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Das Ideal der Maschine

Ich will niemandem etwas verkaufen. Und wenn Sie die im folgenden Beispiel angegebene Web-Adresse anklicken, tun Sie es auf eigene Initiative. Ich wähle dieses Video nur, weil man hier ein etüdenartiges Stück hört, das man in Noten mitverfolgen kann und dessen Wiedergabe nicht den geringsten Versuch einer Beseelung erkennen lässt. Spielt nicht sogar ein Automat? Trotzdem ist natürlich zu erkennen, dass es eine gute Komposition ist.

Auch die Abwesenheit jeglichen Gefühls im romantischen Sinne schließt ein ästhetisches Erlebnis nicht aus. (Ich erinnere an Strawinskys Äußerung über Czerny. Siehe hier.)

Wie schon angedeutet: ich empfehle durchaus nicht, aus solchen Noten Meisterwerke zu erarbeiten. Dafür gibt es Urtext-Ausgaben, ergänzt durch Fingersätze, historische Einordnung und Kommentare zum Gebrauch des Pedals oder zur Ausführung der Ornamente. Trotzdem ist die Reduktion der Informationen auf einen einzigen (rein technischen oder mechanischen) Zweck nicht ohne Erkenntniswert. Was es mit dem „Solfeggietto“ des Bach-Sohnes  auf sich hat, erfährt man leicht, wenn man dieses Wort mit dem Zusatz „Wiki“ googelt. Warum nicht?

Aber ein Vergnügen besonderer Art ist es, wenn man erlebt, wie sich das Stück in bloß mechanischer Vervielfältigung ausnimmt. Wobei man nicht fehlgeht zu vermuten, dass dieser Pianist das Werk in der Urfassung auch mit seinen 10 Fingern interpretieren kann und ebenfalls in einem atemberaubenden Tempo. Empfehlenswert wäre darüber hinaus, sich ein wenig über den Komponisten Conlon Nancarrow informieren.  Und über den fabelhaften Pianisten Marc-André Hamelin.

Aber hören und sehen Sie nur genau hin. Was geschieht hier nun wirklich?

Mehr davon? Siehe auch den Link zu Pop. Und die Übersicht bei Jürgen Hocker HIER. Und zur Bedeutung von Jürgen Hocker HIER (Denhoff-Nachruf).

„… they all used the superhuman possibilities of the Player Piano…“ (Jürgen Hocker)

Nachtrag 27. Mai 2015

Inzwischen ist die CD, die ich natürlich „physisch“ besitzen musste, bei mir eingetroffen. Was für ein Glück!  Player Piano 6 Original Compositions in the Tradition of Nancarrow. Musikproduktion Dabringhaus und Grimm. MDG 645 1406-2.

MDG Hocker- Hamelin-CD Cover

„Conception, Instruments and Piano Rolls by Jürgen Hocker“. Ebenso die Texte und die Fotos (Dr. Jürgen Hocker & Beatrix Hocker). Im Zusammenhang mit dem oben behandelten Solfeggietto nach C.P.E. Bach ist vor allem die Auflösung spannend: wie die Fassung von Marc-André Hamelin nun wirklich gearbeitet ist, sofern wir es wenigstens einigermaßen mit dem Ohr nachvollziehen wollen. Eine Überraschung!!! Hier ist seine eigene Beschreibung (in der Übersetzung von Beatrix Hocker):

(…) im Fall des Solfeggiettos, bei dem sich fünf Stimmen allmählich akkumulieren, ist es die Wahrnehmung der Entwicklung und Verwandlung, die meiner Meinung nach das Stück besonders interessant macht. Für mich war es besonders faszinierend zu sehen, welche Wirkung die fünfte (oberste) Stimme auf die gesamte Struktur hat, wenn sie endlich einsetzt; gerade diese Passage macht auf ideale Weise deutlich, dass – wenn die Grundharmonien stark genug sind – die Musik selbst dann tonal klingt, wenn das vorherrschende Element (in diesem Fall die oberste Stimme) vollständig atonal ist. Ich darf noch hinzufügen, dass jeder einzelne Kontrapunkt in diesem Stück durchkomponiert ist, ohne sich auf Muster oder irgendwelche Wiederholungen von Bausteinen zu stützen.

Ich gestehe: ein bisschen beschämt bin ich doch, wie schlecht ich all dies bisher mit dem Ohr erfasst habe; auch die von mir oben gegebenen Hinweise sind defizitär (um es vornehm auszudrücken). Es handelt sich also keineswegs um eine Addition des Immergleichen in verschiedenen Oktaven (wobei ich die höchst kompakte Wirkung der Additionen der etwas „verschobenen“ Klavierstimmung anzulasten bereit war. Ich sollte noch einmal von vorne beginnen. Den Einsatz der 5. Stimme merke ich mir vor: bei 3:08.

Was der Produzent Werner Dabringhaus (MDG) über seine Sicht des „modernen“ Player Pianos schreibt, sollte als Einführung in den Sinn dieser CD-Geschichte allgemein zugänglich und vor allem: besser lesbar sein, daher lasse ich es hier kurzerhand in vergrößerter Form folgen:

CDMDG Dabringhaus Prolog Player Piano bitte anklicken!