Vertigo

Was ist das?

Ein umfangreiches Booklet, auf dem nur die allernötigste Auskunft steht, mein Farbscanner hat bereits versucht, etwas hinzuzukomponieren. Tatsächlich folgt ein knappes Inhaltsverzeichnis Seite 11 bis 13, mit anderen Worten: eine Werkliste von 22 Stücken, später weiß ich: es ist – in diesem auffällig schlichten Karton-Schuber von 3 CDs, alles auffällig in absolut Schwarz gehüllt – das Gesamtwerk des Mannes, der Christophe Bertrand heißt, ohne die wenigen Vokalwerke, jedoch viel für ein so kurzes Leben. Mehr über ihn hier. (Vertigo ist ein Werk, alles andere erst auf Seite 60 des Booklets s.u.). Was die titelähnlich platzierte 14 auf dem Schuber zu bedeuten hat, konnte ich ohne besondere Selbsthilfe nicht erkunden.

„Vertigo“ – ach, jetzt weiß ichs, ist doch auch schon mit Bedeutung aufgeladen: Hitchcock. Das lateinische Wort bedeutet Wirbel oder Schwindel. Aber mehr noch für Filmkenner: hier. Des weiteren hätte die Beziehung auf Ligetis Klavieretüde etwas zu sagen.

Der Autor des kenntnisreichen Textes heißt Dirk Wieschollek. Ich kann daraus lernen, wie etwa Neue Musik das Geheimnis hütet, das in ihren ephemeren Klangerscheinungen zutage treten wird. Mein Tonfall wirkt vielleicht ironisch, ist nicht so gemeint, ich versuche mich nur wie ein Kind oder ein ganz junger Mensch nähern. Als unbeschriebenes Blatt. Und habe doch schon die Ligeti-Etüde sehr deutlich eingetragen. Ohne es daraufhin überprüft zu haben.

Ich habe mit dem Einzelwerk „Vertigo“ begonnen, mit wachem und wachsendem Interesse zugehört, verhehle aber nicht, dass ich inzwischen neben der Ligeti-Allusion einiges gelesen habe, auf Seite 24f des Booklets einige andere Namen verinnerlicht habe: neben Strawinsky, Messiaen, Reich, Berio, sogar die von Ravel und Richard Strauss, hier natürlich auf „orchestrales Raffinement“ bezogen, so dass ich, ja-sagend, als gelehriger Adept der 60er Jahre mich zugleich eines kulinarischen Hörens bezichtigen möchte. Aber, sage ich mir, muss ich denn beim vorurteilsfreien Hören unbedingt in der ersten Reihe stehen? Ich bin vernarrt in diese Klänge, gespannt in jeder Phase auf die darauf folgende, die Mischung der Instrumente taxierend, um im hintersten Winkel meines Gedächtnisses zu untersuchen, ob sich auch etwas Wahrnehmbares über die Fibonacci-Reihe findet. Hatte das vielleicht mit Bartók (Lendvai) zu tun? Klangfarben, Vexierspiel, „Phänomen der Verwischung“, „ein fast «ethylisierter» Ausdruck“,  „wie ein Spiegelbild in leicht fließendem Wasser“. Ja, ich sollte das Booklet lesen, um die Ohren und Augen miteinander kurzzuschließen. Es handelt sich „um ein veritables Konzert fürt zwei Klaviere und Orchester. Mehr als 80 Musiker verbinden sich in bis zu 43 Stimmen …“ Und weiter im Booklet-Text:

-same maschinelle Motorik einbindet. Der Aspekt überbordender Virtuosität bekommt dabei ebenso wie manche Tutti-Akkumulation im vielfachen Forte entschieden apokalyptische Züge. (Text: Dirk Wiescholiek)

Es hilft wirklich beim Hören, vorweg zu wissen, was andere Hörer wahrgenommen und gewusst haben. Kein Kunstwerk ist so autonom, dass man selbstherrlich darauf verzichten könnte.

Nun? Wo höre ich Form? Sagen wir: Sagen wir: wo gibt es eindeutige Zäsuren zwischen einheitlichen Strecken? Ja, so altmodisch kann man verfahren. Und Sie sollten es nicht einfach von mir übernehmen und darauf warten, dass die „Vorhersage“ zutrifft. Sie steht da, um nachher der Erinnerung Hilfestellung zu leisten: 1) bis 1:45 2) bis 4:00 3) bis 8:17 4) bis 11:40 5) 13:16 6) bis 17:00 7) bis 20:56 (Ende)

 *    *    *

Inzwischen habe ich natürlich vordergründig nachgeforscht: der mir bisher unbekannte bastille musique Verlag hat seine Editionen offenbar durchnummeriert, und erst bei dieser Recherche habe ich z.B. das (Opus) 8 entdeckt, Bach mit Petra Müllejans: hier. Mein lieber Freund Berthold weiß nicht, was auch er schon wieder angezettelt hat! Auf dem jpc-Post-Weg befindet sich gerade erst die Missa Nö Nö, angeregt durch mein Patenkind (privat), – und die Chance des jpc-Vorhörens hat mich überzeugt, dass der Titel nicht nur ein Gag ist. Und dass es noch viele Verlage gibt, deren Repertoire ich eigentlich kennen müsste. Für heute und die nächsten Tage genügt bastille musique 14 Vertigo.

(Fortsetzung folgt)