Archiv der Kategorie: Religion

Haben die Tiere auch Weihnachten?

Man könnte meinen, sie stimmen uns soviel menschlicher als die ärmsten Menschen, und verlocken uns zu weihnachtlich-weichen Zugeständnissen, die wir später dem Realismus zuliebe leicht ad acta legen können. Ochs und Esel gehören zu Stall und Krippe, und nachher muss alles wieder sorgfältig verpackt werden, bis nächstes Jahr zur selben Zeit, alle Jahre wieder. Aber wieviel Zeit habe ich schon in der Kindheit vertan, mit diesen Phantasien der großen Versöhnung, der ewigen Freundschaft zwischen Mensch und Tier, obwohl ich im Grunde mehr von der Wildheit fasziniert war, von der Möglichkeit, dass die vorübergehend domestizierte Gewalt des Löwen oder des Wolfs jederzeit wieder hervorbrechen konnte, denn dies musste der eigentliche Grund für die Dauer-Begleitung durch den Engel, der ich gern gewesen wäre. Man traute dem Frieden nicht. Und deshalb musste ich soviel über das Bild nachdenken, das über dem Bett meiner Großeltern hing, mit der Bildunterschrift: „Friede“. Der Engel, der Palmzweig, das farbige Bild genügten nicht, das Wort musste drunterstehen, damit man die Botschaft glaubt. (Mein blasser Internet-Abzug versagt uns sowohl Farbe wie Wort. Ich gebe jedoch den Namen des Malers und den Link zur Recherche: William Strutt.)

William_Strutt_Peace_1896

Tiere ZEIT

Tiere Titelbild natur

Die Wissenschaft vom wahren Wesen des Tieres ist nicht neu. Das folgende Buch erschien vor 10 Jahren, das weiter unten abgebildete vor mehr als 20 Jahren.

Geist der Tiere 2005

Bewusstsein der Tiere 1994

Gestern noch (22.12.) hätte dieser Beitrag ernst ausgehen können, heute lag die Süddeutsche auf dem Tisch und stimmte mich um, wie so oft mit der Rubrik „Das Streiflicht“. Endlich weiß ich wieder, woher das Bildmotiv eines animalischen Weltfriedens kommt, nicht aus der Offenbarung, sondern aus dem Buch Jesaja.

Auch für die Geistlichen wird’s nun allmählich eng. Wer jetzt noch keine Weihnachtspredigt hat, wird wachen, lesen, lange Briefe… – nein, er wird hauptsächlich lesen, und zwar zweckmäßigerweise in der Heiligen Schrift, die auszudeuten sein Beruf ist. Wo stehen die ergiebigsten Stellen? Bei Jesaja, keine Frage, und wenn unser Mann dort ins elfte Kapitel hineinschaut, wird er auf die Vision stoßen, wonach eines gesegneten Tages die Wölfe bei den Lämmern wohnen und der Pardel [siehe Abbildung ganz oben: rechts, etwas zurück] bei den Böcken [nicht im Bild] liegt, nicht zu reden davon, dass dann die Löwen Stroh essen wie die Ochsen. Von der Sache mit den Löwen wird der Prediger die Finger lassen, erstens, weil er Zweifel daran hat, ob die Ochsen wirklich Stroh essen und ob man das den Löwen empfehlen soll, zweitens aber, weil von dem babylonischen König Nebukadnezar berichtet wird, dass er für seinen Hochmut dem Wahnsinn verfiel und eine Zeit lang Gras fraß wie die Ochsen. Bei solchen Sujets läuft die Predigt schnell aus dem Ruder.

Quelle Süddeutsche Zeitung Seite 1 „Das Streiflicht“ 22. Dezember 2015

Aber zufrieden bin ich dennoch nicht mit Jesaja 11 Vers 6 : Es ist also doch kein Engel, der den Palmzweig führt, sondern – meiner allzu kindlichen Identifikation allzu genau entsprechend – „ein kleiner Knabe“? Und das Stroh fehlt. Ebenso die klar benannten Bären. Und der Löwe ist nicht jung.

Jesaja Tiere

Ich schließe mit einer gewissen Enttäuschung und halte mich schadlos, indem ich – einem Prediger gleich – in den Büchern blättere, die nun einmal auf dem Tische liegen. Wenn nun aber die Bilder und Phantasien meiner Kindheit wieder Besitz von mir ergreifen? Ich werde sie bannen, auch wenn sie quasi archetypisch eingebrannt wurden: meine liebsten Bilder in den Grimmschen Märchen, die ich damals noch vorgelesen bekam, habe ich mit Bleistift nachgezeichnet und mit Hilfe von Kohlepapier durchgepaust auf ein weißes Blatt, wo ich sie wie ein Wunder betrachtete. Von meiner Hand gewirkte Wunder.

Friede (Detail) 20151222_161947   Reh & Kind schlafend

Nachtrag zur spanischen Mystik und Zurbarán

Die Suggestion des Ausdrucks „Siglo de Oro“ (siehe Wikipedia-Artikel), die Blüte von Kunst und Literatur, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass all dies nur mit Hof und Kirche zu tun hatte, nicht mit der breiten Bevölkerung. „Aufstieg und Abstieg Spaniens als Welt- und Großmacht sind (…) eng verknüpft mit Reformation und Gegenreformation. Spanien fühlte sich als stärkste Vormacht des Katholizismus, fand aber zu keinem Zusammenwirken mit der anderen katholischen Großmacht Frankreich. Selbst im Verhältnis zum Papst bestanden Spannungen und Konflikte.“ (…) „Dazu schwächte sich Spanien selbst im Innern durch Massenaustreibungen gerade der ökonomisch aktivsten Teile seiner Bevölkerung.“
So schreibt Imanuel Geiss in seiner „Geschichte im Überblick“ (s.a. weiter unten).
Ich würde gern dem Gedanken nachgehen, ob die bedeutende Entwicklung der spanischen Mystik – die ja auch im Werk Zurbaráns zum Ausdruck kommt – nicht gerade mit den äußeren Zwangsverhältnissen zu tun hat. (Ähnlich wie die Entwicklung der deutschen „Innerlichkeit“ mit den politischen Restriktionen der Zeit nach dem Wiener Kongress und schon vorher im Pietismus der Zeit des Absolutismus angelegt war. Stichworte Fürstenwillkür – Metternich – Geheimdienst – Polizeistaat…)
Merkwürdigerweise finde ich eine unverblümte Darstellung ausgerechnet in einem stark spirituell orientierten katholischen Zusammenhang (Zitat folgt): der Grund ist wahrscheinlich, dass auch die Mystik, der (Aus-)Weg nach Innen, verdächtig erschien und verfolgt wurde.

