Wie sich „das Ganze“ vom Geist ins Geld begab
ZITAT Rüdiger Safranski:
Man muß sich den epochalen Politisierungsschub um 1800 als eine Vorform des heutigen Globalismus vergegenwärtigen. Damals wurde das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen neu konfiguriert. Die Sinnfragen, für die einst die Religion zuständig war, werden jetzt an die Politik gerichtet: ein Säkularisierungsschub, der die sogenannten ‚letzten Fragen‘ in gesellschaftlich-politische verwandelt: Robespierre inszeniert einen Gottesdienst der politischen Vernunft, und im Preußen der Befreiungskriege von 1813 zirkulieren zum erstenmal die Gebetsbücher des Patriotismus, der sich anschickt, zum Nationalismus zu werden.
Die Politisierung war die erste dramatische Einengung in der Wahrnehmung des Ganzen. Mitte des 19. Jahrhunderts vollzieht sich die zweite: die Ökonomisierung. Den Anspruch auf Schicksals- und Deutungsmacht erhebt jetzt der Ökonomismus, für den das Gelten von Werten zum Geld und die Wahrheit der Welt zur Ware wird. Tatsächlich verbinden ja das Geld und der Warentausch alles mit allem und dringen in die verborgensten Winkel der Gesellschaft und der Individuen ein. Wenn das Geld für so verschiedene Dinge wie Bibel, Schnaps und Sexualverkehr einen gemeinsamen Wertausdruck schafft, dann kann man darin eine Verbindung zum Gottesbegriff des Nikolaus von Kues entdecken, für den Gott die coincidentia oppositorum, den Einheitspunkt aller Gegensätze bedeutet. Indem das Geld zum Äquivalent aller Werte wird, erhebt es sich, wie einst Gott, über die Mannigfaltigkeit der erscheinenden Welt. Es wird zu einem Zentrum, wo das Unterschiedene und Entgegengesetzte ihr Gemeinsames finden. Die Zirkulationsmacht des Geldes hat den Geist überflügelt, dem man einst nachsagte, er wehe, wo er will…
Quelle Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Frankfurt am Main 2004 (S. 66f)
[Nachzutragen: die private Globalisierung meiner Musikwelt]
Aus einer Besprechung von Hans Martin Lohmann am 22.7.2002 im Deutschlandfunk:
Man zerschlage eine lokale Selbstversorgungsökonomie im Namen des „freien Marktes“, degradiere den Staat zum Empfänger von Weltbankkrediten (die natürlich an strenge Auflagen im Sinne eines globalen Marktliberalismus gebunden sind), zwinge den Staat zu einem permanenten Schuldendienst, der nur mit immer neuen Krediten, also neuer Verschuldung, aufrecht erhalten werden kann, zwinge ihn weiterhin zur Deregulierung staatlicher Daseinsvorsorge und zu deren Privatisierung – und nenne das Ganze „Marktreform“, Demokratisierung und good governance. Chossudovsky spricht angemessenerweise von „Marktkolonialismus“ und „ökonomischem Völkermord“, der nebenbei von enormen Umweltzerstörungen begleitet und im Bedarfsfall – die Ereignisse des 11. September 2001 lieferten den geeigneten Anlass – um den Modus des Krieges ergänzt wird.
Inzwischen gibt es ein neues Referenzdatum, wie man weiß, oder mehrere, seit 2008. Aber schon in diesem Buch von 2002 (engl. Version 1997 !) gab es in Teil VI („Die Neue Weltordnung“) das Kapitel „Die globale Finanzkrise“. Und heute verkleidet sich das Problem als „Handelsabkommen“ oder TTIP. ZITAT:
In der Tat: Regionalität ist für den Welthandel kein Ziel, man will ja gerade mehr Austausch zwischen den Kontinenten. Davon hat der kleine Milchbauer aus dem Schwarzwald nichts – seine Produktion in die Vereinigten Staaten zu liefern rentiert sich nicht. Umgekehrt lohnt es sich hingegen für amerikanische Großfarmen durchaus, Rind- und Schweinefleisch nach Europa zu schicken, weil sie eben billig genug produzieren können, billiger als jeder Kleinbauer irgendwo in Europa.
Die neue Form des Freihandels wird also zwangsläufig auch unsere Ernährung verändern. Das Höfesterben wird weitergehen, weil die Kleinen dann noch weniger konkurrenzfähig sind. Alle Welt redet zwar davon, wie wichtig regional erzeugte Lebensmittel sind, weil sie Mensch, Tier und Umwelt gleichermaßen nützen – aber mit dem Freihandelsabkommen wird genau diese regionale Produktion bekämpft. Denn an ihr haben jene Konzerne von Nestlé und Danone über Bayer und Pfizer, die besonders eifrig Lobbyarbeit zu TTIP betrieben haben, einfach kein Interesse. Im Gegenteil: Vielfalt an Lebensmitteln und Geschmäckern ist ja geradezu Gift für sie. Sie leben davon, Massenware in großem Stil herzustellen, die sich überall verkaufen lässt.
Quelle Süddeutsche Zeitung 1./2. August 2015: Das große Misstrauen Handelsabkommen schaffen es selten in den öffentlichen Diskurs. Dafür sind sie zu kompliziert. Das ist beim TTIP anders. Der Plan, mit Europa und Nordamerika den größten Freihandelsraum zu schaffen, versetzt viele Menschen in Alarmstimmung. Warum? Vielleicht weil dem freien Markt zu viel geopfert wird. Von Franz Kotteder.
Das ist natürlich dramatischer als das Schwinden der Vielfalt in der Musik, in den Medien, in den Kulturprogrammen. Fatal genug, dass kein Unglück allein kommt. Aber selten so klar angekündigt und offenbar von so vielen gewollt oder hingenommen. Ich erinnere mich an die Zeit vor 10 Jahren, was hat sich an der Besorgnis geändert? War ich vielleicht noch zu naiv? Siehe hier: Was wird von der Vielfalt bleiben? Ein Vortrag über Globalisierung und musikalisches Bewusstsein.