Archiv für den Monat: August 2022

Der Fehler

Zum Vergleich (eine auto-didaktische Maßnahme)

Den Fehler hatte ich im vorigen Artikel begangen.

Bitte rufen Sie beide Links auf, den ersten im folgenden Bild bei „Ansehen auf YouTube“, den anderen darunter, so wie angegeben. Beide gleich abrufbereit…

The 5 fugues arranged for string quartet are: – No. 1 in C minor after Bwv 871 (0:00) – No. 5 in D major after Bwv 874 (1:48) – No. 2 in E flat major after Bwv 876 (3:30) – No. 4 in D minor after Bwv 877 (4:54) – No. 3 in E major after Bwv 878 (6:52)

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Die Mozart-CD des Klenke Quartetts, bitte unten bei HIER, also bei jpc, aufrufen und runterscrollen bis dorthin, wo man die Einzeltitel anspielen kann (im Bild ganz unten sichtbar ab „Tracklisting“ ). Vergleichen Sie Fuge für Fuge, also genau gemäß der entsprechenden Nummerierung.

  HIER

Und? Wissen Sie nun, worin der Fehler bestand? Ich entschuldige mich, sowohl bei Leser:innen wie bei den Künstlerinnen. Ehrlich. Es war keine raffinierte Absicht, so zu verfahren. Aber jetzt, da es nun einmal so passiert ist…

Prüfungsaufgabe: Beschreiben Sie den Unterschied der Interpretationen.

Mein Montagmorgen

…mit Mozart und ???

Ja, ich brauche noch andere Konsonanten, z.B. Klenke-Quartett. Mit Klarinette. Ich habe gestern ganz spät die CD gesucht,und am Klavier, anlässlich der Bach-Fuge in E-dur, habe ich mich plötzlich erinnert. Aber jetzt höre ich erstmal Mozart und bin wieder begeistert. Warum hatte ich vergessen, die Begegnung damals zu vertiefen, hier (am Anfang), warum nur? Ich wusste jetzt nicht einmal, dass das hervorragende Quartett ausschließlich aus Frauen besteht. Das umfangreiche Textbuch in drei Sprachen habe ich vielleicht nur oberflächlich gelesen, aber jetzt fällt mit sofort in der ersten Zeile die Wiederkehr des Wortes „Frau“ auf, – das kommt von der Gender-Diskussion -, dann die Reihe der Einzelfotos, beginnend mit der Klarinettistin, die ich aus Konzerten des WDR-Sinfonie-Orchesters kannte. Sie saß oft schon da, wenn noch Mikrofonprobe war für den Einführungsmoderator, der manchmal ich war. Ganz rechts neben den 5 Damen das Foto von Stephan Katte, der mir ein Begriff ist seit dem wunderbaren Brahms-Horntrio mit den Abeggs, für die ich so manchen Text geschrieben habe. Ach, immer ich, ich, ich. Ja, so läuft nun mal das Erinnern, – es wird schon früh genug weitergehen zu Mozart und Bach, die im Zentrum „meiner“ Welt stehen. – Wie intelligent diese Musiker:innen reden, wie schön sie spielen! Martin Hoffmeister ist offenbar Redakteur im MDR. Die Aufnahme aber stammt vom SWR. Gut, und Nicola Jürgensen war damals noch beim WDR. Gerechtigkeit.

Was allerdings heute Morgen zündete, waren die guten Bemerkungen über das Mozart-Quintett: das musste ich hören! erst nachher die Fugen!! Tr. 2 Das Zwiegespräch!!!

 

   

Und nun alles von vorn. Schöner kann die Woche nicht beginnen.

Ein Sprung im Tagesablauf

Am Abend entsteht die Frage: wie genau kann ich mir den „stile antico“ vorstellen?  Den Klang, – das Tempo – das Auf und Ab – einer wie auch immer idealisierten geistlichen Musik, die von Palestrina überliefert ist. Wie hat Bach sie aufgefasst, der sie ja in Ehren hielt? Wie hat Mozart Bach aufgefasst, wenn dieser sich – historisierend – an den Stil Palestrinas anlehnte? Klartext: in welchem Tempo soll ich die E-dur-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier Teil II spielen. Mit welchem Ausdruck?