Der spanische Hof lebte damals in üppigem Wohlstand und Prunk. Madrid wurde die Hauptstadt des neuen Staates. Trotz der immensen Gold- und Silberlieferungen aus den Minen Lateinamerikas, verarmte die Bevölkerung Spaniens. Im zweiten Teil des 16. Jahrhunderts musste z.B. Getreide aus anderen europäischen Ländern eingeführt werden. Die damalige Vorstellung, dass Arbeit einem adeligen Spanier nicht gemäß sei (sicher nicht nur in Spanien), führte weiterhin dazu, dass die notwendige eigene Wertschöpfung, um den Wohlstand einer Gesellschaft abzusichern, völlig vernachlässigt wurde. Handwerk und Landwirtschaft waren im Wesentlichen in den Händen der konvertierten Mauren. Da diese aber durch Zwangsumsiedlung, Unterernährung, Unterdrückung des Glaubens und damit bedingte Abwanderung immer stärker dezimiert wurden, verarmte Spanien mehr und mehr. Ein spanisches Sprichwort „tiene moro tiene oro“ – „hat man Mauren, hat man Gold“, macht die Bedeutung der Mauren für die Wertschöpfung deutlich. Einige regionale Fürsten z. B. aus Valencia und Aragón, setzten sich deshalb auch für den Verbleib der Mauren in Spanien besonders ein. Jedoch schon vor der endgültigen Vertreibung im Jahre 1609 zogen zahlreiche Handwerker aus den ‚europäischen’ Ländern nach Spanien, um die Versorgung der wohlhabenden Schichten zu ermöglichen und davon zu profitieren. Große Bedeutung hatte die spanische Inquisition, sie kann gewissermaßen als ein ‚staatlicher Geheimdienst’ betrachtet werden. Ihr Auftrag war es, die Macht des altchristlichen Hochadels und des spanischen Großreiches zu sichern. Die christliche Religion (und die damals damit verbundenen Vorstellungen) wurde als einendes Mittel eingesetzt und jegliche Abweichung verfolgt und bestraft. Die bekannten und berüchtigten Autodafés (Ketzerverbrennungen), waren Massenveranstaltungen, die besonders auf die konvertierten Juden und Mauren abschreckend wirken und jegliche Opposition und Solidarität verhindern sollten. Im spanischen Hochadel, im Klerus und in der Bevölkerung gab es trotzdem beachtlichen Widerstand gegen die Unterdrückung der Juden und Mauren. Mit der Inthronisierung Phillips II. 1556 wurde die Rolle der Inquisition noch verstärkt, dies fand zum Beispiel auch Ausdruck in einer Liste der verbotenen Bücher, dem Index Valdés, der auch ein Verbot fast aller mystischen Schriften und die Übersetzungen der Bibel in die spanische Sprache enthielt. Fray Luis de León, ein spanischer Mystiker und Gelehrter, wurde für seine Übersetzung des „Hoheliedes“ aus dem Hebräischen ins Spanische fünf Jahre in einem Gefängnis eingekerkert.

Quelle http://www.johannes-akademie.de unter „Spanische Mystik“.

Zur spanischen Inquisition (bis 1834!!!) siehe Wikipedia HIER

Insofern liest sich auch in einer kurzgefassten, aber zuverlässigen Geschichtschronik die spanische Situation im „siglo de oro“ ziemlich ernüchternd:

Der spanischen Wirtschaft eröffnete sich mit der Massenauswanderung in die Kolonien Amerikas ein riesiges Betätigungsfeld, ähnlich wie den Griechen nach dem Alexanderzug im Vorderen Orient. [vgl. Zurbaráns Verkauf von Bildern seiner Werkstatt nach Übersee! JR] Aber die Reichtümer aus der Neuen Welt kamen Spanien am wenigsten zugute. Vor allem das amerikanische Silber floß zur Bezahlung spanischer Söldner für den Kampf gegen die niederländische Unabhängigkeitsbewegung (seit 1572) durch Spanien in den Norden ab und trug dort zur führenden Rolle Hollands in der ursprünglichen Akkumulation bei. Drei Staatsbankrotte Spaniens (1557, 1576, 1596) sprechen für die ökonomische Überanstrengung durch pausenlose Kriege.

Dazu schwächte sich Spanien selbst im Innern durch Massenaustreibungen gerade der ökonomisch aktivsten Teile seiner Bevölkerung. Der Vertreibung der Juden im Epochenjahr 1492 folgte die der seit der Eroberung Andalusiens (1492) gebliebenen Moriskos (1609-14).

(…) In den ständigen Kriegen gegen die einen oder anderen seiner zahlreichen Gegner hatte Spanien nie eine Chance zur inneren Konsolidierung oder gar Homogenisierung seiner heterogenen Besitzungen. (…)

Spanien wurde auch Opfer seines ehrgeizigen Engagements für die Gegenreformation, und hier mißlang so gut wie alles: (…)

Mit Philipps II. Tod (1598)  hatte Spanien bereits seinen Höhepunkt überschritten. Von da an ging es nur noch bergab: (…) … Vertreibung der Moriscos …

Auf dem Papier umspannte Spanien mit dem portugiesischen Kolonialreich nunmehr die gesamte Erde, machte sich damit aber auch verwundbarer, vor allem gegenüber den nachdrängenden Holländern (ab 1598). (…) [JR: Geburtsjahr Zurbaráns!]

Und heute wieder aktuell, – Thema katalanische Unabhängigkeit:

Vorher schon hatte die permanente Überbelastung nach außen interne Spannungen mobilisiert: Der katalanische Aufstand (1640-52) eröffnete das seitdem wiederholte Aufbegehren Kataloniens gegen die zentralisierende Dominanz Kastiliens (1705-14, 1833-40, 1873-76, 1934, 1936-39, ca. 1970-79): Katalonien wurde Republik und unterstellte sich Frankreich.

Quelle Imanuel Geiss: Geschichte im Überblick Daten und Zusammenhänge der Weltgeschichte / Rowohlt Sachbuch Reinbek bei Hamburg 1986 (Seite 272 ff)

Erste Ausbildung des neuzeitlichen Rassismus

(…) Die Folge war nicht nur jenes Edikt von 1492 zur flächendeckenden Zwangsbekehrung, sondern damit verbunden eine, den späteren Hexenverfolgungen nicht unähnliche Politik des Verdachts. Angesichts der unsicher gewordenen Kriterien der Zugehörigkeit zum Christentum bemühte man sich, den Unglauben im allgemeinen und das Judentum im besonderen noch in seinen verstecktesten und entstelltesten Formen aufzuspüren, um ein einheitliches katholisches Spanien in natürlicher Reinheit herzustellen. besonders im Blick auf jene große, durch die jahrhundertelange Verfolgungspraxis überhaupt erst geschaffene Gruppe der teilweise seit Generationen Konvertierten, die dennoch – wirklich oder angeblich – an den jüdischen Traditionen festhielt, verwandelte sich die klassische Frage nach der ‚Reinheit des Glaubens‘ in die neue, nun aber entscheidende Frage nach der ‚Reinheit des Blutes‘ (limpieza de sangre).

