstiger sein für einen solchen Neubeginn als die „zwischen den Jahren“.
Oder auch gleich danach…
Die Beiträge sind allerdings von sehr unterschiedlicher Relevanz (subjektiv gesehen) und auch von wechselnder Klarheit. Ich werde (nach subjektivem Ermessen) eine Liste erstellen, in welcher Reihenfolge sie sich mir als weitertragend und anregend erwiesen. Man gerät des öfteren in Versuchung, die Lektüre einzustellen, wenn Kenntnisse vorausgesetzt werden, die nicht vorhanden sind, Namen und Begriffe auftauchen, die einem nicht geläufig sind und auch nicht erläutert werden.
Zum Beispiel habe ich noch nie von „überpositivem Recht“ gehört und atme also auf, wenn ich die Frage lese: Können Sie definieren, was überpositives Recht und Naturrecht sind? (Seite 40). Die Antwort folgt auf dem Fuße:
Das Naturrecht ist die rechtsphilosophische Meinung, dass sich etwas Rechtliches aus der Natur der Menschen ergibt und auch aus den Ansprüchen der Völker – also ein Natur- und Völkerrecht. (…)
Und das positive Recht ist entweder staatlich gesetztes Recht, oder aber, darüber streitet man sich, es spiegelt die allgemeinen Rechtssätze des Völkerrechts.
Von einem „überpositiven Recht“, das ich nun als drittes noch erwartete, ist im weiteren mit keinem Wort die Rede. Erst durch separate Recherche erfahre ich, dass es sich nicht um ein drittes Recht handelt, sondern in der Frage schon enthalten war: es ist identisch mit dem Naturrecht. Ich hätte Wikipedia nicht bemühen müssen, wenn die Frage gelautet hätte: Können Sie definieren, was überpositives Recht bzw. Naturrecht ist?
Aber jetzt, nachdem ich mich kundig gemacht habe, fühle ich mich mehr als überdumm, – was nicht Ziel eines aufklärerischen Textes gewesen sein dürfte.
Wenig später wird mit der Radbruchschen Formel operiert, ohne dass sie näher erläutert wird, – ich vermute, sie soll sich aus dem Folgenden erschließen; weiß auch, dass ich ab Seite 25 einen Originaltext von Gustav Radbruch gelesen habe, dennoch muss ich wieder unterbrechen und ins Internet gehen, um zu lernen:
Als Radbruchsche Formel wird die These Gustav Radbruchs bezeichnet, wonach sich der Richter im Konflikt zwischen positivem (gesetztem) Recht und Gerechtigkeit unter bestimmten Umständen gegen das Gesetz für die Gerechtigkeit entscheiden müsse.
An manchen Stellen ist es mühselig, einen leicht zu verstehenden Text leicht zu verstehen. Ich glaube, – ohne überheblich zu sein -, ich würde in der Musik anders verfahren und z.B. nicht voraussetzen, dass jeder weiß, was Mozart-Quinten sind. Obwohl Mozart berühmter und sogar bedeutender ist als Radbruch.
Man könnte einwenden: Schon der allererste Artikel nach dem Vorwort des Buches war doch überschrieben mit: „Überpositives Recht“ (Seite 17). Aber 1. habe ich darin keine Erläuterung gefunden, und 2. stillschweigend gehofft, dass die Klärung im weiteren Verlauf von selbst eintritt. In der Tat: aber nur durch eigene Recherche außerhalb.
Man verstehe mich recht: meine Zeilen sollen nicht vor diesem Buch zurückschrecken lassen, sondern dazu verleiten, es sehr ernst zu nehmen. Es handelt sich sozusagen um locker zusammengefügte Kongressbeiträge, die sich ursprünglich an ein bereits eingeweihtes Publikum wendeten, jetzt aber einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden, da sie im Prinzip uns alle angehen. Wobei sie sich im einzelnen als mehr oder auch weniger kompatibel erweisen.
Nach meinem heutigen Lesestand (30.12.16) würde ich empfehlen, mit den hier genannten, vollständig aus sich selbst verständlichen Texten zu beginnen:
David Graeber: Gesetze entstehen aus gesetzwidrigen Aktivitäten (Seite 85ff).
Lili Fuhr: Carbon Metrics – Wider die Vermessenheit des Messens der Klimapolitik
(Seite 73ff). Sehr klar und weiterführend (s.a. die beiden Links unten).
„Religionen sind die falsche Adresse“ Gespräch mit Viktor Kucharski (Seite 77ff).
Womit sich ein wunderbarer Anschluss an die bedeutende alte Arbeit von Max Weber ergibt:
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Repetieren: Max Weber HIER ! (=Wikipedia-Artikel zu „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, unter den Weblinks kommt man auch zum gesamten Originaltext. – Oder auch im Zusammenhang des Gesammelten Werke auf der CD-Rom „Weber im Kontext“, wie folgt:
Siehe auch hier.
