Ein paar Häuser weiter
… und während ich zu Hause sitze und mich mit „Figaros Hochzeit“ beschäftige, weil nun mal diese Inszenierung aus Aix-en-Provence im Internet greifbar ist (und auch aus anderen Gründen, die den Zeitraum von 1954 bis 2004 umfassen), regnet es draußen mit einer senkrechten Wucht, wie es noch nie geregnet hat, und es hört erst nach 24 Stunden auf. Ich sehe wieder und wieder die Nachrichten und sage mir: das passiert da draußen und du beschäftigst dich mit Mozart. Wie soll ich das gegenüber anderen Menschen begründen? Und ich sage: die Verbindung ist doch stets gegenwärtig, nicht erst seit gestern, und meine Panik hilft niemandem, nicht einmal mir selbst. Ich gehe auch nicht spazieren, nur die 100 Schritte bis dorthin, wo ich die Brücke über den Viehbach sehe, sonst Anfang unseres Spazierweges. Soll ich lieber lesen? Mich auf innere Exkursionen einlassen? Die Musik ist immer da. Ob ich gehe, stehe oder sitze. Auch wenn ich aufwache, höre ich, was ich gestern geübt habe.
Der Morgen danach, am Frühstückstisch, Solinger Tageblatt, 16.07.2021:
Ich weiß, dass viele ernstzunehmende Menschen sich heute abgestoßen fühlen von klassisch ausgebildeten Gesangsstimmen, insbesondere im Zusammenhang mit der Kunstwelt der Oper. Und auch ich würde unter den stärksten Eindrücken stimmlichen Ausdrucks vielleicht an erster Stelle solche aus der Volksmusik Bulgariens, Rumäniens oder aus der Dastgah-Tradition des Iran hervorheben. Weshalb mich aber klassische westliche Stimmen schon immer interessierten und anrührten, vielleicht ganz besonders, wenn sie mit wenig Vibrato geführt sind (seit Maria Staders Puccini-LP 1956), muss ich begründen. Es war die Zeit, als mein Vater über Louis Armstrong schimpfte, dessen Stimme meinen Bruder und mich mit leisem Befremden, aber nachhaltig beeindruckte. (So also kann man auch singen! Es wäre allzuleicht und datiert 20 Jahre später, wenn man Freddie Mercury als Argument gebraucht, da gab es auch schon die Erfahrung „Alfred Deller“.)
Es mag Herbst 1954 gewesen sein, als diese Sängerin in unser Haus kam und mit meinem Vater für einen Bielefelder Liederabend probte: Ilse Siekbach, geb. Siekmann (ehemals verheiratet mit einem Komponisten namens Griesbach, daher der Künstlername). Seitdem kenne ich Mozarts „Voi che sapete“ – damals fand ich Mozart irgendwie betörend, aber auch etwas simpel („Sagt, holde Frauen, die ihr sie kennt, sagt, ist es Liebe, was hier so brennt“), ganz anders etwa die „Mainacht“ von Brahms, wenn „die einsame Träne rinnt“, nachher sogar „bebt“, ja, und wir bebten mit ihr und der Sängerin. Wir: meine Mutter und ich. Es gab viel privates Gefühl: Die Schwester der Sängerin, Christa Siekmann, beste Schulfreundin meiner Mutter, war vor kurzem an Lungenkrebs gestorben. Im Bielefelder Stadttheater wurde Mozarts „Don Giovanni“ gegeben, meine Eltern besuchten die Aufführung, und ich bat sie dringend, mir ein Textheft mitzubringen. Ich kannte die große Don Giovanni-Partitur meines Vaters, bei einer Radiosendung hatte ich daraus schon heimlich in der Küche mitdirigiert. Zerlina ging mir nah: „Ich weiß ein Mittel, das Schmerzen heilet“, was mich durchaus mit Unruhe erfüllte. Meine Eltern kamen ohne Textheft zurück, weil sie glaubten, das „sei noch nichts für mich“. In der Tat, Mozart, ein „Bruder Leichtfuß“, der pubertierende Kinder verderben kann. Ich liebte Schumann, vor allem sein Lied vom Nussbaum und das Klavierstück „Chopin“, ich kannte die Geschichte von Clara und Robert, wollte den Opuszahlen folgend eine Reihe von „lebensnahen“ Werkbeschreibungen verfassen. Die Klaviersachen und Lieder fand ich alle im Notenschrank meines Vaters, aber die umfangreiche Schumann-Biographie, die ich im Schaufenster bei Hofmeister entdeckte, antiquarisch, nicht teuer, blieb mir verwehrt mit dem dunklen Hinweis, das Leben des Komponisten sei ja in geistiger Umnachtung geendet. Ein merkwürdiger Verblendungszusammenhang allenthalben. Die Bebilderung des Wagnerschen Rings im Victrola-Opera-Book (Care-Paket aus Amerika) deutete ich vorwiegend als stark erotische Machtgeschichte. Sieglinde! Brünhilde!
