Schlagwort-Archive: Wolfgang Hamm

Wolfgangs Blick auf Bali

Ein Monument in Klängen

Bali aus der Nähe

  Bali als tönendes Gesamtkunstwerk 1995 – – – Der Einführungstext von Wolfgang Hamm und Rika Riessler, den beiden Initiatoren des Bali-Projektes in Zusammenarbeit mit dem WDR. Die CD ist der Versuch, aus der Fülle der Musik und Klänge auf Bali eine Auswahl zu „komponieren“, die die verschiedensten Genres balinesischer Musik nicht isoliert, sondern eingebettet in Klänge der Natur, Geräusche des Alltags und in die Atmosphäre religiöser Zeremonien präsentiert.

So eindrucksvoll dieses Dokument über fast 30 Jahre weiterwirkt, es ist nur ein Schwerpunkt in Wolfgang Hamms Lebensreise gewesen. Ebenso plastisch vermittelte er in zahlreichen Radiosendungen die musikalischen (und menschlichen) Erfahrungen, die er etwa aus Afrika (Guinea, Zimbabwe) aus der asiatischen Steppe (Tuva) und zuletzt – in Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau Cristiana Coletti – aus Italien mitbrachte: ungewöhnliche Einblicke in die Kulturen der Welt. Unerhörte Musiklandschaften

Zum Glück für mich bedeutete der Abschied vom WDR im Mai 2006 kein „Ausklingen“ der Freundschaft mit einem der besten freien Mitarbeiter der Redaktion Musikkulturen…

Aus seinem Urlaub im September 2022 schrieb er in einer Mail:

Am Schönsten – und das hat dann wirklich etwas «Befreiendes» – ist es, ins immer noch warme Meerwasser einzutauchen, beim Schwimmen nur den eigenen Körper zu spüren und an nichts anderes als an Wasser, Licht, Himmel, den in der Sonne glänzenden Saum der Bucht von Agiós Prokopiós zu denken. Wenn ich dann wunderbar erfrischt unterm Schirm am Strand liege, höre ich mir oft alte Sendungen an, spüre an der Veränderung meiner (Autoren)-Stimme wie die Zeit vergangen ist, denke an frühere Zeiten mit ihren besonderen Erfahrungen in anderen Ländern und Kulturen, aber auch z.B. an meinen verehrten Kompositionslehrer Erhard Karkoschka an der Stuttgarter Musikhochschule, dem ich mal eine Porträtsendung widmete. Es ist für mich so etwas wie eine «Erkenntnis» (wahrscheinlich eher eine Binsenwahrheit):  

Die eigenen Themen und Erfahrungen wieder aufzusuchen, um sie lebendig zu halten, beeinhaltet Glücksmomente. Sich von außen immer wieder mit dem «Neuesten und Wichtigsten»  berieseln zu lassen, bringt auch «Unzufriedenheit»  mit sich … (das hat nichts mit «Egozentrik»  zu tun, ich bin viel zu sehr «Nachhalltechniker», wie sich mal mein Vetter Peter Hamm bezeichnet hat, lasse mich schnell «verführen» durch die Wichtigkeiten von außen und von Anderen in ZEIT, Talkshows, Nachrichten etc.)

„Nachhalltechniker“! Und am Ende der Mail zitierte er sein Lieblingsgedicht von Hölderlin, gemeint auch als Ermunterung für mich:

Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng’ und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.
Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige zweifeln an Einer
Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag. (…)
Denn nicht Mächtiges ists, zum Leben aber gehört es,
Was wir wollen, und scheint schicklich und freudig zugleich.
Aber kommen doch auch der segenbringenden Schwalben
Immer einige noch, ehe der Sommer ins Land.

An dieser Stelle nur die Andeutung des Textes. Ich habe sogleich alles nachgelesen, mich wie üblich an Wikipedia wendend: hier, – was wollte mir Wolfgang damit sagen? Da ich weiß, wie sehr es ihn ergriff. Wie hat er sich diese feierliche Sprache ins tägliche Leben geholt?

Wer war Wolfgang Hamm?

Hier zur Website

Soviel noch hätte er uns zu sagen gehabt. Um so härter der Schock am Jahresende 2022, der völlig unerwartet kam.

Und am 24.01.23 die offizielle Anzeige mit diesem Foto, das im letzten Urlaub auf der griechischen Insel entstanden sein könnte:

Im Gedenken an die schönen Zeiten der Zusammenarbeit:

Und die Traueranzeige des Freundeskreises (zum 5. Februar 2023)

Es ist nie zu spät (24.-26. Dez. 2020)

Kurze Musiklehre für Anfänger

(Kleine Voraussetzung: Sie sollten schon Noten lesen können!) Ich gebe zu und bedauere, dass die alte „deutsche Schrift“ den Zugang zum wiedergegebenen Text erschwert. Zu „meiner“ Zeit (Kindheit vor 1950) las man selbst Grimms Märchen in dieser Schrift (ich verstand sie wie das Westfälische Platt meiner Großeltern, nämlich ohne recht zu merken, dass es anders war.)

Meine Vorgeschichte heute: Ich suchte den alten Tonsatz zu „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ von Michael Praetorius: ich glaubte, beim Anhören der Heidelberger CD eine Zwischen-Dominante vermisst zu haben und wollte nachschauen, ob sie überhaupt original sei. (Ich irrte mich, hatte mich verhört, falsch fixiert.) Dann aber faszinierte mich das alte Liederbuch, das aus der Schulzeit meiner Mutter stammt. Also um 1925.

 

Der alte vierstimmige Satz von Praetorius ist reduziert auf drei Frauenstimmen, aber das, was ich meinte – der Akkord auf der zweiten Silbe des Wortes „Winter“ (drittletzter Takt) -, ist klar: diese Takte entsprechen denen des Anfangs – bis auf diesen Akkord: F-dur statt f-moll. Was bewirkt das? Über solche Varianten sollte man auch mit Laien reden können. Wer den letzten Teil dieses Liederbuches in der Schule durchgearbeitet hat, sollte das können. Meine Mutter hat es nicht gelernt. Wer weiß, ob der bemerkenswerte Anhang überhaupt zum Lernstoff gehörte. – Ich habe es, als ich es gebrauchen konnte, nicht ernst genommen; es war ja für Mädchen!