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Einige Stichworte (nachgeliefert zum Buch Das Kapitalismustribunal):
Neoliberalismus HIER
Positives Recht HIER
Ein weiterer Text aus einem Artikel, mit dem ich aus heutiger (Neujahrstag 2017) Sicht vielleicht die Lektüre des „Kapitalismustribunals“ beginnen würde. Als Autor wird angegeben „Das unsichtbare Komitee„, Titel: Zonenweise rentabel fragmentiert (Seite 101-103).
Liest man die Prognosen von „Experten“, findet sich darin, grob gesagt, folgende Geografie: die großen metropolitanen Regionen, die miteinander konkurrieren, um Kapital und Smart People anzulocken; zweitrangige metropolitane Zentren, die sich durch Spezialisierung halten; arme ländliche Gebiete, die sich kümmerlich durchschlagen, indem sie sich in Orte verwandeln, die die „Aufmerksamkeit der Städter auf sich ziehen könnten, die sich nach Natur und Ruhe sehnen“; Landwirtschaftszonen, bevorzugt bio, oder „Biodiversitätsreservate“; und zuletzt die schlichtweg abstiegsbedrohten Zonen, die früher oder später von Checkpoints umzingelt und aus der Ferne via Drohnen, Hubschraubern, Blitzaktionen und massiver Telefonüberwachung kontrolliert werden.
Das Kapital stellt sich, wie man sieht, nicht mehr die Frage „der Gesellschaft“, sondern die der „Regierbarkeit“, wie es höflich sagt. Die Revolutionäre der 1960/70er Jahre haben ihm ins Gesicht geschleudert, dass sie es satthaben, seither selektioniert es seine Erwählten.
Es denkt sich nicht mehr national, sondern gebietsweise. Es breitet sich nicht mehr gleichförmig aus, sondern konzentriert sich örtlich, indem jedes Gebiet als Kulturlandschaft organisiert wird. Es versucht nicht, die Welt unter dem Kommando des Fortschritts im Gleichschritt marschieren zu lassen, sondern lässt im Gegenteil zu, dass sich die Welt entkoppelt in Zonen hoher Mehrwertschöpfung und in vernachlässigte Zonen, in Kriegsschauplätze und befriedete Räume. Es gibt den Nordosten Italiens und Kampanien. Letzteres ist gerade gut genug, die Abfälle des Ersteren aufzunehmen. Es gibt Sophia-Antipolis und Villiers-le-Bel [s.a. hier JR]. Es gibt die City und Notting Hill, Tel Aviv und den Gazastreifen. Smart Cities und vergammelte Vororte. Dasselbe für die Bevölkerung. Die „Bevölkerung“ als Gattungsbegriff gibt es nicht mehr. Es gibt die junge „kreative Klasse“, die ihr soziales, kulturelles und Beziehungskapital im Zentrum der intelligenten Metropolen gewinnbringend anlegt, und all jene, die so eindeutig „nicht vermittelbar“ sind. Es gibt Leben, die zählen, und andere, die zu zählen man sich nicht einmal die Mühe macht. Es gibt Bevölkerungen im Plural, die einen Riesenbevölkerungen, die anderen Bevölkerungen mit hoher Kaufkraft.
Zitat Seite 102
Jetzt erst entdecke ich im Autorenverzeichnis die Information über „Das unsichtbare Komitee“ (Zitat Seite 153):
… nach der Sabotage an einer Eisenbahnstrecke, auf der im November 2008 ein Castortransport mit radioaktivem Material geplant war, wurde die erste Publikation des Unsichtbaren Komitees, Der kommende Aufstand, von der französischen Regierung als ein „Handbuch des Terrorismus“ beschlagnahmt und war Vorwand für die skandalöse, z.T. monatelange Inhaftierung von neun Menschen aus dem Dorf Tarnac. Die Polizei in Frankreich hat im Zuge der „Terrorismusbekämpfung“ viele Spekulationen angestellt, wer dazugehören mag, aber die Identität der Autoren wurde nie bekannt. 2010 erschien „Der kommende Aufstand“, Edition Nautilus, Hamburg. / Das Kapitalismustribunal ist notwendig, weil „sich das Kapital nicht mehr die Frage der Gesellschaft, sondern der Regierbarkeit stellt“. / Auszug aus: „An unsere Freunde“, Edition Nautilus, Hamburg 2015. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
Um es nicht zu verschweigen: gerade am Ende des Buches gibt es für meine Begriffe allerhand Unausgegorenes, aber eher in Stil und Gedankenführung. Die Seiten zur Prozessordnung etwa. Pars pro toto: die gezierte Verbform „gölte“ im Nachwort des Herausgebers (Seite 135).
Selbst die briefliche Stellungnahme von Alain Badiou wirkt seltsam unkonzentriert, zumindest improvisiert.
Unerträglich im Aufsatz von Louis Klein (Seite 110) ein Zitat von Joseph Stalin, als sei er im Ernst eine zitierbare Instanz. Ob der betreffende Satz inhaltlich korrekt ist oder nicht, er ist ungenießbar und verfärbt das ganze Umfeld. Sinnigerweise stutzt man ohnehin dank eines Rechtschreibfehlers.
Noch eine Web-Adresse für nachhaltige Information zum Thema: capitalismtribunal.org bzw. HIER.