So – vielleicht auch wieder nicht… wie betörend „antico“ es auch immer klingt. Für Bach nicht gewichtig genug. Aber könnte das folgende eine Alternative sein?

Mozarts Bach hier (entspricht tr. 5-9 auf der CD) oder direkt die Fuge E-dur: (6:52) (bitte nach Klick 1 Moment Geduld)

Es ist nicht meine Absicht, das wunderbare Quartett zu kritisieren, sondern allenfalls: dass es Mozart wie Mozart spielt, und zwar so, wie man es auf Streichinstrumenten tut, vielleicht mit auffällig wenig Vibrato, um der archaisierenden Strenge des Satzes durch gambenähnlichen Klang zu entsprechen. Ich empfinde es anders, aber nicht weil ich an Cembalo- oder Orgelklang denke, – ich denke an den Vortrag am Klavier -, sondern weil die Fuge zu Bachs Musterstücken im „stile antico“ gehört. Aber es ist nicht ein kryptischer Gehorsam, der mich antreibt, sondern die Vermutung, dass hier jede Mozartsche „Leichtigkeit“ fehl am Platze ist. Es geht um „Majestas“ und  „Gravitas“. Auf Mozart selbst angewandt: Stellen Sie sich vor, der Gesang der Geharnischten in der „Zauberflöte“ würde auch nur ein Gran zu schnell interpretiert, die Größe des Augenblicks wäre dahin. „Der, welcher wandert diese Straße voll Beschwerden“. Ich finde, schon William Christie nimmt es ein Minimum zu flott (selbst wenn man andernfalls  beschleunigen müsste, sobald Tamino reagiert): HIER.

Es geht um die Gemessenheit – die Strenge – der Achtelbewegung, schon im dritten (und fünften) Takt der Fuge in E-dur, gerade dieser Achtel-Quartsprung soll nicht leichtfüßig, sondern würdevoll wirken.

Nach wie vor sehr lesenswert ist das Buch „Bach Interpretation“ von Paul Badura-Skoda (Laaber Verlag 1990 z.Zt. vergriffen). Er geht an dieser Stelle aus von der Orgelfuge BWV 564, die natürlich nichts mit „stile antico“ zu tun hat, aber in allen Beispielen geht es um Artikulation und Charakter:

Auf der nächsten Seite nun bringt er zum Vergleich den Anfang des Credo aus der H-moll-Messe und fügt die E-dur-Fuge betreffend hinzu:

Deshalb wäre es grundfalsch, dieses Thema zart und zögernd zu spielen, wie dies leider öfter geschieht.

Ein guter Rat. Man sollte vermeiden, bei einer Bachschen Fuge von vornherein ein „esoterisches Register“ zu ziehen und erst mit wachsender Stimmenzahl Klangfülle zu entwickeln. Man bedenke auch, dass auf Tasteninstrumenten, für die Bach ja schreibt, jeder Ton gewissermaßen mit Glottisschlag beginnt, – mit K, nicht mit H oder M, wenn ich an den Anfang dieses Artikels anknüpfen darf. Daran darf man Streicher ruhig erinnern, da sie seit alters wie die Sänger das Messa di Voce üben und Töne lieben, die aus dem Nichts kommen. Eine andere Sache ist es, dass der Name Mozart im Zusammenhang mit Bachfugen nahelegt, ihnen das „Altmeisterliche“ zu nehmen und die Leichtigkeit der klassischen Bogentechnik zu nutzen. In der Tat, gibt es geschwindere Bach-Fugen, denen dies zugutekommt. Es ist geradezu ein Charakteristikum: ich habe das schon früher einmal ausgeführt (mit Forkel-Zitat über den Tanzcharakter mancher Fugen) hier.