             

Der Satz vom Notenlesen am Anfang sollte eigentlich nur darauf hinweisen, dass das Zeit kostet. Es geht nicht einfach darum, die Buchstaben zu wissen, sondern sich auch die Töne vorstellen zu können. Die erste Hürde für das Gedächtnis: jeder Notenkopf ist gleich wichtig, ob er nun auf der Linie steht oder zwischen zwei Linien. Das sagt noch nichts aus über Halbtonschritte und Ganztonschritte. Der Schritt von der ersten Linie zum ersten Zwischenraum ist ein Halbton-, von diesem Zwischenraum zur zweiten Linie ein Ganztonschritt. Für mich als Kind war es ein Problem, das einzusehen. Unlogisch! Ebenso die Tonreihenfolge: A – H – C, oder aber: die Basistonreihe gerade mit C – D – E zu beginnen. Man kann das historisch begründen, – aber man hat nichts davon; einfach nur lernen. Sehr wichtig: die Versetzungszeichen Seite 203, und Seite 205 die gleich geformten „Tetrachorde“ der Tonleiter. Das muss man singen können, ohne die Tasten des Klaviers zuhilfe zu nehmen. Jedenfalls nach einer gewissen Einübung. Danach ist alles leicht. Man könnte sogar mit arabischer Musik beginnen (kleiner Scherz).

Eine rhythmische Tabelle wie die auf Seite 199 befand sich auch am Anfang meiner ersten Violinschule von Hohmann-Heim. Irgendetwas leuchtete mir da nicht ein, und ich fragte meinen Vater, dessen Erklärung ich aber nicht ganz einsah, so dass er in plötzlichem Wutausbruch den Bleistift griff und in Riesenlettern und schreiend drüberkritzelte: 1 2 3 4. Ich weiß nicht, was ich da nicht kapierte, abgesehen von seinem Jähzorn wahrscheinlich die Tatsache, dass die sehr schnellen Noten soviel gewichtiger aussahen als die eine ganze Note, die bescheiden am Anfang der ersten Zeile stand. Mein Vater war aus einem Kapellmeister ein Studienrat geworden, und diesen Beruf hätte ich auch Dr. Hugo Löbmann zugeschrieben, wenn er nicht sogar zum Oberschulrat aufgestiegen ist. Aus den Lexika ist er verschwunden, nur in dem von Moser (1935) und dem alten sowie dem neuen von Hugo Riemann habe ich ihn gefunden, vielleicht weil er dessen Schüler war. Der letzte Titel „Fröhlicher Kontrapunkt“ stimmt mich nicht erwartungsfroh. Dass er für das anfangs zitierte Kirchenlied das Wort Reis statt Ros wählt, hat sicher eine lokale Geschichte; in dem wichtigsten katholischen Liederbuch, dem Speyerer Gesangbuch von 1599, steht jedenfalls schwarz auf weiß „Ros“.  Siehe auch hier. Außerdem bei Wikipedia noch der Satz:

Das Buch zeichnet sich gegenüber den gleichzeitig erschienenen Gesangbüchern dadurch aus, dass auf jede anti-protestantische Polemik verzichtet wurde. Auch Martin Luthers Vom Himmel hoch ist hier enthalten.

*    *    *

Sie müssen keine Noten lesen!

Liebe Leserinnen und Leser,

wenn Sie bis hierher durchgehalten und vielleicht schon gute Vorsätze für das Neue Jahr und den Rest der Corona-Zeit gefasst haben, möchte ich Ihnen doch noch etwas irgendwie Weihnachtlicheres bieten, was auch geistig-seelische Nahrung für die Zukunft verspricht: eine schöne SWR-Sendung meines Freundes Wolfgang Hamm. Sie brauchen dafür eine ungestörte Mußezeit von etwa einer Stunde. Sie ist zwar schon gestern Nacht ausgestrahlt worden, aber – wie schon im Blog-Artikel angekündigt: Es ist nie zu spät!

SWR2 „KULTUR NEU ENTDECKEN“

Zum Hören klicken Sie bitte HIER

*     *     *

Soweit der Ernst des Lebens und des lebenslangen Lernens, dann die Schönheit und das Wunder, – höchste Zeit also, uns gegenseitig auch noch eine fröhliche Weichnacht zu wünschen! Sic! Ich tue es in Gestalt der Erinnerung an eine Konzertreise des Collegium Aureum mit dem Tölzer Knabenchor durch Norditalien. Hier ein Ausschnitt des Plakates, das uns in Venedig erfreute:

So könnte ein Roman beginnen: „Nie werde ich die weichen Nächte von Venedig vergessen!“ In Wahrheit denke ich an eine frühe Lektüre zurück, ich glaube, von Dostojewski: „Weiße Nächte“ (es ging um erste Liebe, der Vater spielte eine Rolle, ich finde das Buch schnell wieder, meine ganze „russische Zeit“ nach 1957, es begann mit dem Film „Krieg und Frieden“, mit Tolstoj, aber auch mit dem Taschenbuch „Der Tod des Iwan Iljitsch“, denn genau so starb mein Vater, beim Lesen hatte er gesagt: „das bin doch ich!“). Vor allem Turgenjew! Bald darauf entdeckten wir – so hochgestochen das klingt – Goethes Faust, konnten vieles auswendig mitsprechen. Mein älterer Bruder und seine Freunde standen vor dem Abitur, einer hatte ein großes Grundiggerät und den „Faust“ unter Gründgens darauf überspielt. Und das wirkte auf alle beflügelnd. Mich befremdete und faszinierte die Musik von Mark Lothar. So dachte ich beim „Weichnachts-Oratorium“ in Venedig unversehens an die große Oster-Szene, an die „weichen Menschen“, an die Glocken und Engelschöre, die den lebensmüden Faust in die Wirklichkeit zurückrufen :

Was sucht ihr, mächtig und gelind,

Ihr Himmelstöne mich am Staube?

Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind.

Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube

Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.

Zu jenen Sphären wag’ ich nicht zu streben,

Woher die holde Nachricht tönt;

Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt,

Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.

(Siehe hier bei V.762)

Blick in die Hörzu (auch schon seit 1954)

Und was jetzt von den Feiertagen Dezember 2020 zurückbleibt, wird der Film über die Kathedralen und insbesondere den Bau des Strassburger Münsters sein, nein mehr: siehe bei ARTE hier. Also wieder einmal etwas über das Wunder der Gotik? (S.a. hier oder hier). Und über einen Höhepunkt der – Technik. Vielleicht auch, aber vor allem eine aufrührerische Geschichte vom Kampf um die Macht zwischen Kirche und Bürgertum. Andererseits – war es nicht die ganz große Epoche des Christentums? Es war eine schlimme Zeit. Und so ist uns bei allem Erinnern und Staunen leider doch noch das Lachen vergangen. Wie auch hier:

  1958

Die Turgenjew-Geschichte war es, die lange nachklang. Später noch „Väter und Söhne“. Soll ich alles noch einmal lesen? Es ist wie neu – und doch nicht ganz. Ich stecke unweigerlich drin. Wie auch mein Vater.