Aufgrund der langen Dauer der Reconquista und der Tatsache, daß das Judentum bis zum 14. Jahrhundert in Spanien mehr als sonst in Europa ein integraler und kulturell einflußreicher Bestandteil der Gesellschaft gewesen war, konnte nun die Suche nach dem ‚unreinen Blut‘ prinzipiell jeden treffen, die Landbevölkerung ebenso wie den spanischen Adel. Zunächst nur im Blick auf die Conversos und Marranen, sehr bald aber bezogen auf das ganze Judentum sowie auf die zwangsbekehrten Muslime (moriscos), wurde jetzt zum ersten Mal von ‚Race‚ gesprochen. Hatte der noch junge Begriff bis dahin allein in der Pferdezucht und in der Verherrlichung adeliger Geschlechter eine Rolle gespielt, so diente er jetzt der Aufspürung zu bekehrender Gruppen.

(…) Historisch wurde hier zum ersten Mal die Bedeutung der christlichen Bekehrung und der Taufe als eindeutiges Kriterium der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft aufgeweicht und untergraben. Um der darauf reagierenden Politik der Zwangsbekehrung ein Objekt zu geben, wurden mit Hilfe des Rassenbegriffs neue, scheinbar natürliche Kategorien der Zugehörigkeit erfunden. An die Stelle des Glaubensbekenntnisses trat jetzt die Abstammung als zentrales Merkmal von Zugehörigkeit.

Quelle Christian Geulen: Geschichte des Rassismus Verlag C.H.Beck München 2007 (Seite 34 f)

Nicht von dieser Welt, doch greifbar

(Ins Unreine, ab Samstag 8. November)

Francisco de Zurbarán

Es wird soviel von Stoffen und Stofflichkeit geredet, von der Kostbarkeit der Materialien, der Greif- und Tastbarkeit der Oberflächen, Kleider-Mode (?), der Vater war Stoffhändler, das Sackleinen des Heiligen Franciscus, das voluminöse Lendentuch Christi, und wenn man das Kreuzigungsbildnis in einen matt erleuchteten Altarraum stelle, könne man es nicht von einem realen Kruzifix unterscheiden. Im Film entbrennt eine Betrachtung zwischen dem Kurator Beat Wismer und einem spanischen Zurbarán-Kenner mit folgendem Verlauf:

„Wir wissen nicht, ob das der Maler der Kreuzigung ist. Steht der Maler vor einer Skulptur? Steht er vor einer realen Kreuzigung? Und dann gibt es noch ein sehr interessantes Detail: Hier sieht man eine Landschaft, oder zumindest einen Teil der Landschaft.“

„Da stimme ich Ihnen zu. Es ist in der Tat ein Konzept-Gemälde. Für mich gibt es ein entscheidendes Element in diesem Bild. Das Element des Maßstabs. Die Christusfigur ist nur ein wenig kleiner als die Figur des Malers. Dadurch suggeriert es uns, weil es das im Unklaren lässt, dass die Figur auf der rechten Seite, der Maler, auf ein Abbild von etwas schaut. Es ist möglicherweise eine Skulptur – wie Sie sagen -, es könnte aber auch ein gemaltes Bild sein. Es könnte aber auch das Gemälde einer Skulptur sein!? Möglicherweise auf den heiligen Lukas, der traditionell als Maler dargestellt wurde.“

„Oder eine Vision?“

„Oder eine Vision! In der Tat. Es ist oft gesagt worden, – und ich denke, dass etwas Wahres daran ist -, dass es sich hierbei um ein Selbstportrait des Künstlers handelt. Nicht unbedingt um ein normales Portrait. Es kann sich dabei auch um ein konzeptuelles Portrait handeln. Eine Selbstprojektion des Künstlers auf das Bild des Malers. Wir sehen also den hl. Lukas, der den gekreuzigten Christus betrachtet.“

Zurbarán Selbst Screenshot 2015-11-08 11.16.01 Screenshot aus der DVD (s.u.)

Wenn man sich an Navid Kermanis Beschreibung desselben Bildes erinnert, wird schnell klar, wie naiv sie ist:

Jesus im selben Saal des Prado noch auf einem weiteren Bild gekreuzigt zu sehen, jetzt mit einem Maler zu seinen Füßen, entweder Lukas, so heißt es auf der Tafel neben dem Gemälde, oder in bitterer Selbsterkenntnis Zurbarán selbst, der begeistert darüber, ein so spannendes, ausdrucksstarkes und noch dazu lebendes Modell gefunden zu haben, am Kreuz hochblickt, die Palette bereits in der Hand, statt dem Gemarterten zu helfen, ihm Wasser zu reichen, Hilfe zu rufen, damit jemand die Nägel aus seinen Händen und Füßen zieht, und wenn es keine Hilfe gibt, wenn Gott auf Erden nicht einmal seinem eigenen Sohn hilft, dann die Hände vor Verzweiflung in den Himmel zu strecken oder auf den eigenen Kopf zu schlagen, weil Gott dann auf Erden vermutlich niemandem hilft. Oder straft er etwa nur diejenigen, die ihm am nächsten stehen, läßt zynisch den Amtsträger, den Reichen, den Künstler triumphieren? „This work subtly refers to the idea that art’s greatest merit is its potential for use in the service of religion“, heißt es auf der Tafel weiter, die ein anderes Gemälde meinen muß.

Quelle Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum / C.H.Beck München 2015 (Seite 161 f)

Zurbarán DVD a       Zurbarán DVD rück

ZITAT

Zurbaráns Zeit war zutiefst geprägt von der spanischen Mystik. Das zuweilen Erstarrte seiner Bilder, vor allem im Frühwerk, ist wohl auch jenen Formeln geschuldet, mit denen die katholische Kirche die Macht über die anmaßenden Körper und Geister zurückerobert: durch Dekrete zur religiösen Malerei, die sie in der Folge des gegenreformatorischen Konzils in Trient 1563 erlässt.