Anders jedoch steht es beim „stile antico“, der nun mal nichts Tänzerisches vermittelt, sondern Linien, die allenfalls – wo erforderlich – mit Nachdruck differenziert und dynamisch herausgehoben  werden dürfen. Die Anbahnung eines Höhepunktes im Gleichmaß der E-dur-Fuge:

Hören! Youtube Andras Schiff hier (ab 4:36 bzw. 6:39)

Man erlebt, wie Bach ab Takt 29 (6:39) aus dem strengen Stil ausbricht, indem er Terzenparallelen in beiden Händen produziert, auffällig in Gegenbewegung, in der linken Hand in T. 31 und 32 im Aufwärtsmodus präsent hält und dann einen unglaublichen Abschluss in Gis-moll vorbereitet in Takt 33, in Parallel- und Gegenbewegung, beginnend mit dem kakophonen Dominantseptnonakkord auf Dis (siehe Kölbl hier), ein Höchstmaß an Expressivität, da wäre jede Beiläufigkeit fehl am Platze. Und daraus ergibt sich eine Tempovorstellung, die solche Gewichtigkeit auch erlaubt. Ein triumphales Pathos, das auch in den oktavenweit ausgespannten Abstiegslinien der letzten fünf Takte offenliegt (grün markiert). Man sieht es schon zu Anfang der Durchführung VI (Takt 35), wenn der Aufstieg des Kontrapunktes aus Takt 3 (s.o. kleines Notenbeispiel) im Sopran wiederkehrt, jetzt aber ausgebreitet wird über eine ganze Oktave.

Angesichts dieser Indizien ist es merkwürdig, dass der große Bach-Exeget Alfred Dürr das Offensichtliche ignoriert und feststelltt, „dass eine Schlußsteigerung, wie wir sie von manchen Fugen her gewohnt sind und wie sie Johann Gottfried Walthers Zitat »Finis coronat opus« nahelegt hier kaum anzutreffen ist“. (Seite 317)  Dabei gilt das sogar noch für den letzten Takt mit der fast provokativ konventionellen Kadenz … ein Signum, wenn auch das Gegenteil einer Krönung.

Man könnte auch streiten über die Fuge D-dur (BWV 874), angefangen mit Busonis Frage: „welcher Sinn wohl darin liegen möge, eine melodische Formel so durch verschiedene Stimmen und Tonarten zu jagen.“ (Dürr S. 282)

Vermutlich liegt sein Missverständnis schon in den Worten „Formel“ und „jagen“: es handelt sich ja, wie Dürr anfangs ganz richtig sagt: um eine „gelehrte“ Fuge. Was wohl auch bedeutet, dass sie eher „freundlich dozierend“ daherkommt, nicht fesch und tänzelnd. Schon die drei ersten wiederholten Töne sind mit Bedeutung geladen, als seien Worte zitiert, eine These, deren Ergänzung in der zweiten Themenhälfte erfolgt. Ein Statement, etwa so wie im Unisono am Ende des Turba-Chores in der Matthäus-Passion: „er hat gesagt: ich bin Gottes Sohn“.  Man könnte sogar genau diesen Text unterlegen:

Und – gibt es vielleicht eine subkutane Verbindung zur nachfolgenden Fuge in dis-moll? Im Charakter komplementär: mit den drei pochenden Tönen zu einer ganz anderen Aussage kommend, in der zwei aufsteigende Quarten eine Rolle spielen, die entfernt an die zweite Hälfte des D-dur-Themas gemahnen. Auf der Klenke-CD in umgekehrter Reihenfolge: Tr. 4 (dis) und Tr. 5 (D), auf Youtube mit Klenke/Mozart – wie oben – HIER – oder direkt bei 4:54 (übrigens in d statt in dis), während die Fuge in D hier bei 1:48 anzuspielen sein müsste.

Youtube Schiff (dis) hier (ab 3:41) / und (D) hier (ab 5:18)

Auch eine frühe Orgelfuge (um 1708)  hätte mitreden können, BWV 574 (Thema von Legrenzi):

Was ich sagen will: die Charaktere der Stücke sind gewiss unterschiedlich, aber die Streicher kommen aus anderen Gründen zu einer ganz anderen Tempowahl als der Pianist. Gewiss auch aufgrund der Tatsache, dass Mozart die Hand im Spiel hatte. Man darf aber wohl behaupten: die unterschiedlichen Konsequenzen sind nicht gleich berechtigt. (Ausgeschlossen etwa, zu entgegnen: „Alles ist relativ“ – es geht doch nur um die Bewahrung der Struktur…)

Zur Klarstellung der Reihenfolge der Klenke-Mozart-Bach-Fugen

Auf der CD

Auf Youtube

Beim Abspielen der Sammlung sollte man wissen, dass die Reihenfolge auf Youtube nicht die vom Klenke-Quartett für die CD  gewählte wiedergibt. Diese aber ist hinsichtlich der Tonartenfolge viel sinnvoller.