Wie auch die Schülerin, die damals um 1925 die Musiklehre im letzten Teil des Liederbuchs für Lyceen und Höhere Mädchenschulen nicht ernst genommen hat. Sie wurde Kinderkrankenschwester und hat 1938 trotz mangelnder Kenntnisse diesen Musiker geheiratet:

Und das war gut so!

MBIRA

Eine Welt für sich? Ganz gewiss: eine Welt.

Pioniergeist in Sachen Weltmusik – Vlotho 1979:

WDR-Hörer wussten es, seit Kevin Volans die ersten Sendungen für die Abteilung Volksmusik produziert hatte: z. B. am 11. April und am 6. Juni 1978 über Zulu Gitarren Musik. (Ich war seit 1976 als Leiter der Abteilung fest angestellt und hatte freie Hand, solche Themen ins rechte Licht zu setzen. Man verstehe das nicht als Eigenlob: es gab den Mitarbeiter Werner Fuhr und über Jahrzehnte eine günstige Hierarchie, ich denke an Namen wie Alfred Krings – s.a. hier -, Novottny, Jenke, mit Dankbarkeit!) Um den 20. April 1984 (Ostern) fand die große Produktion im Kleinen Sendesaal statt: mit Kevin Volans, Deborah James, Robert Hill (!), und Robin Schulkowsky. Dank der tollen Musikbeispiele und des Textes von Deborah James (und Kevin Volans) konnten wir danach eine Sendung produzieren, die mir für immer „in den Knochen“ saß. Eine entscheidende Rolle spielte auch das wunderbare Buch von Paul F. Berliner: „The Soul of Mbira / Music and Traditions of the Shona People of Zimbabwe“. Die Sendung in WDR 3 am 24. Oktober 1984 (21.00 bis 22.30 Uhr) stand folgendermaßen im Programm: „Die Seele der Mbira. Ein Weg ins Innere afrikanischer Musik mit Deborah James (Johannesburg), am Mikrofon: Jan Reichow.“ Mein Interesse für Afrika hat aber nicht erst im WDR Köln begonnen, sondern – in Berlin, und zwar schlagartig mit dem Buch „Muntu. Umrisse der neoafrikanischen Kultur“ Verlag Diederichs Düsseldorf 1958; ich hatte es mir am 1. November 1960 gekauft, während ich parallel zu dieser Lektüre einen Yoga-Kurs bei Swami Dev Murti absolvierte und hauptamtlich Schulmusik studierte (in Berlin damals mit dem Nebenfach Tanz & Rhythmik bei Taubert !) …

 Tr.10 siehe hier ganz unten

Über Jahre hinweg blieb dieses Thema bei uns virulent, auch durch Wolfgang Hamm, der Radiosendungen, eigene Aufnahmen und hier z.B. den Text zur World Network CD beisteuerte. Wie froh bin ich, dass die Mbira mich jetzt aufs neue erreicht, dank eines sehr aktiven Kenners, Stefan Franke, der dieser Musik ein neues Forum im Haus der Kulturen der Welt in Berlin eröffnete. Ich möchte in aller Kürze die letzten Stationen belegen:

Was macht das Haus der Kulturen der Welt in Berlin? hier

Die Ankündigung der Veranstaltung am 24. März 2019: hier

Ein Mitschnitt der Konzerteinführung mit Stefan Franke hier

Der Eröffnungs-Song im Konzert hier

Eine Mbira-Plattform, die Stefan Franke ins Leben gerufen hat:

https://sympathetic-resonances.org/ hier

In den Umkreis der Mbira-Musik-Forschung gehört unbedingt Klaus Peter Brenner, der sich auch mit den Musikbogen-Traditionen in Afrika beschäftigt hat. Hier folgen ein paar Informationen zu seiner Arbeit:

https://www.uni-goettingen.de/de/aor-dr-klaus-peter-brenner/71298.html hier

https://www.uni-goettingen.de/en/71298.html hier

Folgendes Video im externen Fenster: hier

Folgendes Video im externen Fenster: hier

Aus der Anleitung von Andrew Tracey: HOW TO PLAY THE MBIRA (DZA VADZIMU) International Library of African Music / Transvaal South Africa 1970

Hier folgt eine interessante Bemerkung von Stefan Franke über die Cembalo-Version des Mbira-Stücks, die von Kevin Volans stammt. (Nebenbei: Sie ist auf geheimnisvolle Weise von der Network-CD – s.o. Tr. 10 – nach Youtube „gewandert“.)

Seine Nyamaropa-Bearbeitung finde ich jedenfalls wunderbar, ebenso wie die Tatsache, dass er das Tuning der Instrumente ins Augenmerk rückt – Tunings sind mir ein besonderes und m. E. unterschätztes Anliegen.

Auch wenn das Ergebnis für mich klanglich/spektral in diesem Fall nicht wirklich aufgeht: Die Cembalo-Saite ist sehr obertonreich; eine Mbira-Lamelle hat nur einen nennenswerten, dominanten Oberton ca. 2 bis 2,5 Oktaven höher, und dieser hat, wie ich argumentieren würde, eine definierte Rolle/Funktion in der Musik: Entweder fügt er eine atonale Schicht oberhalb der tonalen Musik hinzu, wie bei der Mbira dzavadzimu mit gestimmten Grundtönen, oder die atonale Schicht entsteht im Bass, wie bei der Matepe, bei der in den unteren Registern die dominanten Obertöne gestimmt werden statt der leiseren, sehr tiefen Grundtöne.

(Aus einer Mail vom 12.7.2019)

Es ist eine unerhörte Schulung des musikalischen Gleichgewichtssinnes, man darf nur nicht nach zwei Minuten Zuhören erlahmen: man konzentriere sich still auf die Hosho-Rassel, wenn alles im Fluss ist. Man sitzt wie in einem Boot, dessen Ruder man beobachtet. Ich finde, dass es einem nach 10 Minuten deutlich besser geht (falls man dessen bedurfte). (JR)

Bali aus der Nähe

Wie es 1973 anfing

Es handelt sich hier nicht einfach um eine nostalgisch getönte, ichbezogene Rekonstruktion, – dies vielleicht auch, aber vor allem aus einem aktuellen (nicht-privaten) Anlass. David Attenborough ist der Hauptakteur.

        

Das Konzertprogramm, aus dem die Sendung hervorging:

      

In meiner Radio-Sendung vom 27. Mai 1973 über „Tanz und Musik aus Bali“ war ich aber nicht nur erfüllt von den Konzert-Erlebnissen in Köln und Bonn, sondern in erheblichem Maß beflügelt durch eine Fernsehsendung, die von David Attenborough stammte. Darüberhinaus durch einen Bericht in der ZEIT vom 27. April. Was ich damals nicht ahnen konnte, dass beide Quellen, mit denen ich das eigene Fernweh in der greifbaren westlich-journalistischen Erlebniswelt verankern wollte, Jahrzehnte danach wieder so leicht zugänglich sein würden. Und zugleich ist alles anders geworden. Auch im Radio. Doch davon nicht an dieser Stelle.

