Archiv der Kategorie: Ästhetik

Wahlverwandtschaften (Lebende Bilder)

Eine vergessene Kunst? Oder bloß ein Spiel?

Wie mein Interesse begann

Schubert und das lebende Bild

Eine andere Beschreibung, die ich durch Zufall in Goethes „Wahlverwandtschaften“ fand und für meine Entdeckung hielt:

Damals gab es doch schon Wikipedia…

https://de.wikipedia.org/wiki/Tableau_vivant hier

Aber wohl noch nicht diese unvergleichliche Website (mit den Erläuterungen zu den lebenden Bildern ab dem Fünften Kapitel):

http://wwwhomes.uni-bielefeld.de/bseiler/Wahlverwandt/kultur.htm HIER

ZITAT aus dieser Arbeit:

Das Titelblatt der Erstausgabe

Die Aufmerksamkeit, die der Roman fand, war groß, das Urteil jedoch keineswegs nur positiv. Von den moralischen Bedenken abgesehen, wurde auch die nicht immer konsequente Erzählweise beanstandet. Wilhelm Grimm schrieb am 22. November 1809 an seinen Bruder: „Ich begreife auch, daß das ganze Verhältnis sehr langsam und sorgfältig mußte entwickelt werden, nur nicht langweilig, wie es mir durchaus ist. Ich erkläre mir es aus der Art der Entstehung des Buchs, weil es durchaus diktiert ist, wo der Faden wohl nicht streng angehalten worden, sondern ganz gemächlich abgehaspelt worden und zuweilen auf die Lehne des Schlafsessels herabgefallen ist.“

Goethe in seinem Arbeitszimmer

Auch wenn Goethe stehend und nicht sitzend diktierte, muss man wohl wirklich die oft umständliche Allgemeinheit der Aussagen auf diese Arbeitsweise zurückführen. Zur Besinnung auf plastische Einzelheiten wird man bei einem vorwärtsdrängenden Diktieren kaum veranlasst.

Zitat-Ende / der Autor:

SEILER Bernd W. Seiler, Januar 2015 hier

Zu Humboldts Kritik: Mir waren bei der Goethelektüre durchaus auch stilistische Schwächen aufgefallen, die sich aus der Praxis des Diktierens ergeben, z.B. die stereotype Verwendung des Wortes „entgegnen“ statt entsprechender Varianten. Andererseits: las er denn das Diktierte nachher nicht mehr durch? –  Mir fiel jedoch das Wort vielleicht nur deshalb auf, weil es heute so viel auffälliger klingt als  „antworten“, das ich nicht moniert hätte.

Ein anderes Thema dieses interessanten Autors:

http://wwwhomes.uni-bielefeld.de/bseiler/Lesmona/ hier

Wegtauchen aus bürgerlicher Enge

Traumwelt der Kindheit, heutige ZEIT-Lektüre

Ich weiß, was man gegen ZEIT-Leser:innen und ZEIT-Autor:inn:en sagen kann und fühle mich nur halb getroffen. Alles in sich Antagonistische scheint mir per se richtig, z.B. die Doppelseite über Martin Walser (von Iris Radisch, Adam Soboczynski und Edgar Selge), also: wo es gerade intrinsisch nachvollzogen wird. So sehe ich die Kunst seit meiner Kindheit und zwar mal mit Unbehagen, mal mit Glücksgefühlen. Durch Distanz und durch Immersion. Verstehe ich dies Wort richtig? Eintauchen, Untertauchen, Aufgehen in … Es ist mir im Zusammenhang mit „Parsifal“ aufgefallen, – was meint Christine Lemke-Matwey damit? Es muss „in“ sein, wenn es so auffällig nebenbei eingesetzt wird. Gestern – eine ZEIT später – fand ich es wieder, bei Hanno Rauterberg und seinem hochmodernen Blick auf Wagners König Ludwig, der irgendwie auch in meine Kindheit gehört: ich lernte mit den Jahren, über seine Schlösser ironisch zu lächeln, während die amerikanische Seifenschaum-Disney-Kultur mich von vornherein abstieß. Eine wohlige Distanzierung von der schrecklich heilen Welt, die als Traum gekennzeichnet war. Wieder eine Ausklammerung. Es muss was Gigantisches sein, aber immer mit kuscheligen Ecken. Hat es mit Wiedergewinnung der (Klein-)Bürgerlichkeit nach den großen Kriegen zu tun? Und meinerseits: eine „Abrechnung“ mit der Generation der Väter. Oder soll ich es Wiederverzauberung nennen?

Neuschwanstein /Wikipedia © Thomas Wolf, www.foto-tw.de (CC BY-SA 3.0 DE)

Weltkulturerbe?

DIE ZEIT Ganz oben

Grimms Märchen 1945 Care aus USA 1947

Die aus engstem Kreis erweiterte Familie

1951 Im Hintergrund der Flügel, an der Wand Wagner. Weiße Bluse Tante Ruth, hinter ihr stehend: Schuldirektor Paul Müller, rechts: Hans Bernhard Reichow, vorne links mein erster Geigenlehrer Gerhard Meyer / 10 Jahre später: Hochzeit Bruder Bernd 1961, der Vater im Mittelpunkt fehlt, links neben mir eine Untermieterin, andere Seite: die Frau meines zweiten Geigenlehrers Hans Raderschatt. Die Eltern meiner Mutter, im Hintergrund der Flügel des toten Schwiegersohnes, der ihnen 1937 den schlimmen Brief geschrieben hatte – und damit bis in die übernächste Generation recht behalten hat.

Die Repräsentanten des alten Lebens (50er Jahre) „da draußen“, auch das Schulkollegium  Ratsgymnasium Bielefeld, mein Klassenlehrer (Nietzsche-Kenner) Lübbert, letzte Reihe oben, der 3. von rechts, und mein Vater: der 5. in der 1. Reihe von links:

Männergesellschaft / mein Vater in Aktion:

Statt als Kapellmeister wirkt er in der Schule und außerhalb, – im „Bielefelder Kammertrio“ – mit Gerhard Meyer und Rainer Ponten: hier – etwas deplaziert mit Arensky-Musik bei Sinalco (!) in Detmold. Lebenslang kann ich das Hauptthema singen.

←Anfang und Ende→ der 50er Jahre:

Artur Reichow (1901-1959)

In der aktuellen ZEIT las ich jedes Wort über Walsers Tod (26.07.23), zu Lebenszeiten (nach der Frankfurter Rede) wenig von ihm.  Obwohl ich mindestens 6 seiner Bücher besitze. Heute Morgen – erstes Kapitel aus „Ein liebender Mann“. Wirklich gelesen. Nie habe ich diese Seite mit den Notenlinien gesehen, die das gurrende Taubenpaar betrifft. Hat Goethe sie wirklich aufgezeichnet? Aber danach: Goethes wirkliche letzte Elegie…

Martin Walser: Ein liebender Mann / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 2008 (S.173) Umschlaggestaltung: Alissa Walser

Zum Thema Taubenruf (Hornbostel) siehe hier.

ZEIT-ZITATE

Die kleinbürgerliche Herkunft Walsers ist in der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur keine Besonderheit (in Frankreich ist so was bis heute eine Sensation), auch die Herren Böll, Enzensberger und Grass waren ja Schreiner-, Postbeamten- und Lebensmittelhändlerkinder. Doch gelang Walser mit seiner magischen Mixtur aus kleinbürgerlichem Strebertum, Tief- und Eigensinn plus höherem Klamauk eine literarische Tiefenbohrung kleindeutscher Gefühlslagen, die auch in dieser Liga absolut einmalig waren.

