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Ermutigung mit Bach

Fuge B-dur BWV 890 

 Unabweisbare Erinnerung (Texel)

So geht es mir – in seltenen Fällen – sogar mit Bach: manche Stücke muss ich mir schön üben, bereits mit dem Praeludium ging es mir so, inzwischen ist es mir unentbehrlich (mit allen Wiederholungen). Den eigentlichen Übe-Vorgang habe ich auf einem neuen Niveau abgeschlossen (24. Mai 2018, angefangen 9. April), nicht ohne Absicht genau an dem gleichen Tag wie vor 30 Jahren, dem 24. Mail 1988. Es muss jetzt das dritte Mal gewesen sein (ich erwähnte schon ein ungeliebtes Referat bei Fellerer, das in den 60er Jahren stattgefunden haben muss). Damals war es eine Pflichtarbeit, die ohne Spuren blieb, jetzt ist die Sorgfalt bis in die Fingerspitzen gewandert. Die Fuge habe ich erst recht nicht gemocht, und auch jetzt war es ein schwerer Angang: dieses Leichtgewicht nach dem außergewöhnlichen Vorspiel (ca. 8 Minuten plus 3 Minuten). Die Thematik und die Kontrapunktik gefielen mir nicht. Die einzigen Stellen, an denen ich aufhorchte, waren die Abschlüsse Takt 29-32 und 90-93, sie erinnerten mich an etwas Ähnliches, von dem ich nicht sagen konnte, wo es bei Bach zu finden ist (in einer Passion? im Weihnachtsoratorium?). Und jetzt ging es mir mit dem Schein-Cantus-firmus inmitten der Fuge ähnlich, dem neuen Kontrapunkt, vier Basstöne ab Takt 33, – im Folgenden rot markiert -, ich hörte es irgendwie als „Sanctus“ und begann die ganze Fuge inniger oder sagen wir: intensiver zu interpretieren, weniger so leichthin, wie sie mir ursprünglich gemeint schien. Irgendeine melodische Erinnerung war mir in den Sinn gekommen, die mich zwang, den „Cantus firmus“ als solchen zu empfinden, nicht mehr als ein Motiv, und ganz besonders, wenn er sich nur andeutungsweise meldet – wie in Takt 56f – oder auch gerade sehr extensiv – wie in den 7 Takten ab Takt 80:

Plötzlich konnte ich die Erinnerung dingfest machen (aber nur die mit dem „Sanctus“), vielleicht meine Privatsache: Beethoven, sein Ausdruck (die Abwesenheit des „Ausdrucks“), der sich nun auf dem unbescholtenen Bach-Motiv niederlässt, wie ein fahles Menetekel: SANCTUS.

 Missa solemnis

Die Assoziation bedeutet wissenschaftlich nichts, bewirkt nur, dass ich die Fuge mit Liebe langsamer, bedeutsamer spiele.

Nun aber der Kampf um Einzelheiten! Zu den kleiner gedruckten Lesarten (nachlesbar bei Alfred Dürr 1998 über die verschiedenen Ausgaben bzw. Handschriften Seite 445f):