Hier gehts zum ZEIT-Artikel, der damals noch „Ferien auf Bali“ hieß, hier.

Und hier folgt der Link zum Film (nicht in deutscher Fassung wie damals, sondern im Original):

Nicht mehr verfügbar? Vielleicht hier ? Und hier. Oder hier ?

Neu ist die Doppel-CD, die jetzt bei Wrasse Records herausgekommen ist und 60 der besten Aufnahmen des Dokumentarfilmers und Tonsammlers David Attenborough aneinanderreiht. „My Field Recordings from Across the Planet“. Also nicht nur aus Bali.

 

In diesem Zusammenhang kann ich nicht umhin, auch die schönste Kompilation balinesischer Musik zu erwähnen, die ich überhaupt kenne. In dieser Form kann das wohl nur ein Komponist „zusammenfügen“, der die Selbstverleugnung aufbringt, keinen einzigen Ton „kreativ“ selbst hineinzukomponieren, sondern aus zahllosen Natur- und Musikaufnahmen am Ort ein balinesisches Ganzes herauszuhören und zu realisieren, Wolfgang Hamm. Das geschah vor allem im August 1995 in Zusammenarbeit mit Rika Riessler, die sich dort seit Jahren in die Kultur des Landes vertieft hatte. In der Schlussphase war auch der WDR beteiligt, und ich hatte die einzigartige Gelegenheit, gegen Ende des Projekts gewissermaßen in einem „Crashkurs“ von 10 Tagen in einige Aspekte der kulturellen Lebenswelt dort eingeweiht zu werden. Und staune heute noch, wie es möglich war, solche Vielfalt in einen stimmigen Zusammenhang von 65 Minuten zu bannen.

Die World Network CD 1996

 Hamm (Textanfang)

Eins habe ich begriffen, seit ich Musik mache oder höre, so auch hier: es geht nicht rein intuitiv, ohne intensives Erlernen eines Regelwerks. Zur Verfügung stand uns früh Colin McPhees „Music in Bali“ (1966). Das erste Buch von Michael Tenzer schenkte mir Wolfgang Hamm 1995; das andere, viel umfangreichere („including two compact discs“) legte ich mir 2009 zu, und da steht es nun zur steten Mahnung im Bücherschrank und wartet auf erneute Anläufe des Besitzers…

  ISBN 0-226-79283-8

Aber auch das Hören allein erschließt schon einen Teil der fremden Welt, wie Colin McPhee es so wunderbar beschrieben hat; und gerade dieses Phänomen gräbt sich für immer ins Gedächtnis ein:

 bitte anklicken

Dank an Wolfgang Hamm für lange Gespräche auf Bali, in Conakry, Köln und anderswo.

Orient und Okzident

Ein irakischer Musiker erlebt den Westen

saad-thamir (Foto: Bassem Hawar)

Saad Thamir, 1972 in Bagdad geboren, wächst in einer westlich geprägten Familie auf und studiert an der dortigen Universität zunächst Philosophie. Auf der Suche nach künstlerischen Ausdrucksmitteln wechselt er zum Kompositions-Studium, sowie Studium der arabischen und westlichen Musikwissenschaften. Ein Schwerpunkt seines Interesses liegt dabei auf der Integration einer „Dramaturgie“ nach westlichem Vorbild in die arabische Musik. Diese Fragestellung führt ihn tief in den ästhetischen Vergleich der arabischen und westlichen Musiken.

2000 kommt Saad Thamir nach Deutschland, um sich bei den Komponisten Wolfgang Hamm und Chao Ming Tung weiterzubilden.

In der arabischen Maqam-Musik stößt er auf zauberhafte, unentdeckte Gewebe, die diese Musik gestalten und der Grund dafür sind, dass diese Musik ästhetisch anspricht. Mit diesem Hintergrund erreicht er die Verbindung des westlichen und arabischen Musiksystems, indem er keines der beiden theoretischen musikalischen Systeme als Einzelsystem behandelt. Vielmehr gehen die Systeme in einem symbiotischen System auf, in dem nicht ein einzelnes System gesondert erscheint, sondern beide zusammenlaufen und somit etwas Neues schaffen. Saad Thamir versteht Musik als ein humanes ästhetisches Bedürfnis und nicht die Musik selbst als das Ziel. (Text: Website Saad Thamir)

***

Der folgende Text beruht auf einem Gespräch, das der Kölner Komponist und Autor Wolfgang Hamm im Jahre 2015 mit Saad Thamir geführt hat, um ein bestimmtes Musikprojekt seines irakischen Kollegen in einer WDR-Sendung vorzustellen: „Erklärung einiger Dinge“. Ich finde diese O-Töne enorm aufschlussreich als authentisches Zeugnis. Ich habe sie wortwörtlich in schriftliche Form gebracht, leicht überarbeitet, wo Worte fehlten oder die Ausdrucksweise – zwar mündlich lebendig und aussagekräftig – in Schriftform zu Nachfragen Anlass gab. Sie ist in dieser Form abgesegnet vom Autor und seinem Gesprächspartner.

OT 1

Es ist eine Mischung, eine große Mischung. Zuerst ist es die logische Folge, die ich gerade sehe; vor 15 Jahren oder so habe ich es von meinem Vater gehört, er meinte, das wird so sein: Die werden kommen, die werden alle kommen, so wie bisher funktioniert’s nicht, die werden alle kommen. Es geht nicht mehr um Flüchtling und Asyl oder so, es wird eine Völkerwanderung geben. Er meinte, so wird’s nicht bleiben, die werden kommen. Das ist keine Prophezeiung, das ist wie gesagt eine logische Folge. Eins.

Das zweite Gefühl ist: was kann man mit diesen armen Menschen jetzt anfangen? Ich weiß es wirklich nicht, ich sehe sie überall. Es gibt diese Art unsichtbare Verbindung zwischen den Leuten, die aus Syrien, Libanon und Irak kommen und mir, obwohl ich jetzt seit mehr als 18 Jahren weg bin von der Heimat.

Und das dritte … es ist peinlich zu sagen – aber: Ist das wahr, dass wir auf diesem Niveau landen [müssen]? Denn ich kann jetzt nicht darüber sprechen, dass sie nur Opfer sind. Auch über mich, ich spreche jetzt auch über mich, obwohl die Umstände verschieden sind, damals und jetzt, aber … in einer Kette. Und ich schäme mich ein bisschen. Ist das wahr, dass wir auf diesem Niveau landen? Dass wir so zerstreut sind überall hin … dass es bei uns an sehr vielem fehlt und wir wirklich keine Basis für eine Heimat, ein internationales Gefühl haben, überhaupt kein nationales Gefühl… Und allmählich verstehen wir mehr und mehr, aber leider immer zu spät. Wir sind keine Philosophen, um das Ganze zu verstehen.