↑ Iris Radisch

Ich mochte Ein liebender Mann , aber ich verehre den Roman nicht. Ich verehre die frühen Romane, vor allem Ehen in Philippsburg, den so präzisen, kühlen Roman über den hässlichen Ehrgeiz der Nachkriegsgesellschaft. Ein liebender Mann ist warmherzig und poetisch, über weite Strecken mehr Gedicht als Roman, aber er grenzt, wie fast alle seiner Alterswerke, auch ans Kokette, ans peinlich Offenherzige. Goethe als Walser, Walser als Goethe, ein Mensch kraftvoll mit sich im Reinen…

↑ Adam Soboczynski

Und das ist deshalb etwas Besonderes, weil Erfahrungen, wie Martin Walser sie beschrieb, einen wesentlichen Widerspruch offenbarten: Sie waren einzigartig, durch und durch subjektiv, an sein persönliches Erleben gebunden und doch teilbar, also nachvollziehbar, und in der Art, wie sie Sprache wurden, im Augenblick der Formulierung so real und verbindend, dass sie für unzählige Menschen, die ihm begegneten, zu Bausteinen ihrer Welt wurden.

↑ Edgar Selge

Noch einmal zurück zur „Männergesellschaft“ des Ratsgymnasiums Bielefeld: Sie sehen, dass ich alle Anlässe wahrnehmen, um individuelle, halb private, halb übergreifende Netze zu spinnen.

Über viele von den abgebildeten Lehrpersonen könnte ich Geschichten erzählen: Kuhlmann – falsch und böse;  Oberwahrenbrock – versuchte auf Langeoog angebliche Homosexualität unter Schülern zu ahnden, Röttger – ihm verdanke ich eine schallende Ohrfeige für eine Lappalie; Fränzchen Wiese – listig, aber Alkoholiker; vorn in der Mitte Winkler – Homer-Kenner, geheimnisvoller Mensch, leise, gerecht und weise; vorn links – wie gesagt mein Vater, vorne rechts (mit Fliege) Hellmuth Dempe, Philosoph. Von den beiden Letztgenannten hat meine Mutter einen Streit überliefert, irgendeine (politische?) Prestigesache, Rechthaberei, beim zufälligen Aufeineinandertreffen im Freudental an der Bielefelder „Promenade“, also gemeinsam Kaffeetrinkend bis zum erregten Abbruch… Von diesem Philosophen Dempe ist ein Buch herausgekommen, eingeleitet von Frieder Lötzsch , der damals übrigens Klavierschüler meines Vaters war: hier. Ich besitze es (noch!) nicht. Was ich gern wüsste: Ob er „im einfachen Leben“ meinem Vater überlegen war, der einige Wochen später starb? Ob er Überlegenheit auskostete? Musste das sein?

(Nachtrag am 8.9.2023)

Ich bin heute ausgegangen von der Lektüre der ZEIT vom 3. August 2023, Thema u.a. der Tod von Martin Walser, von dem ich seit Jahrzehnten nichts mehr gelesen habe, – außer „Ein fliehendes Pferd“ -, vielleicht aufgrund seiner skandalösen Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Iris Radisch geht darauf ein. Ich würde darüber nicht mehr diskutieren wollen, stattdessen lieber „Ein liebender Mann“ lesen.

Natürlich interessiert mich das lange Statement der ZEIT auf Seite 1 zur Einschätzung der AfD:

Die AfD ist eine Protestpartei. Sie wird von vielen Menschen nicht aus innerster Überzeugung gewählt, sondern aus Unzufriedenheit mit der etablierten Politik. Aber man sollte sich als Wähler schon darüber im Klaren sein, mit welchem politischen Feuer man da spielt. Sonst brennt es irgendwann. Noch legt die AfD vor allem in den Umfragen zu. Wenn ihr das bei Wahlen gelingen sollte, ist es zu spät.

Quelle ZEIT 3.8.23 Keine Alternative Die AfD radikalisiert sich zunehmend und wird damit zur Gefahr für den Standort Deutschland / Von Mark Schieritz

Und was mich ebenso interessiert, ist der andere Leitartikel. Angesichts der katastrophalen Haltung der Katholischen Kirche in Sachen Pädophilie vergisst man fast die Frage: sieht es etwa bei der evangelischen Kirche besser aus?

Quelle ZEIT 3.8.23 Sie ist nicht heiliger Erstmals lässt die evangelische Kirche Pädophilie in iher jüngsten Geschichte untersuchen. Warum so spät? / Von Evelyn Finger

Es sind doch gerade die Jahrzehnte, in denen eine neue Aufklärung stattfinden sollte; was in den 50er Jahren nicht gelungen war, sollte nun auf eine neue Grundlage gestellt werden. Und es waren nicht nur die 68er, die daran arbeiteten, es waren die Antiautoritären, die Kinseys, die Sexologen, Arno Plack mit dem Bestseller: „Die Gesellschaft und das Böse“, 1970 eine ganze rororo-Reihe, herausgegeben vom Institut für Sexualforschung an der Universität Hamburg, da erschienen „reihenweise“ Aufklärungsbücher wie „Repressive Familienpolitik“, „Sexualunterdrückung“ oder „Sexualerziehung“, dies letzte aus der Feder von Helmut Kentler !!! Siehe den hier gegebenen Wikipedia-Link, an den sich offenbar der Wortlaut dieses Leitartikels anlehnt, es taucht  auch die ZEIT mit Adam Soboczynski auf :

DIE ZEIT 3.8.23

*    *    *

Was fehlt? Es genügt nicht, auf die alten Schlösser (Neuschwanstein, Versailles, Bayreuth etc.) zurückzuschauen und zu sagen: gut für den Tourismus, gut für die Wirtschaft. Und: es ist ja doch Kultur, die wir brauchen: die großen Träume!  Wir wollen ja keineswegs die Weltzustände von damals zurück. Zur Ergänzung des AfD-Artikels gehört z.B. die Analyse im „langweiligen“ Teil der ZEIT: über das Momentum in der Politik, – die AfD ignoriert die Klimawende, auf die allerdings die Politik tatsächlich „ungeschickt“ reagiert hat. Das zu beschreiben und zu verstehen, braucht Zeit und Geduld. Verweis auf die Energiepolitik der Dänen und Schweden. Einfacher ist bloßer Protest. „Kaum etwas verunsichert die Menschen im Land mehr; man muss sich da gar nichts zurechtbiegen, um die Umfrageerfolge der AfD zu verstehen. Wollen wir nicht auch in dieses gelobte Energieland, das sich gleich hinter der Grenze im Norden erleben lässt? (…) Selten wurde für so viel politischen Einsatz und so viel gesellschaftlichen Schaden so wenig Konkretes erreicht.“

Quelle DIE ZEIT 3.8.23 Seite 25 Aus dem Takt gekommen Die Bundesregierung verschwendet ungeheuer viel politische Energie im Ringen um die Klimawende – Zeit für ein neues Zusammenspielt / Von Uwe Jean Heuser

Was hat mein Vater damit zu tun? Seine Zeit muss überwunden sein. Endgültig hinter uns liegen. Die Träume auch. Allenfalls brauchbar als eine gedankliche Übung.

Eilige Bayreuth Notizen 2023

Parsifal Mediathek bis 23.08.2023 / auf BR bis 31.Dezember 2023

im Wohnzimmer: Doppelt verminderte Realität

Ich denke zurück an die Realität des Filmes über die Amzari-Sängerin

… an die ZEIT-Lektüre:

Auch Wagner hätte, angesichts des ungeheuerlichen Potentials von AR, VR (Virtual Reality) und KI (künstlicher Intelligenz), wohl keinen Parsifal geschrieben, der fünf Stunden lang um die Leerstelle des Weiblichen kreist und in dem Frauen nur als verdammte Verführerinnen oder notdürftig geläuterte Kräuterhexen vorkommen; kein Musikdrama, in dem es so pseudoliturgisch-kunstreligiös-buddhistisch-hinduistisch-alchemistisch wallt und wabert, dass man kaum den Plot mitkriegt: die Geschichte des Schwanentöters und Erlösers Parsifal, der durch Kundrys Kuss »welthellsichtig« wird und erkennt, dass es Amfortas, dem Gralskönig, und seinen siechen Rittern weniger an Energie gebricht oder an esoterischen Kraftquellen als an Menschlichkeit und Mitleid.

Christine Lemke-Matwey

Im Wohnzimmer (unter des Miniatur-Beethovens Aufsicht):

Am Schreibtisch mit Computer: Musik im Höreindruck viel besser („Reduced Reality“)

Wie wär’s mit Parsifal im Handy? Etwa als Bußübung.