Mein Donnerstagmorgen

Ich lese die ZEIT. Und höre die Klenke-CD, wie jeden Morgen. Im Wechsel übrigens mit einer anderen, die ich erst später nennen möchte.

Der erste Gedanke war: es ist vielleicht falsch (aber auch tolerabel), die 5 Fugen separat zu behandeln, eine nach der andern, und dabei immer an den täglichen Umgang mit dem Wohltemperierten Klavier zu denken. An den „anderen“ Zusammenhang. Hier aber ist es Mozart, und die Fugen bilden auf der CD einen neuen Zusammenhang, die eine wirkt wie ein Vor- (oder Nach-)spiel der anderen. Zu schnell finde ich eigentlich nur die erste und die letzte (C-moll und D-dur). Ja: auch die in E-dur, jedenfalls nicht bedeutsam genug. Das gilt auch für die zarte Pflanze in d-moll (Original Bach dis-moll).

Lieb gewonnen habe ich das Horn-Quintett, das ich bisher kaum kannte. So spielt das Leben. Und noch etwas: die Es-dur-Fuge wurde mir früh zu einem Begriff durch meinen älteren Bruder: er steckte mir, dass seine Musik, der Jazz,  problemlos eine Bach-Fuge integrieren konnte, – er meinte das Rediske-Quintett, das zumindest eine oder zwei Durchführungen der Es-dur-Fuge spielte und sie wie ein Praeludium behandelte: nach einem Break setzte unvermittel der „eigentliche“ Jazztitel ein. Das Fugato stand für Intellektualität. Vielleicht ist diese für meine damaligen Ohren attraktive Fassung dafür verantwortlich, dass ich am „Klenke-Tempo“ nichts auszusetzen habe. Um so klarer, dass die D-dur-Fuge nicht dasselbe Tempo haben darf, es sei denn – als Rausschmeißer. Als handle es sich um das berühmte Motiv Beethovens.

Inzwischen habe ich die Leittartikel gelesen, Giovanni di Lorenzo über den ÖRR (den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk), daneben Rieke Havertz über Joe Bidens „spektakulären Sieg im Kampf um das Klima“. Vorgemerkt auch eine Enthüllungsstory (?) auf Seite 3 über Maja Göpel, die mir höchst positiv in Erinnnerung war (siehe hier). Was sich durch diesen Artikel mit Hinweis auf den „Co-Autor“ nicht ändert.

Schlusswort am Freitagmorgen

In dieser Arbeit, die von einer bestimmten CD-Aufnahme der von Mozart adaptierten Fugen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier Bd. II ausging, ist mir ein grundlegender Fehler unterlaufen. Unfassbar, – und nur aus der Arbeitsweise zwischen Hören und Analysieren zu erklären. Aber auch nicht recht entschuldbar. Da bedarf es einer ausführlichen Fehler-Analyse, so dass wenigstens ein didaktisch wertvolles Beispiel daraus wird.

Ich weiß zwar, dass nach diesen erklärenden Worten beim Wiederlesen plötzlich jeder Satz unter Verdacht steht, – auch alles, was richtig und nützlich zu lesen wäre. Die Alternative wäre, alles ohne Rücksicht auf Verluste zu löschen. Und dafür ist mir diese Woche – von Montag bis Freitag – zu sehr ans Herz gewachsen.

Was übrig bleibt, ist meine herzliche Empfehlung der CD des Klenke-Quartetts. Inclusive der Bach-Fugen.

Theaterapplaus

Ist das „Buh“ eine ernstzunehmende Reaktion?