OT 2

Es hat eigentlich mit Brecht angefangen, ich hab das Gedicht „Bitten der Kinder“ gelesen, sehr beeindruckt, es hat mich sehr bewegt, und dann habe ich gesagt: Ich vertone dieses Gedicht, ohne an das ganze Projekt zu denken. Ich wollte einfach nur dieses Gedicht vertonen, und direkt danach kam Mahmoud Derwish – sagen wir nach drei, vier Monaten habe ich Mahmoud Derwish gelesen und habe gesagt: Ich vertone dieses Gedicht. Und direkt danach kam Neruda, okay, wenn ich nun so weitermache, dann mache ich doch aus alldem ein Projekt, und ich suche weiter Gedichte, die in diese Richtung gehen. Denn eigentlich ist das die Richtung, die mich am meisten interessiert. Also, es sind sind zwei … Wenn ich meine Gedanken jetzt ganz konzentriere: Was mich am meisten im Bereich Kunst und Text interessiert, ist der Mensch an sich, die Fremdheit, die Beziehung, nicht Liebe, – diese auch, natürlich bin ich nicht gegen Liebe – aber viel mehr: Was ist Beziehung für einen Menschen, zur Heimat, zu sich selbst, zur Gesellschaft? Wo fängt das an, wo hört es auf, also Fremdheit, wann fühlt man sich fremd, wann fühlt man sich zugänglich, wann fühlt man sich isoliert, und so weiter. Und halt die großen Phänomene, wie Krieg, Gier, Macht … und Macht, ja, das interessiert mich! Mehr nicht, die kleinen Sachen – Natur und Blumen, so kleine Sachen, Liebe und so, das ist wunderschön, aber es … entspricht mir nicht. Das bin ich nicht.

OT 3

Ja, das ist eine lange Geschichte. Wir haben darüber auch gestern gesprochen. Im Orient – kann ich sagen. Ich sehe sehr viele Verbindungen zwischen Irak und Türkei und so, es gibt ja eine gemeinsame Basis. Aber wir haben es immer noch nicht begriffen, was Komposition ist, wir vertonen etwas … also unsere musikalische Kultur beruht auf Melodie und Rhythmus, das ist ja sehr klar, aber wir vertonen etwas, und deshalb: das Gedicht gehört dazu, das ist die zweite Kunst, wo ich immer drin bin. Also nicht nur Musik, sondern Gedicht, die beiden gehören ja zusammen.

OT 4

Mohammed Mahdi Al-Djawahiry ist ein Iraker, er wird genannt „das letzte goldene Glied“ der Glieder in der klassischen Kette… also diese klassische Form, die seit der Zeit vor dem Islam, vor Mohammed angefangen hat, diese klassische Form. Er ist der letzte – keiner hat nach ihm noch so geschrieben, in dieser Form. Jetzt versuchen viele Junge zurück zu den Wurzeln zu gehen, aber das sind so Versuche, die Epochen zu wechseln, da geht man immer so ein bisschen zurück, bis man doch eine neue Form entwickelt. Das ist Djawahiry – man sagt: Wenn Al-Djawahiry spricht, dann spricht Irak. Also Djawahiry ist die Stimme des Iraks. Das Gedicht, das ich vertont habe, ist ein Beispiel:

(spricht arabische Verse)

Diese zwei Zeilen sind sehr bekannt, die kennt jedes Kind im Irak.

Schlaft, hungrige Völker, schlaft! / Seid von den Nahrungsgöttern bewacht! / Schlaft, und falls ihr vom Wachen nicht satt geworden, / Dann vom Schlafen. //

Schlaft, solange der Kriegsgott über den Frieden singt, / Schlaft über dem alten Stolz und einem Knochenhaufen! / Schlaft mit der Hoffnungsgischt, die mit Honig bedeckt ist, / Schlaft, – und währenddessen schreitet immer voran! (Mohammed Mahdi Al-Djawahiry)

OT 5

Ich weiß, was es bedeutet, wenn Völker schlafen, ich habe mit schlafenden Völkern schon gelebt, und Schlaf bedeutet hier eigentlich mehr: „Wacht auf!“ Wacht auf, ihr seid immer noch stolz auf eure damalige Zeit. Der Dichter ist sehr wütend, und deshalb macht er das Ganze lächerlich. Bleibt so, sagt er – das ist dieses Paradox. Weißt du? Ja, also besser finde ich nicht, also diese Wut und das Lächerliche und diese Wahrheit, es ist so realistisch was er sagt, die ganze Zeit! Das ist natürlich ein Gedicht, glaube ich, von 16, 17 Seiten, also es besteht nicht nur daraus, nicht nur aus dem, ich habe nur das vertont, es ist sehr lang, und es ist als Ganzes sehr berühmt.

OT 6

„Schlaft, solange der Kriegsgott über den Frieden singt, / Schlaft über dem alten Stolz und einem Knochenhaufen!“

Ja ein Riese, der die ganze Zeit unter Drogen ist. Unnütz, ich – also man kann nichts – das Problem ist … diese Art Mentalität! Trotzdem vermisse ich sie, ich liebe ja auch den Orient … und so … aber es gibt eine Art in dieser Mentalität… das ist so wie Krankheit, aber man will nicht wissen, dass man krank ist, und so wird man auch nie geheilt.

OT 7

Seit ich dort war, also das ist unsere Beschäftigung, und als ich an der Uni einmal ganz leise und ganz begrenzt gebeichtet habe, dass ich Atheist bin – von da an bin ich allein geblieben – zwei Jahre lang hatte ich keinen Freund. Natürlich, ich begegnete immer mal wieder einem Botschafter, der mich auf den leuchtenden Weg zurückführen wollte, und so. Das ist das Hauptproblem, dieses rassistische, oder sagen wir: den Anderen nicht zu akzeptieren, wie er ist! Das sind die Basisprobleme, die wir haben.

OT 8

Mahmoud Darwish ist einer der größten unter denen, die mit einer neuen Form von Gedichten angefangen haben, mit der richtig neuen Form des arabischen Gedichts. Und diese Generation von Mahmoud Darwich ist auch gestoppt worden vor 40, 50 Jahren, da gab es dann keine Entwicklung mehr. Er ist Palästinenser, er hat einen Riesenerfolg gehabt. Zum Beispiel: er stellt sich Bilder vor und beschreibt sie unglaublich, dieses Gedicht „Der letzte Gang“ – er meinte damit: an die Front! Und wenn man an der Front ist, wie fühlt man sich da? Die Front ist der letzte Gang, da gibt es nichts mehr, da stirbt man, es gibt nichts mehr danach. Er beschreibt genau diese Situation: wie soll es dort aussehen, wie fühlt man sich dort? Und das ist unglaublich.