Hier Mediathek Gesamtaufführung bis 23.08.23

BR Hier bis 31.12.23

Weiteres zur Aufführung hier zu Augmented Reality hier

Inhaltsangabe lesen: Inakzeptables von vornherein – „im Kampf gegen den abtrünnigen Ritter Klingsor, der trotz seines Verlangens nach Heiligkeit nicht fähig war, ein reines Leben zu führen und sich deshalb selbst entmannte und eine Zauberburg geschaffen hat, den heiligen Speer verloren, als er sich von der dämonischen Kundry verführen ließ.“

Zwischen den Akten 1. Pausengespräch mit Jay Scheib 2. mit Sängerin der Kundry Elina Garanca

Gralsritter: „Gemeinschaft der Kobaltminenarbeiter“ siehe Anfang 1.Pausengespräch  mit Jay Scheib

Kobaltbergbau

Stichwort: „Coltan“ Jean Ziegler

Milo Rau Ausbeutung hier

Zu Wagners Vorstellungen über „Kunstreligion“ im Zusammenhang mit „Parsifal“ siehe HIER

ZEIT-Lektüre:

Die eigentliche Hypothek der Aufführung aber liegt, man staune, in der erschwerten Zugänglichkeit der Musik. Die Sinne sind an diesem Abend schlicht überfordert. Und so schiebt sich das Auge vors Ohr. Das mag eine Frage der Übung und der Erfahrung sein. Aber geht so Immersion? Entspricht das Wagner?

Christine Lemke-Matwey

Quelle DIE ZEIT 27. Juli 2023 Seite 39: PARSIFAL / Mit Brille sieht man doppelt: In Bayreuth wird Richard Wagners letztes Werk jetzt digital erweitert – Revolution oder Budenzauber? Von Christine Lemke-Matwey

Den Wagnerverächtern ins Stammbuch – die gewaltigste Stelle des Werkes (s.o.): Mediathek ab 1:04:39 / BR ab 01:00:22

der meistzitierte Satz: „Du siehst mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“.

Der größere Text-Zusammenhang und die Motiv-Tafel:

Quelle: Richard Wagners MUSIKDRAMEN Sämtliche komponierten Bühnendichtungen / durchgesehen, mit den ursprünglichen Fassungen verglichen, mit Einleitungen sowie den hauptsächlichsten Motiven und Notenbeispielen versehen, nebst einem Vorwort, einem Anhang und einer Zeittafel aus Wagners Leben herausgegeben von Edmund E.F. Kühn / Globus Verlag G.m.b.H., Berlin W 66 / 1914 / JR Berlin 7.7.1960

Man muss zum Verständnis eigentlich keine Esoterik bemühen, auch nicht in kühnem Vorgriff auf Einstein dessen Relativitätstheorie beschwören, sondern vielleicht dasselbe tun wie Wagner, der sich an die Philosophie hielt, schon seit 1854, als er auf dem Weg zum „Tristan“ Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ viermal hintereinander las. Wir lesen den hier wiedergegebenen Dramentext, auch das Kleingedruckte: wie die beiden Protagonisten zu schreiten scheinen (!), „verwandelt sich die Bühne von links nach rechts hin in unmerklicher Weise: es verschwindet der Wald; in Felsenwänden öffnet sich ein Tor, welches nun die beiden einschließt; dann wieder werden sie in aufsteigenden Gängen sichtbar, welche sie zu durchschreiten scheinen“ (!). Verwandlung auch in der Musik, Chromatik („Heilandsklage“), Modulation, Diatonik, das feierliche Schreiten, das Glockenläuten, schließlich folgt der Ritus, den man in der katholischen Kirche Wandlung nennt. Und wir suchen Ähnliches in dem faszinierenden Text, der uns die Grundbedingungen unseres Bewusstseins und unserer Begriffsbildung zu erschließen scheint (!):

Quelle Arthur Schopenhauer: Werke in zwei Bänden Bandt 1 Herausgegeben von Werner Brede

Es kann nicht schaden, damit noch lange fortzufahren. Dann Musik mit verwandelten Ohren zu hören. Oder zu warten, bis man den zerschmetterten Kobaltblock zu Parsifals Füßen erlebt hat, den grünen Tümpel, den sie durchwaten, und Wagners Ideen von Erlösung beiseitezuwischen. Bayreuther Publikum strömt heraus. Die trostlose Erde hat uns wieder!

Adorno noch einmal

Von der Terz und der Zersetzung der musikalischen Sprache

Adorno 1960 in Berlin

Quelle Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik / Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1958 (Seite 76 f)

1993 Beethoven-Buch + umgeblättert:

… „der gleiche Tatbestand nach seinen verschiedenen Aspekten. Wie aber, wenn schließlich der Ausdrucksdrang gegen die Möglichkeit des Ausdrucks selber sich kehrte?   [141]“

Quelle Theodor W. Adorno: Beethoven / Philosophie der Musik / Fragmente und Texte herausgegeben von Rolf Tiedemann / Suhrkamp Frankfurt am Main 1993

P.S. Natürlich war mir damals klar, dass man diese (hier isolierten) Äußerungen Adornos nicht grundsätzlich als gegen die Idee der „Zwölftonmusik“ gerichtet verstehen darf.

Vom Salon mit Chopin

JR 6.12.1966 Solingen

Quelle Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie / Zwölf theoretische Vorlesungen / Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1962

Chromatische Tonsprache und kujawische Motivik (s.a. hier)

Tadeusz A. Zielinski Chopin Lübbe 1999

Universalität?

Museum und integrales Konzert

Ich hätte damals noch etwas ergänzen können oder müssen: aus Adornos Kritik am Persönlichkeitsideal (jetzt 24.07.23 wiedergelesen, damals in „Stichworte“ von 1969, zuvor auch im Radio gehört):

So gehört es zur eisernen Ration pädagogischer Theorien, die auf der Höhe der Zeit sein möchten, das Humboldtsche Bildungsziel des allseitig entwickelten und ausgebildeten Menschen, eben der Persönlichkeit, abzufertigen. Unvermerkt wird aus der Unmöglichkeit, es zu verwirklichen – wenn anders es je verwirklicht gewesen sein sollte -, eine Norm. Was nicht sein kann, soll auch nicht sein. Die Aversion gegen das hohle Pathos der Persönlichkeit tritt, im Zeichen eines angeblich ideologiefreien Realitätsbewußtseins, in den Dienst der Rechtfertigung universaler Anpassung, als ob diese nicht ohne Rechtfertigung bereits allerorten triumphierte. Dabei war Humboldts Persönlichkeitsbegriff keineswegs einfach der Kultus des Individuums, das wie eine Pflanze begossen werden soll, um zu blühen. So wie er noch die Kantische Idee »der Menschheit in unserer Person« festhält, hat er zumindest nicht verleugnet, was bei seinen Zeitgenossen Goethe und Hegel im Zentrum der Lehre vom Individuum steht. Ihnen allen kommt das Subjekt zu sich selbst nicht durch die narzißtisch auf es zurückgezogene Pflege seines Fürsichseins, sondern durch Entäußerung, durch Hingabe an das, was es nicht selbst ist. In Humboldts Bruchstück ›Theorie der Bildung des Menschen‹ heißt es: »Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nichtmensch, d.h. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.« Den großen und humanen Schriftsteller konnte man einzig dadurch in die Rolle des pädagogischen Prügelknaben hineinzwängen, daß man seine differenzierte Lehre vergaß.

