Gil Shaham mit Bachs Werken für Violine „solissimo“
„Ich bin mit den Sonaten und Partiten aufgewachsen, aber ich hatte immer Angst davor, sie öffentlich zu spielen. Vor ungefähr vier Jahren beschloss ich, mich ihnen erneut zu widmen. Mir wurde klar, wenn ich sie jetzt nicht spiele, werde ich sie nie mehr spielen, und ich werde sie nie besser spielen können als jetzt. Diese Musik ist einfach fantastisch. Wenn ich anfange mich damit zu beschäftigen, komme ich nicht mehr davon los. Ich habe das Gefühl, diese Musik transzendiert die Zeit, das ist der Grund, warum wir sie alle so sehr lieben. Und ich glaube, wir haben sehr viel von der historischen Aufführungspraxis gelernt – über den Stil und die Art, wie sie zu spielen ist. Ein großes Meisterwerk wie dieses kann man aus einer Vielzahl von Blickwinkeln betrachten. Ich habe eine Menge gelernt durch das Studium der Werke von Frescobaldi, Biber und Pachelbel, die mir geholfen haben, Bach zu verstehen. Ich habe versucht, diese Literatur mit einem Barockbogen zu spielen, ich wollte zumindest daraus lernen. Ich dachte zunächst daran, den Barockbogen auch im Konzert zu spielen. Schließlich habe ich mich dann doch für meinen Tourte-Bogen entschieden, über den ich eine größere Kontrolle habe.“
So stand es im Programmheft (Dorle Ellmers) der Kölner Philharmonie, als Gil Shaham dort am 17. März 2010 erstmals Sonaten und Partiten (in E, a und d) von Bach spielte.
Statistischer Vergleich einiger Aufnahmen
Dauer einzelner Sätze: Gil Shaham (2015)
Dauer einzelner Sätze: Christian Tezlaff (1994)
Dauer einzelner Sätze: Rachel Podger ( 2002)
Dauer einzelner Sätze: Isabelle Faust (2012)
Ciaccona 11:04 (Gil Shaham), 13:00 (Christian Tezlaff), 13:36 (Rachel Podger)
C-dur-Fuge 8:12 (Gil Shaham), 10:03 (Christian Tetzlaff), 8:32 (Rachel Podger)
Das Tempo bzw. die Dauer der Sätze sagt nichts über die Qualität der Interpretation.
Es gibt eine wunderbare Einführung von Christian Tetzlaff (mit Susanna Felix) in das biographische Umfeld der Sonaten & Partiten, insbesondere eine analytische Einordnung des großen Werkes in C-dur BWV 1005, anzuklicken beim BR hier. Nach der CD-Aufnahme, die 1994 Hänssler erschienen folgte erstaunlicherweise 2007 – ebenfalls bei Hänssler – eine Neuaufnahme, die ich bei Gelegenheit gern mit der von Gil Shaham vergleichen möchte. Dieser Geiger hat mich fasziniert, seit ich ihn live mit dem 1. Bartók-Konzert in der Kölner Philharmonie erlebt habe (1999). Aber niemals hätte ich eine solche Bach-Aufnahme von ihm erwartet. (Mehr darüber später in diesem Blog!)
Prüfungsfrage: Glauben Sie, was Christian Tetzlaff sagt: dass nämlich das scheinbar fehlerhafte Italienisch auf dem Titelblatt der Sechs Violin-Soli in Wahrheit (u.a.) bedeuten soll: „Du bist allein“? (Weil das Werk von Bach im Jahre 1720 unter dem Eindruck des plötzlichen Todes seiner Frau vollendet wurde…)
Jetzt erst fällt es mir wie Schuppen von den Augen: diese Deutung des „Sei Solo“ geht offenbar auf einen Artikel von Helga Thoene zurück, dessen ernsthafte Kenntnisnahme ich verweigere, seit ich die ECM-CD „Morimur“ (2001) gehört habe; die Durchsetzung des Vortrags der Ciaccona mit gesungenen Choral-Zitaten gehört für mich – unabhängig von einem Gränchen Wahrheitsgehalt – in den Bereich des esoterischen Edelkitsches. Das manische Auszählen der Buchstaben des Namens J.S.Bach in den Noten erscheint mir in hohem Maße unmusikalisch, zumal wenn man sich die Legitimation letztlich nur aus dem Kanon des Haussmann-Bach-Porträts holen kann, der einem singulären Zweck diente. Ich halte es auch nicht für ein Wunder, dass die melodischen Grundformeln zahlloser Choräle in irgendeiner Form aus jedem Barockwerk herauslesbar sind: gehorchen sie doch den gleichen Rahmenbedingungen der Tonleiter und ihrer Tetrachorde.
Das erwähnte Konzept von Christian Tetzlaff kann ich inzwischen wiedergeben, da die neuere Version seiner Bach-Soli (hänssler Classic 2006) bei mir eingetroffen sind; an den lesenswerten Booklettext von Detmar Huchting schließt sich das persönliche Statement des Künstlers an:
Mit der tiefsten Violinsaite (G) in g-Moll beginnend, über h-Moll, a-Moll, d-Moll, C-Dur ansteigend bis zur höchsten Saite (E) im strahlenden E-Dur beschreibt er einen Weg durchs Dunkel zum Licht – mit der tragischen Ciaccona und der folgenden großen C-Dur-Fuge als Höhe- und Wendepunkt. Zwischen diesen Sätzen steht das Adagio der C-Dur-Sonate in einer Art musikalischem Niemandsland – geschrieben im selben Takt und ruhigen Tempo wie die Ciaccona, beginnend im selben Register wie diese (im Manuskript lässt Bach zwischen d-Moll-Partita und C-Dur-Sonate nicht einmal eine Zeile frei…) moduliert er bereits im 5. Takt zurück nach d-Moll; die erste vollständige Kadenz bringt uns nach g-Moll! C-Dur erscheint im ganzen Satz kaum und noch bis zum Schluss scheint der Satz eher zu den vorhergehenden Mollwerken zu kippen – bis dann in den letzten eine wie eine Beschwörungsformel klingende Tonfolge die Fuge einleitet. Ein solcher Jubel wie in diesem Stück ist für Geige vorher noch nie komponiert worden!
Ich kann nicht erwarten (und halte es bei einer Musikkonserve auch nicht unbedingt für sinnvoll), dass Sie sich den Zyklus als Ganzes anhören können oder möchten, schlage als Anregung aber deshalb vor, das Essentielle dieser Reise zu erleben, indem man die d-Moll-Partita und die C-Dur-Sonate hintereinander hört oder bei Zeitknappheit die Ciaccona und die ersten beiden Sätze der C-Dur-Sonate.
Ihr Christian Tetzlaff
Foto: Georgia Bertazzi