(…)

Ein einziges Mal scheint Zurbarán sich selbst gemalt zu haben, um 1655/60, in dem „Gekreuzigten mit einem Maler“. Gewiss ist es nicht und doch offensichtlich: Der alte Maler steht, in tiefe Kontemplation versunken, zu Füßen des verstorbenen Gekreuzigten und hebt seinen Blick zu Christus. Die rechte Hand hat er ans Herz gelegt, in der linken hält er eine Palette mit Pinseln. Er trägt eine malvenfarbene Tunika, was manch einen veranlasste, darin die Figur des Apostels Lukas zu sehen, den Patron der Maler. Schemenhaft dunkel hinter dem Kreuz schimmert ein Berg, vielleicht Golgatha. Und hier ist es wieder, dieses Verrätselte, das Spiel, das Zurbarán treibt. Aber ob Selbstbildnis oder nicht, interessant ist vielmehr, dass er hier wortlos sagt: Ich habe das gemalt. Und dass man darüber spekulieren kann, ob Zurbarán hier nicht auch seine eigene Fähigkeit als Maler göttlich beglaubigen lässt.

Quelle Ingrid Berner: Drama und Erleuchtung Göttliche Verklärung bedeutete bei Francisco de Zurbarán immer auch tiefe Menschlichkeit. Jetzt ist der faszinierende Maler in Düsseldorf zu erleben. In: WELTKUNST Eine Sonderveröffentlichung des ZEIT Kunstverlags Hamburg Herbst 2015 www.weltkunst.de

Schließlich sieht man sogar ein, dass die schönsten Bilder vielleicht doch nicht im Museum zum wahren Leben erwachen, sondern dort, wo sie am zugedachten Platz verblieben sind. Hier zum Beispiel:

Zurbarán Guadelupe 1 Screenshot 2015-11-08 09.46.46  Zurbarán Guadelupe 3 Screenshot 2015-11-08 09.47.21

Zurbarán & Musik Screenshot 2015-11-08 10.48.47

Der Heilige Hieronymus wehrt sich hier gegen die schönen Frauen und die Verführungskraft ihrer Musik. Wohl doch kein Engelskonzert?

Es ist ein Wunder, wie eine bloße Ausstellung von Bildern Menschen in Bewegung setzen kann, wie sie neue Ansprüche an sich selbst stellen, um diesen Ansprüchen durch Bilder gerecht zu werden. Vielleicht auch mit leiser Empörung zu reagieren – wie ich, bei all den Bildern von der Maria Immaculata, die nicht auf dem Boden steht, sondern auf Wolken, aus denen Kinderköpfe hervorlugen, – an der Wand zu lesen wie es zu dieser Serie kam (auch vom Vorschriften-Kanon zu erfahren, der auflistet, wie eine Immaculata-Visualisierung beschaffen zu sein hat), zu lernen, dass die ganze absurde Geschichte von der Unbefleckten Empfängnis auf eine Stelle in der Offenbarung des Johannes zurückgeht, im Sinn zu haben, was gerade in der ZEIT anlässlich der zu uns flüchtenden Männer aus dem Osten zu lesen war: wie der Blick des Mannes auf alleinstehende (auch: „allein flüchtende“!) Frau unweigerlich beschaffen ist (Quellenangabe folgt). Frage nach dem „Trompe-l’œil“, Frage nach dem senkrecht hängenden Petrus, der nicht in Düsseldorf, wohl aber in diesem Film vorkommt (und – wo er mir zum erstenmal begegnete – in Navid Kermanis Buch Seite 157 ff) usw. Nachlesen in meinem alten Lieblingsbuch: „Meisterwerke der Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol“ herausgegeben von Reinhard Brand, der erste Essay darin von Robert Suckale über Rogier van der Weydens Kreuzabnahme, die „Leserichtung“ bei der Bildbetrachtung, hochinteressant der Zusammenhang mit der Rhetorik des Quintilian, eine in christlichem Sinne gefilterte: durch Augustinus). Auch noch anwendbar auf Bachs musikalisch-rhetorisches Verfahren.

Die Ausstellung in Düsseldorf: HIER  (dort auch runterscrollen: man sieht einen kurzen Ausschnitt aus der DVD)

Wikipedia-Artikel zu Zurbarán, auch zahlreiche Werke des Meisters (vergrößerbar!), als viertes Der Heilige Lukas, dargestellt als Maler der KreuzigungsszeneHIER

DIE ZEIT 30.01.2014  Nicht von dieser Welt. Das großartig stille Werk des spanischen Malers Francisco de Zurbarán – eine Wiederentdeckung in Brüssel. Von Hanno Rauterberg. HIER

FAZ 23.10.2015 Ein Evergreen für die Augen Glühende Askese und mystische Versunkenheit:
Francisco de Zurbarán malte mit dem Pinsel Caravaggios und den Augen eines Inquisitors.
Eine Düsseldorfer Ausstellung entdeckt den spanischen Barockmaler. Von Andreas Kilb. HIER

Drei Tage im Oktober

JERUSALEM – Das Programm

Jerusalem Konzerte November 2015    Jerusalem Ablauf b  Jerusalem Programm Vorspann a  Jerusalem Programm Vorspann b
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Pressebericht Rhein-Neckar-Zeitung (Matthias Roth) HIER

Pressebericht Mannheimer Morgen m.morgenweb (Eckhard Britsch)  HIER

Ich bin dankbar, dass ich dabeisein konnte.

Jerusalem Termine c     Delauney in Ludwigshafen

Oben rechts: der von Messiaen geliebte Maler Robert Delaunay (s.a. am Ort bzw. hier)

Jerusalem El Melek notiert

(Versuch, der eigenen Stimme ein hebräisches Gebet phonetisch zu erschließen)

HH Ludwigshafen Museumskonzert 12

(Versuch, im Museum allein durch Kunstbetrachtung gesättigt zu werden)

Zum Gebetsruf

Ich unterstelle, dass die Zusammenfügung kleiner Meldungen nicht dem Zufallsprinzip folgt. Und im Fall der aktuellen Zeitung, habe ich einen mit Bild versehenen Artikel („40000 Jungfrauen tanzen für den König von Swasiland“) , der sich nach oben hin anschloss, noch mit Bedacht nicht einbezogen (die Zeitungsleser aber sind gewissermaßen dazu eingeladen, alle nur möglichen Querverbindungen zu improvisieren).