Quelle Theodor W. Adorno: Stichworte / Kritische Modelle 2 / darin: Glosse über Persönlichkeit / Suhrkamp Frankfurt am Main 1969 / Zitat Seite 54

Damals schon früher aus der Radiosendung mit Adorno notiert:

Zumindest Negatives läßt über den Begriff eines richtigen Menschen sich sagen. Er wäre weder bloße Funktion eines Ganzen, das ihm so gründlich angetan wird, daß er dovon nicht mehr sich zu unterscheiden vermag, noch befestigte er sich in seinern puren Selbstheit; eben das ist die Gestalt schlechter Naturwüchsigkeit, die stets noch überdauert. Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlicheit, aber auch nicht unter ihr, kein bloßes Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: »Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!«

*    *     *

P.S. Und heute nach 54 Jahren ein Wermuthstropfen in Adornos Hölderlin-Zitat? der – doch so ermutigende – letzte Halbsatz lautet im Original womöglich anders: nämlich so. (nein! Aufklärung folgt)

Fazit: auch angesichts höherer Autoritäten lohnt sich die Überprüfung von Zitaten ebenfalls hoher oder höherer Autorität. Oder? Am Ende behält gar die Philologie das allerletzte Wort…

Kritischer Bericht Seite 305 – 322, hier wiedergegeben Seite 316 – 319 / und die letzte Fortsetzung von „Dichtermuth“:

Neue Links zu Hölderlins Ode „Dichtermut“  1. Fassung 2. Fassung und Wikipedia hier (darin Link zu Versmaßen). Neue Ermutigung, Hölderlin selbst im Original zu suchen und verstehen zu lernen, gefunden bei Roland Reuß in dem sehr lesenswerten Buch „Ende der Hypnose“, Zitat:

Quelle Roland Reuß: Ende der Hypnose Vom Netz zum Buch / Verlag Strœmfeld Frankfurt am Main 2012 ( hier )

Patmos bei Wikipedia hier

Nachahmung der Natur!

Aber was hat z.B. die Musik damit zu tun?

s.a. hier und hier

Wer auch nur eine vage Vorstellung hat von dem, was „Nachahmung der Natur“ bedeuten könnte oder sollte, wird auf der zweiten Seite in Blumenbergs Abhandlung stutzig, wenn er im Namen des griechischen Philosophen, der den Begriff erfunden hat, einräumt: „Dieses Einspringen der »Kunst für die Natur« geht so weit, dass Aristoteles sagen kann: wer ein Haus baut, tut nur das, was die Natur tun würde, wenn sie Häuser sozusagen »wachsen« ließe.“ In der Anmerkung ergänzt Blumenberg, dass bei Aristoteles „jene uns (zumindest hypothetische) unausweichliche Ursituation, in der noch nichts ist oder auch etwas von bestimmter Spezifität noch nicht ist,“ gar nicht vorkommt.

So wird uns durchsichtiger, wie die neue Ästhetik der Aufklärung es fertigbrachte, selbst für die Musik die Forderung von „Nachahmung der Natur“ gelten zu lassen, obwohl doch ihr Material keinem realen Phänomen nachgebildet ist und gerade die Nachahmung von natürlichen Geräuschen nicht als ästhetisch relevantes Phänomen gewertet werden soll. Unvermittelt kommt das Wort „belebt“ ins Spiel.

Charles Batteux (nach Dahlhaus „Musikästhetik“)

Zitat aus Wikipedia Batteux:

Mit seinem Werk Les beaux-arts réduits à un même principe (Die schönen Künste zurückgeführt auf ein einheitliches Prinzip, 1746) versuchte er die Naturnachahmung zu einem gemeinsamen Grundprinzip aller Künste zu machen – zumindest im Sinne der vraisemblance: Die Handlung muss wahrscheinlich, glaubwürdig sein (…)

Du Bos glaubte zu wissen (MGG Aufklärung), „daß die Künste weniger die äußerliche Gestalt der natürlichen Vorbilder nachahmen als die Wirkung, die von ihnen ausgeht.“ – „Poesie ist das Vorbild der Vokalmusik und diese ist das Vorbild der Instrumentalmusik.“

Man reflektiert einerseits die gegebene rationale Struktur der Musik. „Zum anderen zählt die Erkenntnis, daß die Stärke und die Pflicht der Musik darin bestehe, Gefühle und Leidenschaften auf vergnüglich Weise nachzuahmen und zu erregen, zu den zentralen Einsichten der Aufklärung. Batteux weiß, daß die Affekte, die die Poesie nur grob benennen kann, unendlich zu nuancieren vermag, so fein, daß keine Sprache fähig wäre, ihr darin zu folgen.“ (MGG) Ein Problem blieb die reine Instrumentalmusik. „Es ist unverkennbar, daß die Komponisten dem Verlangen des Publikums nach vernünftigen Stützen dadurch nachzukommen versuchen, daß sie die Musik mit Überschriften und Programmen verbinden. Es ist darüberhinaus offensichtlich, daß die Forderung nach Vermenschlichung der Kunst einen starken ›semantischen Druck‹ (Gülke 1984) auf die Instrumentalmusik ausgeübt hat. Sie bemüht sich, menschliche Gefühle auszudrücken, moralische Charaktere und Menschenbilder darzustellen. Einiges spricht dafür, daß der wachsende Sinn für die Autonomie der Musik Kompositionsentscheidungen beeinflußt. Haydn (etc…)“

Quelle MGG (Sachteil, neu): Artikel Aufklärung, Autor Wilhelm Seidel

Zurück zum Häuserbau des Aristoteles! Mir fällt ein, was Nikolaus von Cues zu Ehren des Laien gesagt hat, schon um ihn gegenüber dem Kleriker abzugrenzen: zum Beispiel zur Löffelschnitzerei (Blumenberg S. 11f). „Es ist von unschätzbarer signifikativer Bedeutung, dass hier das ganze Pathos des schöpferisch-originären Menschen und der Bruch mit dem Nachahmungsprinzip beim technischen, nicht beim künstlerischen Menschen hervortreten. Diese Differenz wird hier wohl zum ersten Male positiv betont, und darin liegt wesentlich der Wert des Zeugnisses, wenn man sich gegenwärtig hält, wie fast ausschließlich sich in der Folge die Bezeugung des Schöpferischen auf bildende Künste und Poesie konzentriert: dass dort der Autor von sich selbst und seiner schaffenden Spontaneität zu sprechen beginnt, gehört seit dem Ende des Mittelalters geradezu zur Erscheinungsform der Kunst.“

Blumenberg führt als weiteres Beispiel für die Entdeckung des technischen Geistes die Brüder Wright an, die sechs Jahre vor ihrem ersten Flug ein Buch über Ornithologie in die Hand nahmen und sich fragten, „warum der Vogel eine Fähigkeit besitzen sollte, die der Mensch nicht durch maßstäbliche Nachbildung der physischen Mechanismen sich aneignen könnte“. Sie begiunnen als mit demselben Topos wie vorher Leonardo da Vinci und Lilienthal. „Der Hiatus liegt zwischen Lililienthal und Wright: die Flugmaschine ist gerade dadurch wirkliche Erfindung, dass sie sich von der alten Traumvorstellung des Vogelflugs freimacht und das Problem mit einem neuen Prinzip löst: „wie die Verwendung der Luftschraube, denn rotierende Elemente sind von reiner Technizität, also weder von imitatio noch von perfectio herzuleiten, weil der Natur rotierende Organe fremd sein müssen.“

Anders als Blumenberg würden wir Musikbesessenen beim Beispiel aus der gefiederten Lebenswelt als nächstes den Gesang der Vögel assoziieren, der auch als Vorbild für den Musiksinn der Menschen gedeutet worden ist. Womit allerdings – trotz Messiaen – der Gedankengang der Nachahmung schnell im Sande verliefe.

*    *    *

Zwischenfrage: was ist mit der Affektenlehre? Werden die Affekte nachgebildet, dargestellt, nachgeahmt, oder werden sie zum Ausdruck gebracht? Kommen sie „von innen“ oder werden sie einem fixen Reservoir entnommen? Tatsächlich hat man wohl zuerst die Bewegungsweise der musikalischen Tonfolgen (und ihre suggestive Wirkung) für wesentlich gehalten, etwa die des Schreitens, Laufens, Springens, und sie mit den Affekten des Menschen äußerlich in Zusammenhang gebracht, denen der Trauer, der Andacht, der Freude, der Raserei. Äußerlich: d.h. mechanisch darstellbar, das richtige Tempo genügte. Es bestand kein Bedarf, von dem Tonwerk auf das Innere des Interpreten zu schließen. Man konnte mit unbewegter Miene rasende Läufe vortragen. Man musste es nur können, nicht die Freude empfinden (worüber denn?), vielleicht auch hervorrufen (oder auch Ärger, z.B. in der falschen Situation). Man verwechsele nicht die Freude , die mit dem Affekt gegeben ist, mit der Freude, die in der schieren Verklanglichung liegt, und sich durchaus mit der Darbietung eines Trauermarschs einstellt. Erst die Verbindung mit einem Text konnte differenziertere Bedeutungen suggerieren.