In Bielefeld sang sie die Sopranpartie in der „Cantata“ von Strawinsky, ein eher befremdendes Werk. Unvergesslich darin die Zeile einer Nonne, die sich auf ihr lockendes Bett bezog. Von Jesus-Minne hatte ich noch nie gehört. Es gab sowoeso allerhand inneren Aufruhr. Nur nicht im Weltbild meiner Eltern. Mein Vater sprach von der Pflicht (gewiss anders als Richard David Precht heute), meine Mutter von der Naturheilkunde. Das einzige, was ich aus der Cantata behielt, war das Bläsermotiv, das ich als Klingelzeichen anwandte, wenn ich nach Hause kam. Für mich ein Signal der Freude. Ein Vogelruf. Frühling!
Und die verehrte Sängerin, die mir beiläufig von der Marschallin aus dem „Rosenkavalier“ erzählte, wovon ich nicht viel verstand, gab mir freiwillig Unterricht, im Freien, oben im Wald nahe dem Tierpark Olderdissen, „Sieben Hügel“ hieß das, wenn ich mich nicht irre: für den Anfang ausschließlich Atemübungen, mit berufsbedingten Berührungen, es war mir außerordentlich peinlich. Sie hat es wohl nur gut gemeint. Manchmal kamen Leute vorbei, vielleicht machten sie sich einen Reim draus, weder falsch noch richtig. Unangenehm.
Die Schumann-Biographie stammte übrigens von Wolfgang Boetticher. Hätte mir mein Vater doch lieber über ihn Näheres oder gar Politisches erzählt, statt meine Mutter über Schumanns Ende. Oder beide über den dämlichen Liebes-Roman, den ich unbeschadet lesen durfte: unter dem Titel „Frühlingssinfonie“ ging es darin um die Liebe zwischen Robert und Clara, – Autor war der politisch belastete Musikwissenschaftler Hans Joachim Moser, den mein Vater aus Berlin gut kannte. Ausgespart wurde zuhaus nicht nur jede ernsthaft triebbezogene Thematik, sondern auch alles, was noch an Krieg und Nazizeit erinnerte. Es ging ja wieder aufwärts, im langen Lauf der Fünfziger Jahre, – abgesehen davon, dass mein Vater nach drei quälenden Operationen am Ende starb (1959), während ich glaubte, das wahre Leben fange bald in Berlin an, soweit weg wie möglich. Also keinesfalls in Detmold, wo ich nach seinem Tod Klavierunterricht hatte.
P.S. Nicht zu vergessen:
Die „Aktion Deutschland Hilft“ nimmt als Bündnis deutscher Hilfsorganisationen Spenden entgegen:
Stichwort „Hochwasser Deutschland“, IBAN DE62 3702 0500 0000 1020 30 (Bank für Sozialwirtschaft)