Magische Hände, realer Rhythmus

Kumar Bose und die Geschwindigkeit

Fotos: Harro Wolter (1974)

 1974 in Schloss Kirchheim

Kumar Bose.1974 habe ich ihn das erste Mal gehört, wie hier mit Ustad Imrat Khan, schon damals hatte der Fotograf seine Hände besonders inszeniert, mit indischen Räucherstäbchen. Fast gegen Ende meiner Rundfunkzeit sahen wir uns im Jahr 2000 wieder, beim Festival „Drei Jahrzehnte Indischer Musik im WDR“ im Großen Sendesaal, mit Purbayan Chatterjee und Hariprasad Chaurasia.

Die folgende Aufnahme der „Magical Hands“ stammt aus dem Jahr 2006, und wenn man Youtube glauben will, spielt hier „the best tabla player ever“.

Das Vertrauen in die rhythmische Souveränität der Tabla-Spieler, die im Schatten der größten Solisten agieren, ist grenzenlos; um so interessanter, wenn sie auch einmal ins Zentrum rücken, gewissermaßen entfesselt, und ein zweiter Spieler am Streichinstrument Sarangi oder am Harmonium nur noch für den melodischen Rahmen der Tala-Periode zuständig ist. Dieser Leitfaden aber ist für das rhythmische Verständnis entscheidend, er ist auch Garant des konstanten Tempos. Die Einleitung ist noch frei, sie gibt die Essenz eines Ragas, aus dessen Tönereservoir schließlich diese Lahara-Melodie hervortritt, die sich dann fortwährend (mit Varianten) wiederholt. Ihrer auf- und absteigenden Linie folgt das Ohr mit Aufmerksamkeit, man fühlt die Gliederung der Zeit unwillkürlich mit, ihr Ziel ist immer wieder der Grundton und die Zählzeit SAM (in der Notation rot umkreist), auf der sie mit der Tabla genau zusammentrifft – sofern diese es will und nicht mit Eskapaden beschäftigt ist… Auch das kommt vor.

Der Sarangispieler ist Ramesh Mishra, und seine Einleitung triff ins Herz. Kumar Bose widmet ihm vorweg ein spezielles Lob. Aber mit dem Solo seines Zeigefingers ist klar, wer hier etwas vorführen will. Oder sogar wer wen.

Für westliche „Notisten“ habe ich das Thema aufgeschrieben, damit man die Varianten klarer erkennt und auch die versteckte oder offen demonstrierte Autarkie der Tabla gegenüber dem Zeitmaß beobachtet. Bei 3:42 genau auf SAM, beginnt ein lehrbuchmäßig geklopfter TinTal, schon ab 3:58 gibt es eine leichte Beschleunigung, die wohl unabhängig vom melodischen Flussbett bleiben soll (oder dieses von jener), sie trifft allerdings schon 1 Sekunde vor der Sarangi auf das SAM, bei 4:48. Ich bin nicht sicher, ob es als artistischer Effekt gelten kann oder als kleines Malheur. Bei 5:12 ist das Zusammentreffen klar, bei 5:34 ebenfalls, 5:56 usw., jedoch bei 7:50 fragt man sich wieder, ob der abschließende Aufschlag nicht der Beschleunigung nachgegeben hat. Vielleicht deswegen die (allzu) auffälligen Irritationsschläge, sagen wir, – um desto deutlicher das SAM 8:10 zelebrieren zu können. Usw. usw. – vielleicht bin extra-kritisch, um mich zu üben, aber auch – weil ich etwas voreingenommen bin. (JR)

Korrigierende Anmerkung von Daniel Fuchs (per Mail):

Die „Beschleunigung“ ist keine – sondern ein Aufteilen des Takts in verschiedene Einheiten, 4, 5, 6, 7 , 8 oder so (ich hab’s jetzt nicht genau überprüft, aber so in der Art). Der „Sam vor dem Sam“ bei 4:48 ist so definitiv gewollt. Kein Malheur. – 7:50 naja, nee, eigentlich alles in Ordnung… Das Video ist übrigens geklaut… Das Werturteil eines gewissen „rohanplayz“ ist völlig wertlos…. Als etwas offiziellere (von einem Label veröffentlichte) reine Audioversion gibt es das hier und hier . Einen etwas längeren (auch irgendwo von einer DVD (?) gezogenen) Ausschnitt gibt es hier . Da sieht man übrigens auch, wer im Publikum sitzt…. Anindo Chatterjee, Swapan Chaudhuri, Subhankar Banerjee, Tejendra Majumdar, Ronu Majumdar… Auf dieses Zitat mit „best tabla player ever“ würde ich wirklich verzichten – das hat Null Wert…

Also: für Material und (selbst)kritisches Studium ist gesorgt, Dank an Daniel Fuchs!

Themenwechsel: von Nord- nach Südindien

Ein Kenner beider Stile hatte mir einmal berichtet, was er vor 45 Jahren während seiner Lehrzeit in Indien erlebt hat, und so kam ich erst darauf, nach entsprechenden Youtube-Aufnahmen zu fahnden. Vor diesem Zeitpunkt lag uns aber nur das obige Bruchstück der „Magical Hands“-Aufnahme vor. Die Recherche ist also noch längst nicht zuende… Das Brief-Zitat:

Sie kennen sicher die unglaublich virtuose Darbietung von T.V.
durch L. Subramaniam (Ocora ‚Une anthologie de la musique classique de l’Inde
du Sud’, CD 1, Nr. 22), wo der Geiger diese Temposteigerung durch 15 aufsteigende
Tempi synchron mit dem legendären Mrdangam-Trommler Palghat Mani Iyer in Vollkommenheit präsentiert. Ich erlebte 1973 in Bombay, wie Palghat Mani Iyer während eines unsinnigerweise arrangierten Wettspiels gegen den 92-jährigen Ahmedjan Thirakwa diesen mit einem solchen T.V. durch 32 Tempostufen herausforderte, worauf der alte Meister überhaupt nicht einging; denn sein Forte war nicht Mathematik sondern Klangschönheit und Formenreichtum. Das Hauptthema der indischen Gesellschaft ist und bleibt eben die Hierarchie, was gerade auf der Bühne immer neu bestätigt werden muss. Sarangi-Begleiter sind eindeutig die Underdogs. Daran ändern auch scheinheilige Lobreden nichts. Im untersten Keller sitzen da noch die Tambura-Spieler – inzwischen sowieso meist ersetzt durch elektronisches Gesäusele.