Es ist bestimmt originell, einen solchen Zeitungsartikel zu schreiben, – aber will man ihn auch lesen? Ich habe das authentische Buhen nur ein ein- oder zweimal miterlebt (ich bin nicht der typische Opernbesucher), vor Jahrzehnten in Köln: wie dieselben Herrschaften, die an der Garderobe ihre Schuhe wechselten, nachher einen armen Tropf von Tenor, der einige hohe Töne nicht mühelos geschafft hatte, mit diesem Urlaut schmähten. Er tat mir leid. Aber auch die Opernbesucher:innen. Es erinnerte mich an Berlin, an die Uraufführung von Schönbergs „Moses und Aron“, Hermann Scherchen hielt dem Publikum eine Standpauke, – und ich war sicher, die Buhs galten nicht der Oper an sich, sondern allein dem „Tanz ums Goldene Kalb“ und dabei nur der Tatsache, dass die Ausführenden nackt waren oder zu sein schienen, ein offen demonstrierter Sittenverfall. Ende der 50er Jahre, nein, 1960. Ich war begeistert. Doch das typische Opernpublikum ist eben anders (wir andern sind tumber, nein, viel zu etepetete), – unvorstellbar, dass ein Streichquartett ausgebuht wird. (Der Eclat mit dem Cembalisten Esfahani in Köln – das galt seinen Worten, dem Erklärenwollen Neuer Musik und einem Konglomerat von Missverständnissen.)

Was Brembeck über das Buh nach einer Bolero-Aufführung in Madrid schreibt, hat wohl mit dem Dilettantismus der typischen „Bolero-Freunde“ zu tun, die auch unruhig werden, wenn sie erleben, dass es vor und nach dem Adagio des „Concierto d’Aranjuez“ noch andere Sätze gibt. Vermutlich kommt das Buh – genau wie das Bravo – aus dem mediterranen Theaterleben, draußen ist schönes Wetter, kein Zufall, dass die im Artikel erwähnte Beifallspleite nach Kuijkens Zweitem Brandenburgischen beim Granada-Festival in der Alhambra passierte. Der arme Trompeter. Ich habe das vor Jahren woanders, aber bei demselben Stück erlebt (in Aachen) und beim Schluss-Chor des Weihnachts-Oratoriums – ich glaube in Bellinzona – , dass nämlich die lahmen Lippen dieses einen Musikers ein abschließendes Desaster verursachten, das man nie vergisst. Man wollte als Mitwirkender und Ohrenzeuge vor Scham im Bühnenboden versinken. Aber niemand im Saal hätte die Idee goutiert, den Unglücksraben mit Sitzkissen zu bewerfen. Ekelhaft.

Ein Triumph darf nicht misslingen. Wenn doch, sollte er auch nicht bewertet werden. So wenig wie ein Flugzeugabsturz.

Ich vermute, der Rezensent hat das Buh so allgemein zum Thema gemacht, um sich nicht von völlig inakzeptablen Geniestreichen distanzieren zu müssen. Er meint, der Protest sei in jedem Fall produktiv, jedenfalls immer geeignet, ein verschnarchtes Publikum aufzurütteln und die mutigen Regie-Täter durch Zurufe zu markieren. Ja, es ist richtig, das liegt nur

daran, dass deren in der Oper gängigen Abweichungen von den Regieanweisungen der alten Stücke sofort ins Auge stechen. Fast schon Randale gab es, als der Regisseur Jossi Wieler den Protagonisten in Wagners „Siegfried“ das neu geschmiedete Schwert Nothung in einem Klosett abkühlen ließ. Im derzeitigen Bayreuther „Ring“ hat Wotan keinen Speer, er wird genau so wie das Schwert Nothung durch eine Pistole ersetzt, und der Feuerzauber auf eine Kerze reduziert. Auch diese Verbannung lieb gewonnener Utensilien ist manchem ein buhwertes Sakrileg.

Wieso muss man eigentlich die Musik ernstnehmen und in der Substanz unangetastet zur Wirkung bringen, wenn alles andere destruiert wird? Warum darf man nur das musikalische Libido- und Feuer-Pathos nicht deutlicher ironisieren und z.B. mit Sirenengeheul anreichern? Spürt denn niemand sonst in der lammfrommen Herde des Publikums etwas von der satanischen Bedrohung, die vom Orchestergraben ausgeht? Seid ihr noch alle da!? – – – Zurück ins Kasperletheater!

Diebstahl oder kulturelle Aneignung?