ST Muezzin und Schlaf

Ich kann darüber nicht lachen. Ich liebe den Gebetsruf zu sehr. Solo ebenso wie im zufälligen Ensemble: In Casablanca habe ich mein Mikrofon aus dem Hotelfenster gehalten, als aus allen Himmelsrichtungen die Stimmen der Muezzins (aus Lautsprechern) ineinandertönten. Ich liebe auch den Klang der Kirchenglocken mit ihrem seltsamen Zufallsrhythmus. Aber noch mehr die „wilde“ Musik von Nadaswaram-Oboe und Mrdangam-Trommel im Hindutempel. Dem Urteil der Gläubigen nach ist meine Liebe nicht viel wert, – hat sie doch nur mit Musik zu tun, auch wenn das Ohr (oder der Gehörssinn) für heilig gilt. Aber ich meine wirklich „nur“ Klang und Musik, und alles weitere Wissen ist mir sekundär. Wenngleich ich die starke Wirkung der Worte nicht leugne…

Suche ich nach einem schönen Gebetsruf auf youtube, stört mich die oft damit verbundene Werbung, es klingt mir bereits zu sehr nach Mission. Ich vergaß zu erwähnen, dass ich den Weg der Wissenschaft liebe. In diesem Fall sieht er so aus:

Music in Egypt Music in Egypt Quelle ISBN

Die beigefügte CD beginnt mit einem Gebetsruf, der im Textteil analysiert wird. Siehe HIER. Ich lasse eine Kopie des Azan-Textes (Buch Seite 2) folgen; sie ist hilfreich, wenn man einen der Rufe auf youtube im Detail mitlesen will. Aber die bei Scott L. Marcus analysierte Melodie habe ich nicht im Internet gefunden (jedoch Mohamed Gebril mit eindrucksvollem Qoran-Vortrag).

Gebetsruf TEXT

Die erste Analyse bei Scott L. Marcus im Internet HIER. Weiteres auf den Seiten 1-15 im Buch, dankenswerterweise mit dem Kapitel THE MELODIC ASPECT OF THE CALL TO PRAYER. Darin die Höranweisung:

Activity 1.2 Listen again to CD track 1, giving special attention to the many melismas. Photocopy the text given in Activity 1.1 and mark those syllables that are treated melismatically. Note that the melismas differ when a line is repeated.

HIER (?) oder hier

Gebrandmarkte

Bildnotizen zu Kirchen in Lemgo 19. Juli 2015

Lemgo St Marien Chor  Lemgo St Marien Nebeneingang

Lemgo Jude mit Spitzhut St. Marien, Lemgo

Erläuterung auf einer beigefügten Schrifttafel: Diese Figur aus der Bauzeit der Kirche (um 1313) ist ein Zeugnis mittelalterlichen Antijudaismus. Mit dem thronenden Christus am rechten Wandpfeiler bilden beide Figuren zusammen die personifizierte Darstellung der jüdischen und christlichen Religion: Synagoge und Ecclesia. Die Synagoge ist in der Person eines Juden mit Spitzhut (mittelalterliches diskriminierendes Bekleidungsmerkmal für Juden) zu erkennen. Sie hält ein aufrecht stehendes Schwein in Händen. Damit verhöhnt die Darstellung das dem Juden heilige Gesetz, das Gott seinem Volk durch Moses gegeben hat. Das Schwein gehört zu den unreinen Tieren (3. Mose 11,7), das weder gegessen noch im toten Zustand angerührt werden darf.

(Der Rest des Textes ist identisch mit den entsprechende Absätzen auf der unten wiedergegebenen Tafel.)

Lemgo Säule Jude & Jesus  Lemgo Jesus & Juden

Lemgo Tafel Jesus, Juden Passion

So wurden aus den beschämenden Selbstzeugnissen einer verwirrten Theologie gewissermaßen Gedenksteine. Zu sehen in der sehenswerten Kirche St. Marien. Sobald man die andere, schon in der Außenansicht spektakuläre Kirche St.Nicolai betritt und sich an die mystische Beleuchtung des Innenraums gewöhnt hat, fällt der Blick bald auf den tiefschwarzen Stein mit dem quer durchgeschlagenen Riss, der zunächst kaum auffällt, wie durch Blitzschlag hineingebrannt: ein Kainsmal . GOTT WIRD ENDLICH MEIN HAUPT AUFRICHTEN UND MICH WIEDER ZU EHREN SETZEN / ANDREAS KOCH, 1647 – 1665 Pfarrer an St. Nicolai.

Was ist ihm widerfahren?

Pfarrer Andreas Koch Riss (Bitte anklicken)

Man kann es kaum entziffern, ganz unten stehen die grausamen Fakten:

Pfarrer Andreas Koch Bio

Er ist hingerichtet worden, weil er sich gegen die Hexenprozesse gewandt hat, und zwar als sogenannter „Teufelsbündner“. Ein „Sympathisant“ der Gebrandmarkten? Ganz so einfach ist die Sachlage nicht: er hat den Glauben seiner Zeit durchaus geteilt, sein Ziel war nicht die Auflösung des Hexenwahns, – er wollte nur mehr Gerechtigkeit in das Verfahren bringen.

Die Lektüre des lutherischen Theologen und Erfurter Professors Johann Matthäus Meyfarth wird später ausdrücklich erwähnt, doch hat er möglicherweise auch die „Cautio Criminalis“ von Friedrich Spee gekannt. Wie diese beiden Autoren bestritt Andreas Koch nicht die Existenz von Hexen oder die Möglichkeit zu Schadenzauber, doch sah er wie sie die Gefahr, daß durch ein fragwürdiges Prozeßverfahren Unschuldige ihr Leben verlören. Damit stand er repräsentativ für die Lemgoer Oberschicht, die in der Prozeßwelle 1653-1656 erstmals nicht mehr bereit war, Beschuldigungen gegen ihre Familienangehörigen fraglos zu akzeptieren, und sich mit allen juristischen Mitteln dagegen wehrte.

Quelle  siehe HIER  (www.historicum.net).  In den historischen Details auch nachzulesen bei Wikipedia (Artikel Andreas Koch).

Lemgo St. Nicolai Bus  Lemgo St Nicolai fern St. Nicolai

(Handyfotos: JR)

In diesem Zusammenhang habe ich mich eines Buches erinnert, das mein Bruder 1955 von Verwandten aus Greifswald zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte; ich las damals viel Historisches (angefangen mit Quo Vadis) und so auch dies, das sich nachhaltig einprägte:

Hexen Bernsteinhexe 1 Wilhelm Meinhold

Timor Dei

Es ist doch nur ein alter Spruch… Wieso hat er mich besonders berührt, als ich ihn über dem Eingang einer Schule in Solingen sah? Siehe hier.