Zitat 1717

An seinem Clavecin soll man eine gefällige Miene zur Schau tragen. Man hefte den Blick nicht starr auf einen bestimmten Gegenstand, schicke ihn aber auch nicht allzusehr ins Leere: endlich – man blicke eine Gesellschaft, so eine vorhanden ist, an, als ob man gar nicht anderweitig beschäftigt wäre. Dieser Rat ist natürlich nur für die bestimmt, die ohne Hilfe der Noten spielen.

Quelle François Couperin: L’Art de toucher le Clavecin / Herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Anna Linde / Breitkopf & Härtel, Wiesbaden (1717) 1933 (Seite 11)

Zitat 1753

§. 13. Indem der Musickus nicht anders rühren kan, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affeckten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestallt am besten zur Mit=Empfindung. Bey matten und traurigen Stellen wird er matt und traurig. Man sieht und hört es ihm an.

Quelle Carl Philipp Emanuel Bach: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen hier und hier 1753/1762

Carl Dahlhaus ( rote Hervorhebungen JR)

Die Vorstellung, daß es das Ziel der Musik sei, Affekte darzustellen und zu bewirken, ist ein Topos, der nicht weniger tief in die Geschichte zurückreichte als die Gegenthese, daß Musik tönende Mathematik sei. Isidor von Sevilla formulierte, gestützt auf antike Traditionen, im 7. Jahrhundert: „Musica movet affectus, provocat in diversum habitum sensus“. Und zwei Jahrhunderte später kehrt der Satz, daß Musik die Affekte bewege und den Hörer in wechselnde Gemütszustände versetzte, bei Hrabanus Maurus wieder. Musik, die nicht die Leidenschaften rührt, ist toter Schall.

Allerdings setzte die Affektenlehre, so sehr sie die Wirkung der Musik, die Bewegung des Gemüts hervorkehrte, eine primär gegenständliche, objektivierende Auffassung musikalischer Gefühlscharaktere implizit voraus. Die sprachliche Konvention des 19. Jahrhunderts, von „Ausdruck“ oder „Stimmung“ zu sprechen, ist, sofern von Musik vor der Mitte des 18. Jahrhunderts die Rede ist, irreführend oder mindestens mißverständlich. Die Bezeichnung „Ausdruck“ läßt an ein Subjekt denken, das hinter dem Werk steht und in der musikalischen „Empfindungssprache“ von sich selbst redet, das Wort „Stimmung“ an einen Gefühlskomplex, in den sich der Hörer versenkt, zurückgewendet auf seinen eigenen Zustand. Musikalische Gefühlscharaktere werden aber, wie Kurt Huber (Der Ausdruck musikalischer Elementarmotive, 1923) gezeigt hat, primär gegenständlich aufgefaßt. Der Eindruck des Ernsten, Trüben oder Matten wird unwillkürlich dem Tongebilde selbst als Eigenschaft zugeschrieben. Das melodische Motiv drückt zunächst, bei unbefangener Wahrnehmung, nicht Mattigkeit aus und versetzt auch nicht in eine matte Stimmung, sondern erscheint selbst als matt. Erst später, wenn überhaupt, wird der gegenständliche Gefühlseindruck als Zustand erfahren oder als Zeichen gedeutet: Sowohl der Übergang in eine Stimmung, die der Hörer als seine eigene empfindet, als auch die Vorstellung, daß der Gefühlscharakter Ausdruck einer Person, eines Subjekts hinter der Musik sei, sind sekundär. Zwar sind die verschiedenen Momente nicht scharf gesondert; sie fließen, oft unmerklich, ineinander, und es kann sich stets nur um ein Hervortreten, nicht um eine ausschließliche Herrschaft der einen oder anderen Funktion handeln. Doch ist bereits der Wechsel der Akzentuierung wesentlich genug, um Epochen in der Entwicklung der Gefühlsästhetik voneinander abzuheben.

Quelle Carl Dahlhaus: Musikästhetik / Musikverlag Hans Gerig Köln 1967 / Zitat S.29f

     *     *     *

Eine gründliche Lösung verspricht die Arbeit von Birgit Recki: Mimesis: Nachahmung der Natur. Kleine Apologie eines mißverstandenen Leitbegriffs

Sie kennt offenbar Blumenbergs Arbeit nicht, zitiert aber wichtige Autoren, die zum Thema gehören (z.B. Valéry mit „Eupalinos“) / doch, sie kennt  ihn genau – vgl. Anmerkg. 6 Siehe die eingehende Auseinandersetzung mit Platons Höhlengleichnis bei Hans Blumenberg: Höhlenausgänge, Ffm. 1989. / 47 In einer eingehenden problemgeschichtlichen Reflexion auf die Übergänge zwischen der Antike, dem Mittelalter und der frühen Neuzeit ist dieser Gedanke entwickelt bei Hans Blumenberg: „Nachahmung der Natur“. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, 55 – 103. / 53 In diesem Zusammenhang gilt es, das ursprüngliche Eingreifen der Technik in die alltägliche wie auch die künstlerische Ausdrucksproduktivität angemessen zu berücksichtigen. Die Aneignung der gegebenen Gestalt im identisch reproduzierten Resultat geschieht stets über die kultivierten Fähigkeiten, das Können, die Beherrschung äußerer Mittel, deren Inbegriff die Technik ist. Zum Komplex von Natur, Kunst und Technik siehe die stark an Gehlen angelehnten, deutlich gegen Heidegger gerichteten, immer noch richtungsweisenden Ausführungen bei Hans Blumenberg: Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem, in: Studium generale, Jg. 4, Heft 8, 1951, bes. 465 f.

Birgit Recki (Zitat):

Wenige Intuitionen dürften wohl dem zeitgenössischen Kunstbegriff so selbstverständlich sein wie die, daß die „Nachahmung der Natur“ zu den Ladenhütern des künstlerischen Selbstverständnisses zu zählen ist. Da sieht es vorderhand nach einer Rehabilitierung aus, wenn zuletzt Arthur C. Danto in seiner eingehenden Erörterung zum ontologischen Problem des Kunstwerks auch die Auseinandersetzung mit der Mimesis als künstlerischem Rahmenprogramm wieder in den ästhetischen Diskurs aufnimmt.1 Mit einigem Scharfsinn führt er dabei im Anschluß an Nietzsches Tragödienschrift den Hintersinn dessen vor, was man – als Epiphanie oder Repräsentation – unter Darstellung zu verstehen hat 2, und überhaupt enthält der Vergleich mit magischen Praktiken im Bereich religiösen Sinnerlebens mehr als nur einen Fingerzeig auf die Bedeutung, die dem Mimetischen zukommt. Mit dem Rekurs auf die Aristotelische Beobachtung, für unser Vergnügen an Nachahmungen sei das Wissen um deren Charakter konstitutiv 3, ist überdies bereits mehr als die halbe Wegstrecke zu der Einsicht zurückgelegt, daß wir es bei der Nachahmung immer auch mit einer Reflexionskategorie zu tun haben, das Problem der Nachahmung mithin weitaus komplexer ist, als es sich auf den ersten Blick ausnimmt. Bei alledem ist es dann verblüffend, wie wenig Danto systematisch in der Frage der Mimesis zu sagen hat. Von einem im Sinne des üblichen Vorurteils halbierten Platon übernimmt er bei aller Differenzierung mimetischer Vorgänge schließlich doch den Topos von der bloßen „Verdoppelung“ der Realität, so als ob Nachahmung darin aufginge.

weiter: hier

stets gewinnt die Natur ihre Bestimmung erst in der Konfrontation mit ihrem jeweiligen Gegenbegriff. Sowie wir aber nur einen Augenblick länger darüber nachdenken, bedeutet das Natürliche uns dabei allemal das Ursprüngliche, in letzter Instanz Unverfügbare, das in der Reflexion auf das Ganze zugleich als der Bedingungsrahmen für das spezifisch Andere gedacht werden muß. Wir haben daher gute Gründe, die Natur nicht allein als den Inbegriff der außer uns und unabhängig von unserem Eingriff vorkommenden Dinge zu begreifen, sondern vielmehr als den Inbegriff der wirkenden Kräfte, in deren Gesetzmäßigkeiten eingelassen wir auch uns selbst noch vorfinden und die wir immer auch an uns selbst erleben können.