OT 9

In der arabischen Welt, den arabischen Ländern, da gibt es eine bürgerliche, kultivierte Schicht, die ist sehr westlich geprägt, im Gegenteil, manchmal konkurrieren sie miteinander, wer sich am meisten in der westlichen Kultur auskennt, also wer z.B. über Neruda sprechen kann, der ist supergebildet, aber über Mahmoud Derwish sprechen, das ist ja üblich. So war ich, als ich hierher kam, also es steckt .. ein bisschen … Minderwertigkeitsgefühl drin. Ich bin jetzt in Europa, grade in Deutschland, Beethoven, Schönberg und das ganze, weißt du, und allmählich war eigentlich die erste Beschäftigung, ja, die erste … Sehnsucht war es, das zu entdecken. Ich bin jetzt drin, ich hab einen Schatten, ich hab einen Hauch davon bekommen, es ist sehr gut, ich will es entdecken. Das war meine erste Sehnsucht. Bis ichs entdeckt habe, und das ist die Wahrheit, die wirklich meinen Weg stabil gemacht hat, so wie ichs denke, mein Weg ist richtig und stabil, deshalb nehme ich ihn auch: weil die westliche Kultur oder europäische Kultur entwickelter ist. Es ist entwickelter, weil … das was fehlt ist – wie gesagt – Wissenschaft. Den andern zu akzeptieren und so, das ist hier Basis geworden, es ist eine Erfahrung geworden für diese Völker, die tausend Jahre alt jetzt, wenn wir es rechnen, um das zu kapieren, und dann haben sie sich angefangen zu entwickeln. WIR sind – und das sage ich sehr locker – zurückgeblieben, denn wir haben den Weg irgendwo … zum Stoppen gebracht … oder – ja, da kam Religion, dann waren wir besetzt von Mongolen, Osmanen, Engländern, und wir sind stehengeblieben. Aber das heißt nicht, dass wir und nicht entwickeln konnten – die Entwicklung, die passiert ist, ist in sich fixiert geblieben – und deswegen wir haben Talente in dem, was mehr als tausend Jahre alt ist, aber es hat sich nicht entwickelt, das System hat sich überhaupt nicht entwickelt, und die Talente, die da drin sind, – weil die Zeit läuft, es bleibt nicht so wie vor tausend Jahren -, die sind unglaublich groß geworden: eine Sängerin wie Oum Kalthoum, die findet keiner mehr. Nicht Maria Callas und nicht – , ich kenne beide, also Oum Kalthoum ist, wie gesagt, unglaublich. Der orientalische Stern, „Stern des Orients“, so wird sie genannt.

OT 10

Wir haben keine Komponisten, wir haben Spieler, und der Spieler ist nach vorne gekommen als Komponist, – nein, stimmt nicht: der Spieler kann nie komponieren wie ein Komponist, der Spieler hat andere Beschäftigung, andere Sorgen in seiner Arbeit, nicht die eines Komponisten. So: hier hat es sich entwickelt, bis es unmöglich geworden ist, und gerade habe ich entdeckt, passiert hier das, was bei uns passierte. Es entwickelt sich in sich, es entwickeln sich Talente, ich sehe auch und ich spüre, dass die Spieler eine große kompositorische Rolle übernehmen in viele Richtungen, wie konnte es klappen, schön zu sein, experimentelle Musik, und improvisierte Musik, usw. das sind alles Versuche, weil man mit der Entwicklung an einen Punkt gekommen ist, wo irgendwas passieren muss. Das, was passiert, all diese Richtungen, das ist für mich das Gesamte, diese Gesamtheit der Richtungen, das ist die neue Zeit. Also: wenn ich jetzt nur Geräusche mache, natürlich geht das nicht: weil diejenigen, die mit Geräuschen angefangen haben, taten es auch 50 Jahre vor mir, und sie dachten, das ist eine Richtung. Für mich, nach 50 Jahren, ich find das sehr interessant, dass diese Generation daran gedacht hat, woran also jemand lange vorher gedacht hat, und das war eine Öffnung, für eine neue Zeit.

OT 11

Pfeffer ist sehr lecker, mit Eiern und so; aber ich kann dir nicht so eine Mahlzeit mit Pfeffer geben, einen Teller voll Pfeffer. Aber Pfeffer macht das Essen sehr lecker. Und so ist für mich das Experimentelle. Man kann es benutzen, experimentelle Musik und auch Geräusche. Aber das Gesamte – mit der arabischen Musik, mit dem was ich habe, nicht mit dem Gefühl Minderwertigkeit, dass dies besser und das schlechter ist, was er also erreichen müsste … nein, das Gesamte von hier und von dort ist mein Konzept geworden, seitdem ich nach Deutschland kam.

OT 12

Ein Künstler muss loyal sein in irgendeiner Richtung. Weil: einen Weg zu nehmen ist eine Entscheidung, ist kein Zufall. Natürlich spielen die Umstände auch mit, die unbewussten Umstände usw. Aber letztendlich steht ein Komponist auf einem Punkt, für den er loyal einsteht. Ich denke, ich kann jetzt nicht mit meiner Arbeit an den Spannungsbogen denken, das was pur westlich ist, dieser Dramaturgieaufbau – wenn ich das machen will, mit welchem Material denn – mit dem, was ich habe, und das ist das arabische. Und wenn es nun im arabischen nicht drinsteckt: Wie mach ich das dann? Wie mach ich ein Spannungsbogen mit einem Material, das nie mit dem Prinzip Spannungsbogen zu tun hatte. In diesem Kampf werde ich nicht den Spannungsbogen zum Gewinner machen. Denn dieser Spannungsbogen funktioniert auch nicht ohne dieses Material. Und durch diesen Kampf, durch diese Sorge die ganze Zeit, durch diese Sorge entsteht eine neue Gestalt, die mit den beiden zu tun hat oder von beiden lebt, und hat doch mit ihnen nicht mehr zu tun.

Ich hab dir gestern erzählt – wie ein Kind – ein Kind ohne Mutter und Vater wird nicht da sein – aber es ist unabhängig – das Kind ist unabhängig. Und das Kind weiß das nicht, bis nach langer Zeit … aber letztendlich ist es eine neue Gestalt, die von den beiden weiterlebt und auch wenn die beiden nicht mehr existieren, weil irgendwann müssen sie auch nicht mehr existieren… Und das ist auch die ganze Geschichte – Völker, Zivilisationen, eins nach dem andern, das ist alles Dialektik – was ich mit „weit und breit“ meine.