Vielleicht weiß ich es heute? Ich habe ihn wiedergesehen:Lohe Schule Spruch

An der Volksschule in Lohe bei Bad Oeynhausen. Dort habe ich 1947 mein erstes Schuljahr erlebt und und ziemlich zu Anfang von Lehrer Stark eine schallende Ohrfeige erhalten. Von nun an wusste ich, was das ist, die Furcht des Herrn, eines Herrn, der sogar „Stark“ hieß. Er kam aus dem Osten und legte größten Wert darauf, dass dumme kleine westfälische Kinder eine deutliche, aufrechte Aussprache erlernen und z.B. nicht einfach „Wuast“ sagen, sondern Wurrrst. Er selber wurde deshalb gern Herr „Starrrk“ genannt. Hier ist der Eingang der Schule heute, dann der Blick durch die Bäume auf die Fenster der Klasse, in der ich damals meinen ersten Unterricht erlebte. Die Schule lag und liegt gleich unterhalb der Kirche, wie man sieht.

Lohe Schule Wand z Lohe Schule Kirche z

Warum die Ohrfeige? Ich sollte Silben bilden aus Buchstaben, die wir schon durchgenommen hatten, also aus f und a etwa „fa“, aus b und o vielleicht „bo“. Das war die Hausaufgabe. Ich hatte sie aber missverstanden und schrieb immer ganze Wörter, das hatte ich bei meinem älteren Bruder schon viel früher mitgelernt, also: „Familie“, „Boden“ u.ä., – ich erhielt die Ohrfeige für die Anmaßung. War ich überheblich oder allzu selbstbewusst? Ich glaube nicht.

Von nun an wusste ich allerdings, was die Furcht des Herrn ist: die Furcht vor dem Herrn Starrk! So stand es draußen an der Wand. Und zwar mit Quellenangabe: Sirach 1, 14. Das ist ein apokryphes Buch des Alten Testaments, in der Bibel meiner Loher Oma kommt es überhaupt nicht vor. Aber die andere Oma aus Belgard, die zitierte gern noch einen anderen Spruch von Sirach: „Wer die Rute schonet, hasset seinen Sohne“. Irgendwie habe ich es früh zu spüren begonnen – ein derart schlechter Reim kann schon mal per se nichts mit der Weisheit Anfang zu tun haben.

Die Schläge waren damals noch an der Tagesordnung: einmal ging der HErr zu weit, und jemand musste mit Nasenbluten nach Hause gehen, die Mutter kam, und der Lehrer schimpfte, wie sich die Kinder heutzutage dumm anstellen! Und dann auch noch so aufsässig zu bluten, unerhört!!

Aber eines Tages kam der neue Lehrer Sichelschmidt (s.u.), und alles war gut. Der Knabe, der da vorn in der Mitte sitzt, sieht doch ganz glücklich aus, oder nicht?

Lohe Schulklasse (Teil) + Sichelschmidt

Geschrieben nach einem Wiedersehen auf der Lohe – eingedenk der frühesten Zeiten. KINDHEIT. Unten: Auf einem neuen Foto (1947) der Nachbarn: auch meine Eltern. Notiz aus den Erinnerungen meiner Mutter. (Stolz, ja doch! Aber etwas übertrieben.) Meine genaue Größe am 7.3.47: 121 cm; am 26.12.47: 127 cm. (Nach Krieg und Flucht: Das neue Leben auf dem Lande!)

LOHE  1947

LOHE Notiz Schulbeginn

LOHE 32 P1040183

Die Landschaft meiner Kindheit. Die sogenannte Steinkuhle, Hobergs Busch. Der Blick  über Feld und Wald auf das ferne Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica. Dort – in Wolkenformen oder Dunst – las meine Oma das kommende Wetter ab. Dorthin – auf ein im Tal liegendes Waffenlager – waren auch die Flaks gerichtet, die die Amerikaner nach dem Einmarsch hier auf die Felder gestellt hatten.

LOHE 21 P1040159

(Fotos unten: E.Reichow, Handyfotos oben: JR)

17.07. Neue Lektüre (s.u.) / 18.07. Nachbarschaftstreffen Lohe / 19.07. Lemgo (Extra-Beitrag) Nicht vergessen: Geläut St. Marienkirche A-C-Es, Juden, Hexen, St. Nicolai, Pfarrer Andreas Koch „Teufelsbündner“.

Foucault 150717

Von der Angst zur Höflichkeit

Timor Dei

Heute kam ich am Gymnasium Schwertstraße vorbei, hörte die typischen Pausengeräusche aus dem Innern, fragte mich, ob in Solingen wohl schon an den Schulen das rufende Sprechen eingeübt wird, ein Schreien fast; mir erschien es seit je als eine ortsgebundene Taktik, auch bei kleinen Meinungsverschiedenheiten sofort den ganzen Luftraum zu besetzen, noch ehe man an den Austausch von Argumenten gehen kann. Die Frage ist, ob sich eine weitgehend höfliche Auseinandersetzung unter Jugendlichen überhaupt durchsetzen ließe (höflich durchsetzen?), ehe nicht die Grundregeln der Logik und des Sprachverständnisses erlernt und als solche (an)erkannt wurden. „Bauchgefühl“ und „emotionaler Einsatz“ stehen gesellschaftlich hoch im Kurs. Während ich noch überlegte und meine gestrige Zeitungslektüre zu rekapitulieren suchte, hatte ich schon das Smartphone gezückt und den ehernen Schuleingang fotografiert:

Spruch Schwertstraße fern

Es ging mir um den Spruch, der mich wiederum an den Spruch am gelben Gemäuer meines alten Gymnasiums in Bielefeld erinnerte; ich habe ihn schon früher einmal beschworen: nämlich hier. DEO ET LITERIS, – in genau dieser Schreibweise, die unter Altsprachlern noch elegant problematisiert werden konnte. Und immerhin waren es ja zwei Bereiche, die durch das „Et“ nicht nur verbunden, sondern auch sichtbar getrennt wurden. Und hier? Gibt es hier überhaupt noch Latein, so dass man klären könnte, wie es zur Furcht Gottes kommen konnte, ob das Wort mehr mit Ehrfurcht oder mit Angst zu tun hat, in jedem Fall aber als Furcht vor Gott verstanden werden muss, was bei gottesfürchtigen Kindern natürlich außer Zweifel steht. Und sicher geht es nicht darum, den TIMOR DEI nach dem Vorbild des heiligen Augustinus (oder Kierkegaards?) unter dem Doppelaspekt von Furcht und Angst zu betrachten. Aber ist es nicht ein Schlag ins Gesicht der Philosophie, dass eine solche „Emotion“ von vornherein als der Weisheit Anfang  apostrophiert und gewissermaßen petrifiziert wird? Warum eine solch massive, freiheitsberaubende Vorgabe?!