Ich wiederhole hier nicht, was schon bei Dürr oder Keller steht. Die Besonderheit, ein Thema mit dem Nachbarton des Grundtones zu beginnen, mit einer Umspielung, und ein Gerüst von zwei absteigenden Dreiklängen zu denken; ich will nur benennen, was es für mich (in aller Vorsicht) bedeutet: eine huldvolle, gnadenbringende Geste von oben nach unten, vielleicht eine Spur „zu“ weichlich, verglichen etwa mit den Sextparallelen in der Solosonate BWV 1001 g-moll, 1. und 3. Satz. Ihr antwortet ab Takt 3 eine mit Erdenschwere behaftete Gegenbewegung, eine aufsteigende Sequenz, die wiederum in sich durch Seufzer-Ketten abgebremst ist. Die Beantwortung des Themas im Sopran wirkt weniger wie ein Comes, also ein souveräner Themeneinsatz,  sondern eher wie ein Rückgriff auf Takt 2 des Kopfthemas (Dux). Deshalb neige ich – ausgleichend –  zu der Ossia-Version der Unterstimme, also zur Viertelbewegung, die den Achteln der Oberstimme Widerpart bietet, statt in Achtel-Parallelen mitzulaufen. (Siehe unten Londoner Handschrift. Ich weiß: Bach hat letztlich aber wohl anders entschieden.) In der Achtelbewegung stören mich ein wenig auch die leeren Intervalle (rot eingekreist) auf der jeweils dritten Zählzeit, die Quinte in Takt 5, die Oktave in Takt 6. Die Viertelbewegung dagegen realisiert einen durchgehenden Zug bis zum Ton F  und macht die Wiederkehr der Viertel in Takt 10 (sowie 12 und 13) plausibel. Was die Seufzerkette angeht, besteht eine Gefahr, dass sie zu lang wird, und dem zu begegnen scheint mir genau der Grund für die Variante in Takt 19. Es wäre der 5. Takt in Folge mit Seufzerkette gewesen (ab Takt 15), daher ersetzt Bach sie durch eine Variante des Motivs aus Takt 12, dem zwei Takte weiter das aufsteigende Motiv korrespondiert (ebenso wie in Takt 14 dem in Takt 12), wobei gleichzeitig im Bass das Hauptthema einsetzt. Es ist das letzte vollständige Themenzitat im ersten Teil dieser Fuge, denn die Themenzitate in Takt 25 und 27 sind unvollständig, sie münden allerdings in eine harmonische Ausweichung (Takt 29), die mit der Fortsetzung des Themas (der Seufzerkette) spielt. Diese Ausweichung führt zu einer verstärkten Abschlusskadenz, die der Ausweichung plus Kadenz am Ende der ganzen Fuge vollständig gleicht. Trotzdem würde es in die Irre führen, daraufhin eine klare Zweiteiligkeit der ganzen Fuge zu unterstellen: 1. Teil erweiterter Kadenzabschluss Takt 32, letzter erweiterter Kadenzabschluss Takt 93! Die Frage nach der großen Form ist also nicht so einfach zu beantworten…

Ich erwähnte, dass mich diese harmonische Ausweichung vor der Kadenz an irgendein anderes Bach-Werk erinnert; so etwas kann einen tagelang beunruhigen, obwohl es keine zentrale Frage ist. Hiermit befreie ich mich, ohne mir der Lösung sicher zu sein: Weihnachtsoratorium, Teil VI „Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben“, ab Takt 42 :

Letztlich gibt aber die wirkungsvolle Verzögerung der Kadenz durch das Einschalten des verminderten Septakkordes zu wenig Grund, die Stellen miteinander zu vergleichen…

Die schwierigste Frage stellt sich wohl, wenn es um die Gesamtform geht, und ich kann Alfred Dürr, der dieses Problem klar darlegt, bei seiner Entscheidung keineswegs recht geben (die Seitenangaben lasse ich in den folgenden Verweisen weg):

Vom Beginn der II. Durchführung in Takt 32 an gehen die Analysen der verschiedenen Kommentare auseinander. Genannt seien Riemann, der einen III. Teil mit Takt 69 beginnen läßt, Busoni, der einen (nicht gezählten) Abschnitt von Takt 78 an rechnet, Czaczkes, der Teil III (als letzten Teil) mit Takt 54 einsetzen läßt, und Keller, der (…) keine Unterteilung der Takte 32-93 nennt.

Und Dürr selbst kommt dann zu folgender Lösung:

Für Dürr hat also die Tonartenfolge Vorrang, was plausibel scheint, andererseits ist der gedachte Einschnitt in Takt 47 ganz inakzeptabel, weil er von Bach sorgfältig vermieden ist, und nicht nur das: er wird sehr deutlich nachgeliefert, – aber sozusagen an „falscher“ Stelle: Takt 49, mitten im Thema. Ich behaupte daraufhin, man sollte ihn erst in Takt 54 als Es-dur-Station anerkennen, – und damit auch meinem geliebten Cantus firmus Ehre erweisen, der in Takt 56 in aller Pracht aufleuchtet. Ich gebe einen Teil der zweiten Seite meiner Übe-Noten wieder. Es geht wirklich um äußerste Genauigkeit, – und ich frohlocke nicht, dass wieder einmal Czaczkes obsiegt, möchte aber betonen, dass ich ohne ihn zu meinem Ergebnis gekommen bin, durch eigenes Nachdenken. Jawohl!