OT 13

Die arabische Musik ist noch nicht bekannt im Westen, in Wirklichkeit. Ich finde, die arabische Musik hat zwei Quellen, nicht mehr. Eine ist die Qor’an-Rezitation, und die andere ist Kunst nach Beduinenart; daraus ist die Qor’an-Rezitation entstanden, das nennen wir Hadab. Mehr als diese zwei Quellen haben wir nicht. Wenn man die hört, dann versteht man, was ich meine mit „weit und breit“, in der Wüste. Wie auch der Gesang ist, das ist wirklich weit und breit (lacht). Und dass man das alles so komprimiert macht, in einem Spannungsbogen, Harmonien! Harmonien sind nicht die Begleitung, denn das gehört zum Spannungsbogen, nämlich die Dramaturgie, philosophisch behandelt, also die Harmonien: das ist meine Freude. Da lebe ich. Das ist es, was ich hier meine.

OT 14

Seit ich Kind war, wenn ich westliche Musik höre, es entspricht mir so, als ob das die Form ist, oder die Art von Musik, durch die ich sagen kann, was in mir ist. Aber mir fehlt es an Material! Am besten kenne ich mich aus mit arabischem Material, so wie mit der Sprache: ich spreche gerade deutsch, aber auf irakisch, oder ich spreche mit dir irakisch, aber auf deutsch. Also die Sprache, die ich jetzt mit dir benutze, ist genau wie die Musik, die ich mache. Also ich denke arabisch und das, was die arabische Musik der westlichen Musik geben kann – eine Art von Gedanken. Denn hier habe ich oft gemerkt, wenn ich mit westlichen Musikern arbeite, sie haben auch dieselben Regeln, die man auf der Bühne hört. Sehr flexibel ist das nicht, glaub ich, es ist sehr streng, auch in Improvisationen, und es ist sehr schwer, diese neue Art von Gedanken, die wir in Musik denken … und darüber hab ich auch gestern mit Marei [Seuthe]und Dietmar [Bonnen] gesprochen, dass wir es leider verpasst haben. – In diesem Stück, dass wir z.B. in der unteren Lage f benutzen, aber eine Oktav höher darf es dieses f nicht geben, da muss es ein fis geben. Und so weiter und so weiter…

OT 15

Wir haben keine Tonleiter. Wir haben sozusagen Geschlechter, Modus, Tetrachorde, – da sind 3 bis 5 folgende Töne, und die binden wir ineinander, und deshalb gibt es Regeln: wenn du z.B. dies Tetrachord mit diesem bindest, dann ist das eine logische Folge: jetzt kommt dieses Tetrachord – zufällig hier, in diesem Tetrachord, hast du e – f – g – b – h, dann bindest du ein neues Tetrachord mit dem h , dann gehst du h – c – es – e , dann nimmst du als Unterlage hier nicht ein f , sondern ein fis, das ist eine andere Art zu denken.

Und wenn ich mit dieser anderen Art – weil ich so denke – wenn ich am Klavier sitze – ich spiele auf diese Art für mich ist – es ist automatisch – dann fang ich an zu spielen – hier passt nicht mehr das Harmoniesystem, das westliche Kontrapunktsystem – oder es passt doch, sagen wir, mal zu 70 Prozent, teilweise, aber 30 bleiben leer. Und da kann die arabische Musik die westliche Musik weiterdenken, mit mehr Tönen, reicher, es ist eine Bereicherung. Denn ich fühle wirklich, dass es hier nicht zuende ist, aber: es braucht noch etwas Neues, neues Blut, irgendwas Neues, denn es hat sich unglaublich entwickelt, unglaublich, also wenn ich Schnittke höre zum Beispiel, oder auch die Alten, die mit neuer Musik angefangen haben, Béla Bartòk, Schostakowitsch, es ist unglaublich!

Das ist genau so wie mit Bach, danach musste irgendwas passieren, weil: wer entwickelt Bach weiter, wer? Es muss eine neue Entwicklung geben, die natürlich darauf basiert, es gibt nichts Neues in der Geschichte. Also das Wort „NEU“ – damit bin ich nicht einverstanden. Irgendwas muss hier passieren, und ich glaube, ich gehöre zu einer Generation, die wirklich versuchen, das Neue als Zusammenfassung des Gesamten zu erfassen – die Welt ist offen jetzt.

OT 16

Das erste, was mich an Beethoven – zu allererst hat er mich gefangen, ich war sein Gefangener bis jetzt, aber er ist nicht heilig, also er ist für mich kein Gott, sondern ein Aspekt. Ein unglaublicher Aspekt! Das erste ist … seine Seele – obwohl ich an die Seele nicht glaube, ich hab kein anderes Wort – seine Seele, die allen Zeiten entspricht, seine Zeit, die vorherige Zeit, alles in einem. Das zweite, was sehr sichtbar war, wo Beethoven mir alle Türen geöffnet hat, war das Motiv. Die Araber kennen Motivarbeit nicht, davon wissen wir nichts. Wir kennen Melodie, und die Melodie entsteht aus vielen Motiven, und das ist doch dermaßen viel Arbeit, wenn man mit einem kleinen Motiv das gleiche aufbaut, … die gleiche Spannung aufbaut wie in der westlichen Musik. Und das ist der Ursprung, von wo ich aus gegangen bin. Wo haben sich westliche und orientalische Musik getrennt? Wann hat die westliche Musik das Motiv entwickelt? Wann hat sie danach angefangen mit den zwei Stimmen, Palestrina und so weiter… Und dann fängt es mit der Harmonik an. Wir waren das gleiche, im Mittelalter oder bisschen vor dem Mittelalter, aber Beethoven zeigt mir, wie man das Motiv behandelt, die Variation, und so ich war in einem Meer von Freude… weil das war neu für mich, ich kenne das nicht…

OT 17

Kunst vom Prinzip her, egal was wir sagen, egal was – ist wie eine Spiegelung der Gesellschaft. Wir können soviel darüber sprechen, es so kompliziert machen, aber letztendlich ist Kunst das, was die Gesellschaft ist. Unsere arabische Gesellschaft glaubt nicht an die Mehrstimmigkeit, weder im Bereich Gesang, noch im Bereich Politik, im Bereich Haushalt, im Bereich Arbeit, wir sind immer noch einstimmig. Diktator! Zu Hause ist der Vater die einzige Stimme, die man hören muss. Der Vater braucht niemand, der mit ihm den Haushalt führt; er entscheidet, ob seine Tochter zur Schule geht oder nicht, die Frau hört zu und horcht. Wie kommt dann die Mehrstimmigkeit in den Gesang? Und wir sehen jetzt die Diktaturen: eine folgt nach der anderen, und es kommen neue Diktatoren – aber woher kommt die Mehrstimmigkeit? Wir glauben nicht daran – man muss an eine Sache glauben – das Gegenteil passiert: manchmal, wenn ein Lied läuft und irgendein Mensch singt leise mit sich, mit dem Lied, – man wird genervt. Lass uns hören, diese einstimmige Melodie, lass uns hören, das braucht Zeit, dass die Leute das verstehen. Es ist nicht Harmonie, also c-e-g, nein, es ist ein Prinzip. Wenn es irgendeine Sache gibt, die mit meiner Tochter zu tun hat, dann sitze ich mit meiner Tochter und spreche mit ihr und versuche sie zu überzeugen, denn sie hat auch ihre eigene Logik, die vielleicht mit meiner Logik nicht unbedingt zusammenpasst, und wir versuchen einen Mittelweg zu finden, dass wir beide glücklich damit sind. Das gibt es nicht bei uns. Und deshalb bleibt alles einstimmig.