Spruch Schwertstraße nah

Die erwähnte Zeitungslektüre betraf eine der zahllosen „Gewissensfragen“, die niemand so brillant behandeln kann wie ein gewisser Dr. Dr. Rainer Erlinger im Magazin der Süddeutschen. Diesmal ging es um ein – sagen wir – Übermaß an Höflichkeit, überraschend war mir nur, dass wir es täglich anwenden, etwa wenn ich frage: „Darf ich um das Salz bitten?“ Ich erwarte natürlich nicht, dass der andere mit „ja“ antwortet und weiterfrühstückt, als sei nichts gewesen. Er soll handeln, als hätte ich gesagt: „Bitte, gib mir das Salz!“ Es soll aber so scheinen, als ließe ich ihm eine Alternative, es geht schließlich um die Freiheit des Menschen.

Ich erlebte einmal die Situation, dass ich, vergeblich nach einem Stift suchend, mein Gegenüber fragte: „Haben Sie vielleicht einen Stift?“, und er antwortete ausgesucht höflich: „Darf es auch ein Rotstift sein?“, was ich bejahte, worauf die Entgegnung kam, „tut mir leid, hab ich auch nicht!“ Das hatte er schon vorher gewusst, er war jedoch ein Spaßvogel. Davon ist jetzt nicht die Rede. Auch nicht von der sprichwörtlichen japanischen Höflichkeit, die dem, der etwa nach dem Weg zum Bahnhof fragt und in eine Richtung weist, um keinen Preis eine Korrektur zumuten mag: „Ja, das ist richtig, aber noch besser wäre es, Sie gingen diesen Weg …“ und dabei verschämt in die Gegenrichtung weist. Ob es heute noch genau so ist, kann ich nicht sagen: Im Jahre 1973 beschrieb Dietrich Krusche in seinem Buch „Japan – Konkrete Fremde / Eine Kritik der Modalitäten europäischer Erfahrung von Fremde“ das Phänomen der japanischen Ritualisierung der Höflichkeiten auf den Seiten 75 bis 85. Zitat zur Auskunft, wie denn das Wetter sei: „Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich sagen, die Sonne scheint.“

Heute gibt es dazu – wie ich aus der SZ-Kolumne der „Gewissensfragen“ lerne – eine Theorie, die nicht nur Japan, sondern uns alle betrifft: sie heißt nun „psycholinguistische Theorie der Höflichkeit“ und wurde 1987 von Penelope Brown und Steven C. Levinson vorgelegt. Auf die Vorarbeiten bezieht sich Harald Weinrich 1986 in seiner großen Rede „Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist?“, im pdf. nachzulesen hier.

Das ist ein sehr nützlicher Hinweis, dennoch finde ich, dass der hochintelligente Ratgeber des süddeutschen Magazins am Ende doch nicht ganz zufriedenstellend argumentiert. Es geht um ein Schild im Wartezimmer: „Sie dürfen noch kurz Platz nehmen.“ Früher habe es geheißen: „Bitte nehmen Sie doch Platz“.

Unter Berücksichtigung der Theorie der Höflichkeit sagt Erlinger nun, die Psychologie unterscheide

ein positives Gesicht, ein Bedürfnis nach Anerkennung, und ein negatives Gesicht, das Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie. Höflich zu sein, bedeutet in dieser Theorie, sogenannte face threatening acts, Handlungen, die das Gesicht des Gegenübers bedrohen, zu vermeiden. Hier geht es um das klassische Problem der Aufforderung, etwas zu tun, die, auch wenn sie mit einem „Bitte“ versehen wird, das Gegenüber in seiner Freiheit und Autonomie, dem negativen Gesicht, bedroht. Deshalb wird sie sprachlich verkleidet (…)

„Sie dürfen noch kurz Platz nehmen“ sollte man nicht wörtlich als anmaßende Erteilung einer Erlaubnis auffassen, sondern als – sprachlich etwas unglücklichen – Versuch, eine direkte Aufforderung, die ja trotz „bitte“ etwas von einer Anordnung hat, zu vermeiden. Deshalb liegt darin auch keine Arroganz, sondern im Gegenteil das Streben nach Höflichkeit.

Quelle Süddeutsche Zeitung Magazin „Gewissensfrage an Dr. Dr. Erlinger“ 19. Juni 2015 Seite 6

Mir scheint, dass hier etwas unberücksichtigt bleibt, was nicht nur sprachlich leicht verunglückt ist, sondern ebenso nach dem Reglement der Höflichkeit: das Wörtchen „kurz“, das eine unerträgliche Einschränkung meiner Freiheit avisiert, da ich möglicherweise geplant hätte, mich für eine sehr lange Zeit im Wartezimmer einzurichten, etwa in Anbetracht einer guten Lektüre.

Im Ernst: hier soll mir suggeriert werden, dass die Wartezeit ohnehin nur kurz ist, ich soll sie aber höflicherweise in meine Verantwortung übernehmen (für den Fall, dass es doch länger dauert). Wie lange werde ich unter diesen Umständen mein Gesicht wahren können?

Im aktuellen SPIEGEL (Nr. 26 / 20.6.2015 Seite 125) macht sich Nils Minkmar gerade Gedanken, ob der heute gängige Konversationsbeginn „Alles gut?“ wirklich geeignet ist, die früher übliche Formel „Wie geht es Ihnen?“ zu ersetzen.

Es war gegenüber der heute beliebten Formel ein nicht invasiver Gruß: Er bezog sich im Verständnis der meisten Zeitgenossen auf die Gesundheit oder den frischen Moment und überließ es weitgehend dem Befragten, wie er es verstehen sollte.

„Alles gut?“ ist dagegen eine fragende Wendung mit nahezu kindlichem Vollkommenheitsanspruch. Wie schockiert wären alle, wenn man sie glattweg verneinte. Es ist der Gruß in einer Kultur, in der auch die Erwachsenen sich jederzeit fühlen möchten wie Pippi Langstrumpf im Süßigkeitenladen, und einer digitalen Ökonomie, die vom Versprechen lebt, dass auch der entlegenste Wunsch … [nein, nein, nein!]

Ich schlage vor, zunächst einmal den Gruß, die Begrüßung, nicht mit dem harmlosest möglichen Gesprächsbeginn gleichzusetzen; es ist doch nur eine Ermunterung, die Andeutung einer Gesprächsbereitschaft (also nach dem „Guten Tag“ oder „Grüß Gott“, bzw. über diesen Gruß, meinetwegen auch über ein erstes „Hallo“, hinaus).