Aber inzwischen ist das als Natur und als natürlich Denkbare in seiner Komplexion so differenziert entfaltet, daß wir uns auch in diese falsche Alternative nicht länger drängen lassen müssen. Wir können eben heute über die Natur anders nachdenken als das Mittelalter; insofern ist das Neue an der Moderne in dieser Frage in letzter Instanz womöglich gar nicht darin zu sehen, daß man sich im Namen des genuinen Menschenwerkes endgültig von der nötigenden Verbindlichkeit der Natur abkehren kann – sondern eher darin, daß die abstrakte Entgegensetzung des menschlichen Beitrages und der Natur selbst noch in der Einsicht von einer weitaus tieferen und zugleich bei weitem geschmeidigeren Verbindung aufgehoben wird.

am Ende:

All dies sind bereits Beispiele für mimetische Vorgänge, auch wenn sie sich in elementareren Bereichen der physiologischen und psycho-physischen Reaktion abspielen als die Prozesse der künstlerischen Produktion und der ästhetischen Rezeption. Doch wenn man zudem bedenkt, wie leicht ein beschwingter Schritt in Tanz 55, eine ausdauernde Klage in Litanei oder Gesang, ein drastisches Nachäffen in Pantomime übergeht – wenn man sich etwa die mimische Reaktion Charlie Chaplins auf den Schrecken vorstellt, der Adorno befiel, als er bei der Begrüßung eines Kriegsversehrten unerwartet eine Prothese statt einer anderen menschlichen Hand in der seinen hielt 56: Dann hat man Beispiele für jenen fließenden Übergang von Kunst und Leben, wie er Dewey in seinem metaphysischen Naturalismus vorgeschwebt hat. 57

Was ist und was bedeutet das, was sich da abspielt? Etwas nachahmen zu können, und sei es tatsächlich nur im Sinne einer Imitation: Muß man nicht davon ausgehen, daß hier in jedem Falle eine lustvolle Erfahrung gemacht wird? Eine Erfahrung, die sich wohl treffend mit der Formel ausdrücken ließe, welche bei Kant allein den schönen Dingen reserviert ist: Sie „zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe“. 58 In der Fähigkeit, das – und sei es am eigenen Leib – als unabhängig von uns selbst Erlebte durch mimetischen Nachvollzug welchen Grades auch immer auf uns zu beziehen, wird eine Entsprechung, ein grundlegendes Passen unserer selbst in den als das andere unserer selbst vorgefundenen Zusammenhang erlebt – eine Entsprechung, die wir wohl gar nicht anders denn als befriedigend erleben können.

In jedem dieser Fälle handelt es sich bereits um eine Steigerung des Eindrucks durch die Betonung des Ausdrucks.

(noch nicht endgültig, Lektüre intensivieren)

Bloch über Bach

Schwer zu ertragen

Achtung, es geht um „eine in Bachs Musik verborgene Latenz„:

In Ernst Blochs „Geist der Utopie“ spielt die Musik eine besondere Rolle, – für mich allerdings immer unersprießlich. Wobei mir nicht klar wurde, warum: zu wenig konkret, zu hymnisch, zu „expressionistisch“. Gerade zu der Zeit, als ich systematisch Adorno las, auch Herbert Marcuse, und Blochs Kontakte zu Rudi Dutschke und den linken Studenten eindrucksvoll im Fernsehen erlebt hatte. Ich hatte die Erstausgabe geschenkt bekommen und wusste sie nicht recht zu schätzen. Schon in der Schule hatten wir rühmend vom „Prinzip Hoffnung“ gehört (im Fach Religion!!!), ich hatte auch etwas positiv Getöntes in Erinnerung behalten. Dazu ein schlechtes Gewissen, sooft ich dem interessanten Inhaltsverzeichnis ins Innere des Werkes gefolgt war:

Und nun finde ich prägnant beschrieben, warum es so kommen musste. Schließlich hatte ich auch Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“ gelesen…

Das Buch von Nicola Gess über das Staunen muss ich nun aus eben diesen aufklärerischen Gründen hervorheben, hier ein winziger Ausschnitt:

Quelle Nicola Gess: Staunen Eine Poetik / Wallstein Verlag Göttingen 2019

Ein staunenerregendes Buch, – wollen Sie es entziffern? Es ist klar geschrieben, aber auch keine ganz leichte Lektüre. Ich möchte es nicht mehr missen:

Was stört am Tiefsinn? Präziser kann man es nicht sagen!

Quartett als Duo

Geht nicht. Oder doch?

Hören Sie die Musik über YouTube, – kehren Sie hierher zurück und versuchen Sie synchron die Noten im Duo-Text mitzulesen: 1 Kadenztakt vorweg (fehlt im Duo), ab 2:08 Wiederholung der Exposition, also wieder zurück an den Anfang der Notenseite:

(Quelle: hier)

Die Duo-Noten stammen so nicht von Haydn, entsprechen aber (reduziert) ziemlich genau dem Ablauf des originalen Quartett-Satzes, von dem hier noch vier weitere Seiten wiedergegeben sein sollen, incl. der Doppelstrichseite, von der aus wieder der Sprung zurück an den Anfang erfolgt:

Des Rätsels Lösung (Zitat Nachwort der Duo-Edition):

Die vorliegende Sammlung ist eine Bearbeitung für zwei Violinen von Werken Joseph Haydns. Der Verfasser war ein Zeitgenosse Haydns, Näheres ist jedoch nicht bekannt.

Die Sammlung wurde zunächst bei dem Wiener Verleger Giovanni Cappi herausgegeben, kurz danach erschien sie bei Bernard Viguerie in Paris. Der Verlagszeichnisnummer Vigueries nach war dies im Jahre 1798.

Alle Sätze sind Kombinationen von verschiedenen Sätzen aus Streichquartetten, Symphonien und Klaviertrios.

(Offenburg 2004 / Mihoko Kimura)

(JR) Die Kombinationen erscheinen uns heute reichlich unbekümmert, wenn etwa der erste Satz aus einem Klaviertrio stammt, der zweite und dritte Satz aber aus der Sinfonie mit dem Paukenschlag. Andererseits ist es ein interessantes Dokument der (suggerierten) Praxis: wie nämlich die Musikliebhaber der Zeit mit den beliebten Originalen umgehen. Eine Potpourri-Technik, – wobei aber die „Ganzheit“ der ursprünglichen Sätze weitgehend gewahrt bleibt (nicht die der Werke). Erwähnenswert, dass z.B. das Rondo von Duo I eine Transposition des berühmten „all’ongarese“ aus dem Klaviertrio G-dur nach F-dur darstellt. – Ob insgesamt der Verkaufstitel im Jahre 1798 korrekt ist oder einen Raubdruck verschleiert, wage ich nicht zu entscheiden.

Natürlich gibt es großformatige Duos zwei Violinen „sui generis“ (für Violine und Cello sowieso – Kodaly! -, Violine und Bratsche sowieso – Mozart!), etwa von Spohr oder gar Ysaÿe, aber es ist nicht befriedigend, wenn man sie unterhalb eines virtuosen Niveaus zu bewältigen sucht (Intonation!). In diesem besonderen Fall ist es aber reizvoll, die Haydn-Quartett-Sätze im Ohr zu haben – also Musik in ihrer anspruchsvollsten Form -, aber nun in ihrer reduzierten Version zu realisieren,  ohne dass die formalen Blöcke verkindlicht erscheinen. Man spürt: „da fehlt was“ , aber trotzdem ist es kein „best of“, keine Sammlung „schöner Stellen“, – man ahnt den „Zugzwang“ der großen Form und ist glücklich trotz des defizienten Wahrnehmungswinkels. Es ist nur eine Ohren-Übung, fühlt sich aber an wie der (musikalische) Ernst des Lebens. Mehr davon!