OT 18

Konzerte sind … die Auflösung von dem Ganzen, ich freue mich so sehr, weil danach… (lacht) das war’s – also ich finde vor dem Konzert, die ganze Arbeitszeit, das ist viel angespannter, härter. Das ist viel härter als dieser letzte Arbeitsprozess, das Konzert ist letztendlich die Freude,wir sind ja einfach da und dann fang ich an, mich nicht mehr zu kümmern, ob wir das richtig spielen, wir werden spielen, mit Freude sitze ich dann auf der Bühne und habe das ganze Publikum und tolle Musiker, die auch eine große Möglichkeit haben, sich auszudrücken und das zu sagen, was sie auch sagen wollen, durch viele Stellen. Ja, ich freue mich, dass ich den Leuten endlich sagen kann, was ich immer sagen wollte. Nach harter Arbeit, jetzt sitze ich da und die Menschen sind gekommen um zu hören, was ich ihnen alles sagen wollte. Und deshalb bin ich immer glücklich bei Konzerten.

OT 19

Es gibt keine Chance mehr für solche Art Projekte und Kunst, Irak ist gerade mit was absolut anderem beschäftigt, also die Musik, also die Kunst, die in solchen Ländern jetzt kommen wird, hat nichts mehr gedanklich hinter sich, sondern ist nur noch Reaktion, auch die ernste Seite, also es geht jetzt nicht um Pop oder so, ich weiß nicht, wie ich das jetzt bezeichnen soll. Also auch die, die wirklich etwas sagen wollen, nicht nur Geld verdienen wollen, lieber Ernst und nicht Pop, die wirklich Kunst machen: auch die sind mehr mit Reaktionen erfüllt als dass sie wirklich frei denken. Und dann kommt das auch extrem unentsprechend, das spricht zu niemandem, und ich glaube, gerade solche Art Kunst, wie ich sie hier mache, ist in Ländern wie Irak unmöglich.

OT 20

In einem kranken Körper gibt es einen Virus, und alles was jetzt greift, ist befallen – wie gesagt, ich kann es mir nur vorstellen, ich sehe mehr Nachrichten als die ganze Runde hier, was Irak betrifft und überhaupt, Syrien, Ägypten und das ganze. Es ist jetzt wirklich schwer vorstellbar, dass wir mit Kunst dort überhaupt, dass wir überhaupt darüber sprechen können. Kunst spielt jetzt eine Rolle dort – nicht mehr als nur Konsum, ganz kleine Nebenbei-Ware, die zu konsumieren ist. Es ist nicht mehr Kunst und Gedanke und so, die Leute sind absolut woanders. Ein Künstler damals, der jetzt das macht, was wir machen, hatte wohl eine bürgerlich kultivierte Schicht, die ihn unterstützte, zwar nicht finanziell, aber schon durch Respekt: Man fühlt sich gut, man macht weiter, also: man ist nicht enttäuscht, aber jetzt gibt es überhaupt keine Möglichkeit für sowas, überhaupt keine, denn die Leute, die das vielleicht unterstützen, sind alle weg, in der ganze Welt, und das finde ich normal, weil das Schiff ja sinkt, ertrinkt, und dann ist einzige Möglichkeit zu springen, egal wie, und die Leute, die da noch bleiben, ich glaube, Kunst bedeutet für sie nicht dasselbe. Deren Kunst begrenzt sich auf Religion.

OT 21

Ab den 70er Jahren kamen Jazz-Gruppen nach Irak, und die haben anschließend in Night-Clubs gespielt, also nicht in Konzerthäusern, in Night-Clubs, berühmten Kneipen, Jazzband, und da haben die Iraker Jazz kennengelernt, und dann war es auch gar nicht so herzlich willkommen, sie haben das damals als die chaotische Musik bezeichnet, sogar bis jetzt, wenn ich Filme aus der Zeit sehe, sie bezeichnen Chaos als „so chaotisch wie Jazz-Musik“. Es war für sie Chaos. Und was war für mich Jazz, als ich noch im Irak war? Ich wollte Jazz kennenlernen, hab also Jazz gehört, aber was war das für Jazz? Ich bekam Louis Armstrong, so eine Kassette von mein Vater, er meinte, das ist Jazz, und ich kam nach Deutschland und dachte, das ist Jazz, aber Louis Armstrong … es gab schon was anderes, ja, und dann hab ich den Jazz hier entdeckt.

OT 22

Hassem Kaniou aus Syrien, Bassem Hawar aus Irak, Harid William auch aus dem Irak, es gibt so zwei, drei Ägypter, also schon viele. Es kommen nicht nur Flüchtlinge aus der arabischen Welt, es kommen auch sehr viel Studierende. Viele, die studieren, wollen was machen, wollen was ändern, es ist gut, ist nicht schlimm, das haben wir schon als eine Wahrheit oder als eine Selbstverständlichkeit genommen, dass hier die Musik, nicht nur die , auch die Politik, alles, … also es entwickelt sich alles zusammen. Der Westen hat schon ein Niveau geschafft, was eine zivilisierte Kunst und so was wir noch nicht geschafft haben, nicht im Sinne von schaffen, nicht schaffen, Entschuldigung, aber es ist so gelaufen, die Umstände, historische Umstände, und wir wissen, dass wir vom Westen, von Europa, unser Material viel mehr bereichern können und viel mehr damit machen, viel mehr die Welt damit erreichen. Ich meine jetzt nicht nur durch Kontakte und Freunde, sondern die Welt erreichen durch Niveau, durch die Art zu musizieren, das wissen wir alle, und deshalb kommen so viele. Und ich kenne auch viele, ich kann jetzt nicht die alle nennen, weil … 50, 60 Leute.

Quelle Saad Thamir ©Tonaufnahme (Interview): Wolfgang Hamm (WDR 17.11.2015 – Text leicht überarbeitet JR & WH 23.12.2016)

saad-thamir-foto (Foto: Bassem Hawar)