So geht es mir oft (Stoffsammlung):

Ein Thema beschäftigt mich, oft aufgrund interessanter Lektüre, es übersteigt mich, ich halte das fest, was ich im Hinterkopf behalten will. Der (oder das) Blog ist mein Hinterkopf (-köpfchen), manchmal mehr ES, manchmal mehr ÜBERICH, und das ICH sagt: für alle Fälle aufbewahren, zur eventuellen Aufarbeitung. Es ist nicht von mir. Aber manches wusste ich längst. Anderes wollte ich immer schon gewusst haben. Ich schaue aus dem Fenster: die Sonne geht unter, sie zieht sich aus den Bäumen zurück. Morgen früh wird alles anders aussehen. Allerdings nur, wenn ich dies festgehalten habe.

Fensterplatz SG-Ohligs 5.8.22

Jens Balzer und Hansjörg Ewert

Was ist (dagegen) Zöglingsmusik?

Maximilian Hendler hier Musikästhetik und Grenzen im Kopf. Die politischen
Konsequenzen des Gefühlskults in der Musik

Kaser: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/RDFVYYETUCPFQLDPV64BCT5NFYJSQVWQ HIER

Eine Rezension: HIER

Bach, Vater und Sohn Beispiel: 2 mal Magnificat (s.a. Collegium aureum 1966)

https://www.zeit.de/2022/32/kulturelle-aneignung-kunst-musik HIER (Ewert)

https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2013/01/Text-Essay-Dieb-oder-Neuerer-neu HIER (Balzer)

Die ganze Oper „Euryanthe“ HIER (Warum? siehe Ewert.)

Mehrklänge hören, viel mehr Klänge!

Doch vorweg: Was sagt denn Wikipedia?

Siehe hier.

Ich sehe diesen Wiki-Artikel als eine Übung, um zu erkunden, was man überhaupt über „Akkorde“ weiß. Das weiter unten folgende (heftförmige) Büchlein stellt im Vorwort klar, dass nur die „Kenntnisse traditioneller europäischer Musik und aus ihr abgeleiteter Begriffe und Verfahrensweisen“ vorausgesetzt sind. Es wendet sich aber durchaus (oder gerade) an Studierende, die sich mit moderner Komposition beschäftigen, die „Neue Musik“ komponieren (oder auch nicht). Der Autor wagt es, Hindemiths „Unterweisung im Tonsatz“ ebenso zu berücksichtigen wie Messiaens Lehrbuch „Technik meiner musikalischen Sprache“. Er sagt Im Vorübergehen Erhellendes zum Konzeptualismus und zum Punktualismus, ohne zu fürchten, dass seine eigene Arbeit, die sich damit nicht weiter abgibt,  dadurch entwertet wird. Auch der Einwand, dass jedes zeitgenössische Werk einer eigenen Ästhetik, einem eigenen Gesetz folgt, gilt für ihn und seine Analyse nicht. Er behandelt keine Akkordverbindungen, keine Grammatik, sondern die einzelnen Gebilde. Nebenbei erfährt man, dass jenes Stück von Messiaen, das gewissermaßen den ganzen Boom des Serialismus auslöste („Mode de valeurs et d’intensités“), bei ihm selbst ohne entsprechende kompositorische Konsequenzen blieb. Der Komponist selbst meinte, man habe dieser „ganz kleine[n] Arbeit“  viel zu viel Bedeutung beigemessen… Das zu wissen hätte mir Anfang der 60er Jahre einige elementare Gewissensbisse erspart. Ich war ein Verfechter der Neuen Musik, sagen wir: bis Anton Webern. Aber es waren genau diese punktualistischen „Zufalls“-Ergebnisse, durch die ich meine Musikalität in Frage gestellt sah. Zweifellos war sie ja auch mit diesen Mitteln tatsächlich nicht weiter entwickelbar. Ich war – ohne es zu ahnen – anfällig für das Prestige anderer Musikkulturen. Im Tonsatzunterricht gab es heftige Diskussionen mit Traditionalisten wie Max Baumann und Ernst Pepping, die aus meiner Sicht (insgeheim) von Adornos „Kritik des Musikanten“ mitbetroffen waren.