Ich denke mit Sympathie an die Laienmusiker:innen jener Zeit, die noch keine Kassettenrecorder und keine Handys kannte. Und mit Trauer an Kinderzimmer unserer Zeit, in denen das Handy als wichtigstes und allgegenwärtiges Spielzeug  bereitliegt. Jämmerliche Ersatztätigkeit der Finger, die dazu da sind, reale Welt zu be-greifen..

Edition Offenburg als Beispiel.

Vom Portamento

Wie gebräuchlich war früher die gleitende Verbindung zwischen den Tönen?

Anstelle eines Kommentars gebe ich nur Stichworte zu den Originaltexten. Im folgenden zu beachten die Namen: Baillot, Spohr.

Quelle MGG Musik in Geschichte und Gegenwart Kassel 1998 Sachteil Band 9 Violine Sp 1642

Der nächste Text bezieht sich auf Baillot (darin erwähnt: Spohr). Genau ansehen: die Fingersätze, insbesondere zu Mozart (das andere ist eine nützliche Etüde): am Anfang des Klarinetten-Quintetts KV 581, – der allerdings eigentlich der Klarinette zugedacht ist: der dritte und der vierte Melodieton würde, auf der Geige mit dem 3. Finger gespielt, einen Rutscher ergeben, den man heute unbedingt vermeiden würde. Egal, wie dezent oder lässig man ihn gestalten kann.

Lässiges Portamento, aber Bilder wie

aus einer Zwangsanstalt?

Quelle Marianne Rônez: Pierre Baillot, ein Geiger an der Schwelle zum 19. Jahrhundert. Ein Vergleich seiner Violinschulen von 1803 und 1835 / pdf hier

„… während das Hineingleiten in Töne in romanischer und slawischer Musik häufiger Anwendung finden kann, ja, zur stilvollen Darstellung dieser Musik gehört.“

Quelle Hans Diestel: Violintechnik und Geigenbau / Die Violintechnik auf natürlicher Grundlage nebst den Problemen des Geigenbaues / Kahnt Leipzig 1912, ²1919

Über Spohr und in der Folge Ferdinand David und Joseph Joachim…, aber nicht etwa „jüdische Einflüsse…“ (1948), über die Nachahmung der Sänger und über deren Portamento…

Quelle Arthur Jahn: Methodik des Violinspiels / Breitkopf & Haertel Leipzig 1948

Auers Empfehlung, eine Passage mit Portamento zu singen, um zu entscheiden, ob es gerechtfertigt ist oder nicht. Die abschließende Anekdote hat eigentlich wenig mit dem Thema zu tun („the spicing of the tone they produce with vibrato, portamento and other similar devices“).

Quelle Leopold Auer: Violin Playing As I Teach It / Dover Publications New York (1921) 1980

Violin-Transkription der Sarabande aus Bachs Suite für Cello Nr.V (Fingersatz!)

Bach – „con dolore“

Joseph Ebner 1913

Ich habe keine Cello-Version gefunden, die so klingt, wie diese Violin-Transkription – dem Fingersatz nach – empfunden sein müsste. Die heutigen Cellisten – schon seit Pablo Casals – halten sich sehr zurück, niemand romantisiert ein derart verinnerlichtes Stück. Es gehört zum Allerheiligsten. – Die Geiger aber lassen sich am ehesten im Ausdruck zügeln durch die Akkorde, mit denen Bach seibst seine Solissimo-Adagios einhüllt. Und dementsprechend sieht dann auch die (von Bach) harmonisierte Cello-Sarabande der Suite VI in der Violin-Version ganz anders aus, sparsamster Lagenwechsel ist durch die Akkorde vorgegeben:

Und ausgerechnet dazu gibt es eine historische Aufnahme des Cellisten Julius Klengel, in der er sich allein auf die Melodie konzentriert, die er mit zahlreichen Portamenti anreichert, während er die (leicht abgewandelten) Harmonien einem Klavier anvertraut. Vermutlich in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Die Geiger sind allerdings nicht pauschal entlastet, im Gegenteil:  ich erinnere an die unsägliche Fassung des Air aus der Bach-Suite D-dur von August Wilhelmj: die ganze Melodie auf der G-Saite. Statt vieler Worte folgt gleich der Verweis auf die entsprechende Website: hier. (Oder ist dies die Originalversion des Artikels? Hier). Im Link vorher zu beachten: Wilhelmj wurde 1875 von Wagner, der ihn bewunderte, als Konzertmeister ans Bayreuther Festspielhaus berufen!

Váša Příhoda Wikipedia hier

Fritz Kreisler, siehe auch Chopins Nocturne in Es-dur hier, sowie anschließend Sarasates Malaguena—

Was mich jedoch am meisten erstaunte, war die Wiederkehr (?) und systematische, „chorische“ Anwendung des Portamentos der Streicher im Orchester unter Mengelberg. (Der Zufallseffekt bei Richard Strauss war mir als Negativum in Erinnerung: eine Stelle am Anfang der Mozart G-moll-Sinfonie Takt 12 in den Tönen a“-c“‘-fis“-a“ , nämlich von c“‘ abwärts nach fis“). Übrigens realisierte es ausschließlich in Aufnahmen mit dem Orchestre Concertgebouw Amsterdam, es war sorgfältig einstudiert.

Dazu Kommentar in „Mahler-Dokumente“ (folgt noch!)

Und zum Abschluss etwas ganz Anderes, – von allen guten Geistern verlassen… oder… besessen?

(Zur Sicherheit – ein „Original“: Hier (https://www.youtube.com/watch?v=BB-cpNtbVuo)

Noch ein schönes Gitarren-Beispiel: „Slide“ (Dank an C.A.)

Zugabe (Klassik):

Hat Sokrates Flöte gespielt?

Ein Kultur-Feature in WDR3 am 24.12.22

Der Zufall hat es mir in die Hände gespielt, in die Ohren gespült, im Auto, und es hat mich in den ersten 5 Minuten interessiert, dann irritiert, – als es um Sokrates ging – , dann mit der Aussage eines obskuren Philosophen genervt, der meint, seit Adorno sei nichts Relevantes mehr in der Musikästhetik passiert usw. usw. – Musik, Musik, Musik, – zuhaus habe ich mich vergewissert, ob all dies, dieser tönende Flickenteppich – ausgebreitet sei im Namen des Musikwissenschaftlers Vladimir Jankélévich? Angeblich geht es nur ums Hören! Paradox: Hinter dieser Sendung kann kein Musiker stecken. Mit solchen Schnipseln der Überwältigung zeigt man nicht, was HÖREN ist.

Aber ich will heute nur wissen, was hier eigentlich warum von Sokrates behauptet wird.

ZITAT (Transkription JR):

2:00 (hohe Flötentöne) Sokrates hat sich bis in seinen letzten Tagen mit der Meinung beruhigt, Philosophie sei die höchste Musik. Im Gefängnis kam ihm öfter ein Traum: eine Stimme forderte ihn auf „Sokrates, treibe Musik!“ Erst im Gefängnis und im Angesicht des Todes macht er, um sein Gewissen zu entlasten, Musik. Er spielt Flöte. Nicht zufällig wählt der Proto-Philosoph das Instrument, das man in der Antike dem Gott des Rausches zugeschrieben hat: Dionysos. Warum hat er so lang gezögert, gemeine Musik zu machen? Beginnt mit Sokrates der Philosophen-Aberglaube, den viele Philosophen bis heute teilen, dass alle Musik Sirenenmusik sei? Hatte der geniale Dialektiker Wachs in den Ohren? Was wollte er nicht hören? Die Musik des Lebens? Schreckte er vor dem zurück, was in der Musik aufklingt und was Philosophie nicht benennen konnte?

“Die Musik ist in der Philosophie allgemein ein Waisenkind. Ich würde mal sagen, dass in Deutschland doch wohl Adorno der letzte gewesen ist, der irgendwas dazu gesagt hat, und seitdem sind ja auch schon 50 Jahre vergangen, wenn nicht noch mehr. Insofern denk ich schon, dass die Philosophie der Musik etwas ist, was irgendwie am Boden liegt.“ Peter Trafen (?), Philosoph (?)