Es wäre falsch, den Ansatz einer neuen Durchführung in Takt 47 anzusetzen, da Bach alles tut, einen Abschluss oder einen Neubeginn nicht zu markieren: Auf der Zählzeit 1 haben wir den Vorhalt auf A, auf der Zählzeit 2 löst er sich nicht auf (sonst könnte man zur Annahme einer Zäsur tendieren, weil der G-Moll-Dreiklang hier ja vervollständigt wird), die Sopranstimme springt allerdings zum hohen D und löst das Versprechen der Auflösung erst auf der Zählzeit 1 des nächsten Taktes ein, und hier ist das Thema im Bass bereits im Gang, eine Zäsur wäre widersinnig. Dieses Themenzitat gehört also noch zur zweiten Durchführung, auch die überraschend starke Kadenz, die folgt, dient nicht etwa dazu, die zweite Hälfte des Thema (Seufzerkette) hervorzuheben, sondern den Einsatz des „Cantus firmus“ im Sopran! Dieser war ja ein Hauptereignis der zweiten Durchführung (siehe Takt 33 Bass, Takt 41 Alt und eben jetzt – um einen Ton verkürzt – Takt 49 Sopran). Er besteht an dieser Stelle aus den drei Tönen G – A – D. Danach folgt eine unmissverständlich auskomponierte Kadenz (Takt 51, 52 und 53 bis zum dritten Achtel = Es-dur). Genau an dieser Stelle – gut verklammert – beginnt auch die dritte Durchführung mit dem Thema, auf dem zweiten Achtel des Taktes 53. Verbunden mit der neuen dreitönigen Gestalt des Cantus firmus im Sopran! Und 6 Takte später wieder in erweiterter Form (Takt 64-67) im Bass, und ab Takt 80 in doppelt erweiterter Form noch einmal im Bass: Könnte eine Steigerung zwingender gestaltet werden!?

Czaczkes begründet die formale Abgrenzung anders, sagen wir: sparsamer, aber mit demselben Ergebnis:

Mit dem Niederstreich des Taktes 54 (die Auflösung des f‘ im Alt erfolgt mit es‘ auf dem 3. Achtel) endet die II. Durchführung. Zu dieser Feststellung trägt keineswegs mit Sicherheit die Kadenz der Takte 52, 53 bei, die jener nicht definitiven Kadenz Takt 18 gleicht und daher ein zu unbestimmtes Faktum ist. Entscheidend für die Formbestimmung – abgesehen vom inneren Aufbau – ist in diesem Fall die Stimmfolge. Diese gestattet nicht die Einverleibung des folgenden Altthemaeinsatzes (T. 54-57) in die II. Durchführung, da die 2 Sopranthemaeinsätze, die noch verbleiben würden, zur Bildung einer Durchführung nicht genügen.

Quellen 

Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach / Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel New York etc. 1998 (Seite 410 ff)

Ludwig Czaczkes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers / Form und Aufbau der Fuge bei Bach / Band II / Österreichischer Bundesverlag Wien 2. Auflage 1982 (Zitat S. 284)

Dürr ist unentbehrlich, Czaczkes viel trockener, oft mit Tendenz zur Rechthaberei, bemerkenswert jedoch: in Fragen der Fuge hat er immer recht…

Sehr lesenswert (und mit Czaczkes Aufteilung übereinstimmend) die Analyse von Siglind Bruhn, einer Pianistin, die auch gute interpretatorische Hinweise gibt. Ihr höchst empfehlenswertes Buch (Edition Gorz) über das ganze Wohltemperierte Klavier ist auch online abrufbar. Der direkte Weg zu BWV 890 wäre hier(Dieser Link funktioniert nicht mehr!)

Das ganze Werk hören (Fuge ab 8:16), unten – oder im externen Fenster HIER

Für mich ist innerhalb dieser Fuge die Wirkung des Contrapunctus, den ich in Ermangelung eines treffenderen Wortes „Cantus firmus“ genannt habe, ein entscheidender Faktor. Es würde mich nicht wundern, wenn es sich um eine Choralzeile handeln würde, deren Text uns etwas sagen will.

Warum ist es überhaupt notwendig, zu einer verbindlichen Formübersicht zu kommen? Ein besserer Überblick? Geht es uns um den hochmütigen Blick von oben? Im Gegenteil, nichts daran ist hochmütig. Es ist nur ein kleine Ermutigung zu erforschen, wo man sich befindet.

Statt einer wirklichen Antwort schließe ich mit einem weiteren Foto aus dem Kiefernwald von Texel:

2. Juni 2018 Letzter Nachklang dieses Themas siehe hier („Kulmination“).