Man lese, was ich damals im Konzertprogramm (mehr über das Boulez-Werk) unterstrichen und mit Ausrufezeichen versehen habe…

Berlin, Januar 1961

Hören? HIER

Solingen, August 2022

Nun also ein neues Werk zum Thema und zu vielen Themen: Claus Kühnl (eigene Website hier) Möglicherweise lege ich mir über kurz oder lang auch noch das von ihm empfohlene Harmonik-Buch von Nordhausen/ Gardonyi zu, und wenn jemanden das bloße Inhaltsverzeichnis schreckt – es gibt darin ja über 400 Notenbeispiele: wenn man nur etwas Klavier spielt, ist das eine unvergleichliche tönende Musikgeschichte: hier.

Doch zur Sache:

s.a. hier, erst kürzlich – dank NMZ bzw. Moritz Eggert – entdeckt …

Zusätzliche Musikbeispiele

Seite 6 – Schönberg Serenade op.24 hier Einzelsätze anklickbar Nr.4 „O könnt‘ ich je der Rach‘ an ihr genesen“

2 Sätze mit Partitur hier

alle Sätze: Mitropoulos-Aufnahme (1949) hier I. 0:00 II. 4:40 III. 11:37 IV. 15:37 V. 18:37 VI. 25:25 VII. 27:23

Seite 8 – Haydn (Nonenakkord) Klaviersonate (1771) XVI:20 Takt 25-26

Seite 9 „…ein früher spektakulärer Fall…“

Recordare:

Seite 10 Beethoven op. 22 (gemeint ist Takt 32 f)

Mir wird klar, dass ich diese „Disharmonien“ früher genossen, aber anders gedeutet habe, nämlich nicht als Klänge für sich, sondern immer als „Zufallsprodukte“, die aus Durchgangsnoten erklärbar, also gewissermaßen aus melodischen Gründen  exculpiert sind. Obwohl als „Reibungen“ eben: genossen. Dass der Orgelpunkt G nach Takt 30 einfach stehenbleibt, bedeutete, dass ich den Akkord der rechten Hand in Takt 32 einfach als Griff eis/gis/h/cis (Dominantseptakkord in Richtung fis-moll/ h-moll) auffassen darf, eine Zwischenstörung, die mit dem Wechsel von cis nach d einen Verminderten einführt, der sich in jede möglich Richtung auflösen kann. Und es wirkt plausibel, dass auf der 1 des nächsten Taktes der gleiche Akkord, – um einen Halbton höher gerückt -, als „gis/h/d/e“ erscheint, der sich nicht nur nach oben schein-auflöst (zum f), sondern auch unten (zum g) und sich damit überraschend zum Orgelpunkt-G bekennt: im nächsten Takt wird die Wendung plakativ im Dominantseptakkord der „vollgriffigen“ linken Hand.

Das heißt: ich habe immer syntaktisch gedeutet, nicht punktuell, den jeweiligen Akkord als Eigenheit, Eigenklang, Eigenwert betrachtend, obwohl ich dies insgeheim – wie gesagt – sehr wohl goustiert habe.

Natürlich könnte man sagen: nun bist du doch reingefallen auf das Punktuelle. Das lasse ich nicht gelten, – soll ich es ablehnen, nur weil ich einmal im Leben nicht damit klargekommen bin? Zu den größten Hör-Erlebnissen in meinem Leben gehört dafür ein Konzert in Darmstadt mit Ligetis „Atmosphère“, da fand ich Punktualität und linienhafte Dauer beispielhaft realisiert. Übrigens gefällt mir Kühnls Behandlung dieses Komponisten, der wegen seiner späteren Entwicklung oft geschmäht wurde (Horntrio), ebenso wie die des Geräuschpolyphonikers Lachenmann, den ich vergeblich „nachzuempfinden“ suchte, – um so einen Ausdruck der veralteten Ästhetik des ältesten Bach-Sohnes zu gebrauchen.

Die Begehrlichkeit wächst (Ausblick)

soeben eingetroffen…

Und was sehe ich dort, Johann Sebastian Bach betreffend??? Kontrapunkt… Choralsatz… und darüberhinaus Melodielehre

Rückblick auf Bielefeld

Was bleibt?