Noch fragwürdiger als die „Alles gut?“-Frage zu Beginn ist wohl die „Alles klar!“-Behauptung zum Abschluss; sie sollte einen nie zu erneuter Nachfrage veranlassen, etwa: was haben Sie gesagt:  A l l e s klar? das hätte ja nicht einmal Aristoteles von sich sagen können! Also könnten Sie mir vielleicht erklären, warum mich der Wandspruch aus einem bayrischen Wirtshaus mein Leben lang verfolgt: „Trink Gott und nicht iß vergiß!“ ??? Und zwar auch, wenn ich gerade den Rätselspruch von aller Weisheit Anfang  an einer Schule betrachte? So steht es wohl heute noch dort als Menetekel an der Wand, im Gasthof Adler neben dem Schloss Kirchheim bei Mindelheim, Bayrisch Schwaben,  in kunstvoll gegliederter, ziselierter Schrift:

Trink          GOTT

Und            Nicht

Iß                 Vergiß

              !

Intoleranz tolerieren?

Inzwischen kehrt sich die Meinung von dem besinnungslosen „Ich bin Charlie“-Bekenntnis, das auf einem spontanen Mitgefühl für die Opfer von Gewalt beruhte, zu einer differenzierteren Betrachtung der Machtverhältnisse. Derjenige, der partiell die Macht übernimmt, weil er im Besitz von Waffen ist, kann sich, aufs Ganze gesehen, in einer Position der Ohnmacht befinden. Seine Lage ist hoffnungslos, er weiß, dass seine Gegenmeinung keine Chance hat, und die Anderen, die diese Meinung mit Füßen treten oder der Lächerlichkeit preisgeben, wissen es auch. Sie sind in einer Position der Stärke.

Man fragt sich jedoch, „ob der höchste Gebrauch, den man von der Meinungsfreiheit machen kann, ausgerechnet in der absichtsvollen Beleidigung einer Religion und in der Kränkung einer Minderheit bestehen muss…“.

Dass beide Prinzipien, das der Toleranz und das der Meinungsfreiheit, derselben Quelle entstammen, verhindert allerdings nicht, dass sie in der Praxis heftig aneinanderstoßen. Man kann aber das eine nicht zurückdrängen, ohne das andere zu beschädigen. Der polnische, seinerzeit in Oxford lehrende Philosoph Leszek Kołakowski hat schon vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass hier eine echte Aporie vorliege. Toleranz gegenüber einer fremden Kultur wird zum Problem, wenn sich diese Kultur ihrerseits durch Intoleranz auszeichnet, wie beispielsweise der Islamismus unserer Tage. Vollendete Toleranz müsste eigentlich den Respekt vor der Intoleranz einschließen. Ist der Respekt vor der Intoleranz aber einmal gewährt, gibt es keinen Grund mehr, der eigenen Kultur nicht ebenfalls das recht auf Intoleranz zuzugestehen. Man könnte also sofort zurückschießen. Oder, anders gesagt: die vollständig tolerierte, einschließlich ihrer Feindseligkeit akzeptierte Minderheit wäre die, die man auch vollständig entrechten könnte. Respekt für einen radikalen Islamisten hieße dann – Guantánamo.

Quelle DIE ZEIT 7. Mai 2015 Seite 47  In den Sackgassen der Toleranz. Sind Mohammed-Karikaturen imperialistisch? Warum zweihundert Schriftsteller in New York gegen die posthume Ehrung der ermordeeten Mitarbeiter von „Charlie Hebdo“ protestieren. Von Jens Jessen

Ein Nachruf auf Kołakowski  (18.07.2009 FAZ) endete mit dem schönen Satz:

Der Selbstvergötterung des Menschen, so Kołakowski, habe der Marxismus den gültigen philosophischen Ausdruck verliehen. Auch diese Idolatrie ende „wie alle individuellen und kollektiven Versuche der Selbstvergötterung. Sie erweist sich als der farcenhafte Aspekt der menschlichen Unzulänglichkeit.“

Mit einem leider etwas komischen musikalischen Bild beginnt Jens Jessen die hörenswerte Coda seines Berichtes über den New Yorker Protest der Schriftsteller:

Den von Minderwertigkeitsgefühlen Gepeinigten sollte man die Melodie ihrer Minderwertigkeit nicht immer aufs Neue vorspielen. Es ist auch richtig, dass der Streit universaler Prinzipien nie im machtfreien Raum ausgetragen wird. Was sich in der philosophischen Logik nicht befriedigend auflösen lässt, könnte sehr wohl in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wenigstens ausbalanciert werden, durch Sinn für Fairness – und sei es, dass die Mehrheit ihre Macht einmal nicht dazu einsetzt, die Minderheit zu verspotten, sondern ihr zu neuem Selbstbewusstsein zu verhelfen.

Insofern haben die zweihundert Autoren, die sich dem Konsens der Karikaturenverehrung entzogen, in New York etwas Großes getan. Sie haben die von Kołakowski bezeichnete Aporie nicht aus dem Weg schaffen können, aber sie haben den Umweg gezeigt, den man auch gehen könnte – und den die politischen Pragmatiker sei Langem schon gehen, auch wenn sie dafür von den Intellektuellen bis vor Kurzem verachtet wurden.

Quelle s.o. DIE ZEIT „In den Sackgassen der Toleranz“ (Jens Jessen)

Noch einmal: Muss der Respekt vor der anderen Kultur – ob wir sie nun in der Ferne als Mehrheitskultur oder bei uns in der Nähe als Minderheitskultur erleben – soweit gehen, dass wir z.B. auch ihre Frauenverachtung respektieren?

Natürlich nicht. Genügt es – frei nach Diderot – den anderen die Möglichkeit zu geben, ihre Meinung über die Stellung der Frau zu artikulieren?

Jens Jessen meint (a.a.O.):

Das Dilemma lässt sich nur lösen, wenn man das Prinzip der Toleranz an seiner Vollendung hindert. Daher die berühmte, schon von Voltaire und anderen im 18. Jahrhundert erdachte Formel: Die Toleranz müsse ihre Grenze an der Intoleranz finden. Mörderischer Fanatismus muss nicht toleriert werden. Für unsere Tage und unseren Konflikt mit der islamischen Welt könnte das aber auch heißen, das eigene Toleranzideal nicht auszureizen, bis es den intoleranten Kern der fremden Kultur erreicht. Wo aber sollte die Grenze sein? Erst bei offener Blasphemie? Oder schon beim Kopftuch oder der notorischen Unterdrückung der Frau?