Das fragt man sich immer wieder, wenn man an Orte zurückkehrt, die man sehr gut kannte. Diese Stadt ist mit vielen Erinnerungen versehen, die mich bedrücken, obwohl sie vom Jungsein nicht zu trennen sind. Die Einschränkungen, die nicht nur von der Schule ausgingen, sondern vom ganzen System der Gesellschaft, einem „Räderwerk“ der falschen Emotionen. So erscheint es mir heute. Bei der Wiederkehr in späteren Jahren habe ich dort vieles als Erleichterung, als Lockerung, erfahren, und jetzt erst recht: die jugendliche Lebendigkeit einer Universitätsstadt, die man damals allenfalls spürte, wenn man das „wesensfremde“ (katholische) Münster besuchte, was man selten wagte. Es war wie ein Wunder, Jahrzehnte später, beruflich von Köln nach Bielefeld zu fahren, um dort indische Musik zu erleben: zu wissen, dass wir mit der WDR-Redaktion „Musikkulturen“ geholfen haben, diese Möglichkeit von Köln aus zu erschließen, angefangen mit den „Matinee“-Konzerten in der Ravensberger Spinnerei, und später: mit indischen Konzerten im Allerheiligsten der Ostwestfalen-Metropole, der Oetkerhalle. Ich wohnte vornehmer als früher, in unmittelbarer Nähe zum erinnerungsschweren Ort „Ratsgymnasium“. Hotel Mercure, später Golden Tulip. Das musste auch dieses Mal sein, ohne Indien, am 10. Juli 2022.

Der Weg hinaus, mit Blick auf die Neustädter Kirche und vorn die Bavink-Schule (für Mädchen), von deren Umbennung ich erst jetzt erfahre. Dort oben grüßt schon der alte, ockergelbe Sandstein-Bau des Ratsgymnasiums. Dahinter wird sich der Park auftun, auf den wir vom Klassenzimmer aus blickten, Koslowski oder Kaselowsky, ein Name, der auf Dauer auch nicht mehr ging. Und nun die neue Freiheit, die vom Block der Kunsthalle zu uns hinüberstrahlt. Damals schauten wir noch in den „Kaselowsky’schen Garten“ mit der gleichnamigen Villa im Hintergrund. Erst 10 Jahre später begann die große Diskussion… (siehe hier).

Rückblende

Frühlingsraga in Bielefeld

Sitar hören!

Und wenn ich heute zurückschaue, verbindet sich das Konglomerat von Erinnerungen plötzlich mit einem Schreckensbild dieses bevorzugten Hotels am Rand der Altstadt, 10 Tage nach unserer letzten Übernachtung dort (2. Stock, Zimmer 210, Fenster zum Innenhof). Sehr ruhig, von fern Kirchenglocken. Die Zeitungsnotiz (Westfalenblatt) erreichte mich per Post aus Lohe bei Bad Oeynhausen, dem Sehnsuchtsort meiner Kindheit.

https://www.nw.de/lokal/bielefeld/mitte/23311179_Feuerwehrleute-am-Limit-Flammen-zerstoeren-Bielefelder-Hotel.html HIER

Es ist genau diese Staße im Vordergrund, die sachte nach links hinaufführt (siehe 2. Foto oben), zum Ratsgymnasium. Am Waldhof. Der Lehrereingang mit der historischen Erinnerungstafel. Dort wurde unsere Klasse nach dem Abitur ein letztes Mal fotografiert: das Foto ist mir verlorengegangen, was kein Zufall sein kann. Ich hatte Berlin im Blick, fernstmöglich, die Aufnahmeprüfung im April 1960, nächstmöglich.

  

Zuhaus lag schon die entscheidende Nachricht:

Für die Sprech-Prüfung hatte ich einen dreiseitigen Text von Tschuangtse (aus LAOTSE Fischer-Buch) abgeschrieben, auch etwas „redigiert“. Man könnte glauben, es sei als Abschied vom Leben gedacht. Für mich ein ANFANG. Und wohl immer noch gültig.

Woher hatte ich das?

Ohne davon zu wissen, kam Rudi Mandalka 15 Jahre später auf eine seltsame Idee:

„Ich ist ein Anderer“.