Vielleicht hat Sokrates am Ende seines Lebens gespürt, dass er zuviel dem einen Gott geopfert hat: Apollon, dem Gott der Form. Er war ein wenig zu vernünftig und versuchte das Missverhältnis am Ende seines Lebens zu korrigieren. Stärker als der Gedanke berührt die Seele am tiefsten die Musik. Das ahnte er. Wir hören einfach. – (4:46)

Konstantin Heidrich (Fauré-Quartett) – Erika Geldsetzer (es geht in Richtung Zen).

Über Vladimir Jankélévich: „Er spricht aus einem Bedürfnis nach Stille.“ Um ihn geht es mir nicht. Aber mein Vertrauen schwindet natürlich, wenn andere Details fragwürdig sind.

Mir scheint: Es beginnt mit lauter Mutmaßungen… Worauf beruft sich der Autor? Wo steht das, was er von Sokrates und der Flöte behauptet? Nicht bei Plato. Dann käme noch Xenophon in Frage. Aber ganz schnell fündig wird man in esoterischen Quellen:

Quelle hier

Ich erinnere mich an das Thema Sokrates hier im Blog, mit einem Foto aus der Pizzeria, ja, sowas gehört ins tägliche Leben, und dieser große Mann ist ja berühmt dafür, dass er überall Stoff zum Philosophieren findet. Ich bin vielleicht nicht einmal Philosoph, aber privat doch schon etwas weiter als 1955, ich besitze neuerdings sogar den Pizzeria-Griechenkopf in echt, ein Erbstück (siehe unten), er ist ja auch nicht einfach anonym berühmt, wie Sokrates, denn der Name ist erkennbar, in griechischen Buchstaben: Apollon. Nicht der schöne Alkibiades, der mir in den Sinn kam. Natürlich! Niemand anders als Apoll! Jetzt endlich habe ich ihn glasklar identifiziert. Und zwar in dem Augenblick, als er für mich mit einem Wikipedia-Link verifizierbar war.

Apollo von Belvedere bei mir und hier

Das mag nun weiterführen, obwohl nur im Alltag aufgelesen, damals in der Pizzeria Piccolo Sud in Haan sowie heute auf meinem Schreibtisch. Ich lese also dank der neuen Fragestellung in meinem ältesten Philosophie-Büchlein gründlicher nach (es gibt alle bekannten Plato-Dialoge natürlich auch online):

Da haben wir im Phaidon die Mahnung „Sokrates, treibe Musik!“, wenn auch in etwas umständlicheren Worten: „Sokrates, du sollst im Dienst der Musen wirken und dies sei dein Beruf.“ Sokrates begann also zu dichten, und zwar einen Hymnus für genau den Gott, den wir hier sehen: Apollo. Nicht aus dionysischen Gründen! Und da ihm die Gabe der (poetischen) Erfindung nicht gegeben sei, wie er sagt, – wendet er sich danach den Fabeln des Äsop zu, sofern sie ihm zur Hand und im Gedächtnis sind, er bringt sie in Vers und Ton. Was wollen wir mehr an Information? Nichts da von Dionysos…

Vielleicht muss man nur genauer lesen?

Ja, wo bleibt eigentlich die Flöte? Ist es denn möglich, dass ein Kultur-Feature unserer Zeit genau damit anhebt, – ohne jeden Sinn und Verstand, nur um dem Thema Musik eine archaisch-philosophische Basis  zu geben? Und irgendwie in dionysischer Richtung. Flüchtig in Nietzsches „Geburt der Tragödie“ reingeschaut?

Suchen wir lieber bei Plato weiter: im Gastmahl vielleicht? Da ist tatsächlich von einer Flöte die Rede. Alkibiades bringt sie ins Gespräch und – wenn man oberfächlich liest – zugleich das Phänomen des Dionysischen.

Der schöne Alkibiades hält also seinem Freund und Mentor Sokrates eine Lobrede (wobei man ihm zugute halten sollte, dass er betrunken ist): und da wird Sokrates einerseits als hässlicher Waldschrat, zugleich jedoch als attraktiver Flötenspieler beschrieben, – wohlgemerkt: im Gleichnis, weil er nämlich genau das, was „ein guter Flötenbläser spielt oder eine armselige Flötenspielerin“ – weil er genau dasselbe „ohne Instrumente mit bloßen Worten“ bewirkt!

Ein Marsyas der philosophischen Rede also, dergestalt, dass man ihm nicht standhalten kann. „So hielt ich mir die Ohren zu, riß mich gewaltsam wie von den Sirenen los, damit ich nicht hier zu seinen Füßen alt und grau werde.“

Und voraus ging eben ein rein äußerlicher Vergleich mit diesem Satyr Marsyas, der dank einer Fehlübersetzung bis heute gern wegen seines dionysischen Flötenspiels zitiert wird, und man begreift nicht, weshalb ihn Apoll dafür so furchtbar bestrafen ließ, zu widerwärtig, selbst aus der Sicht eines unbeirrbaren Freundes der Saiteninstrumente. Man informiere sich ein wenig darüber im eben gegebenen Wikipedia-Link, wobei auch darin vom „Flötenspiel“ die Rede ist, spezifizierter von der „phrygischen Flöte“. Anders im Artikel über den Marsyas-Schüler Olympos, wo korrekter das Wort „Doppel-Oboe“ gebraucht wird.

Das griechische Wort Aulos bezeichnet heute so wenig wie damals eine Flöte, sondern eben einen „Aulos“, ein Rohrblatt-Instrument, das so scharf klingen kann wie eine türkische Zurna beim Volksfest.

Zu dem recht taktlosen Versuch, Sokrates mit einem Silen zu vergleichen, – siehe bei Wikipedia hier (unter dem Stichwort „Darstellung“) -, kann man nur wiederholen: Alkibiades war betrunken.

Zur Korrektur der durch Fehlübersetzung entstandenen Auffassung, dass der Aulos eine Art Flöte oder gar eine  Blockflöte (flauto dolce!!!) sei, orientiere man sich in modernen musikethnologischen Werken, auch z.B. im Lexikon der Holzblasinstrumente (Laaber Verlag 2018). Oder etwa hier (Wikipedia) und natürlich hier:

Der Mythos stirbt nicht: Und auch dieser Faun, der das Doppelinstrument voll in den Mund schiebt, ist natürlich keine authentische Figur aus der griechischen „Auloszeit“, sondern eine Phantasiegestalt des 19. Jahrhunderts, an dessen Ende das berühmte „Prélude à l’après-midi d’un faune“ von Claude Debussy steht. Wer sich daran erinnert, hat sofort Thema der Flöte im Ohr, vielleicht sogar ein Wort von Pierre Boulez:  „Mit der Flöte des Faunes hat die Musik neuen Atem zu schöpfen begonnen […], man kann sagen, dass die moderne Musik mit L’Après-midi d’un Faune beginnt.“ (Siehe auch hier). Bravo!

Mehrklänge hören, viel mehr Klänge!

Doch vorweg: Was sagt denn Wikipedia?

Siehe hier.

Ich sehe diesen Wiki-Artikel als eine Übung, um zu erkunden, was man überhaupt über „Akkorde“ weiß. Das weiter unten folgende (heftförmige) Büchlein stellt im Vorwort klar, dass nur die „Kenntnisse traditioneller europäischer Musik und aus ihr abgeleiteter Begriffe und Verfahrensweisen“ vorausgesetzt sind. Es wendet sich aber durchaus (oder gerade) an Studierende, die sich mit moderner Komposition beschäftigen, die „Neue Musik“ komponieren (oder auch nicht). Der Autor wagt es, Hindemiths „Unterweisung im Tonsatz“ ebenso zu berücksichtigen wie Messiaens Lehrbuch „Technik meiner musikalischen Sprache“. Er sagt Im Vorübergehen Erhellendes zum Konzeptualismus und zum Punktualismus, ohne zu fürchten, dass seine eigene Arbeit, die sich damit nicht weiter abgibt,  dadurch entwertet wird. Auch der Einwand, dass jedes zeitgenössische Werk einer eigenen Ästhetik, einem eigenen Gesetz folgt, gilt für ihn und seine Analyse nicht. Er behandelt keine Akkordverbindungen, keine Grammatik, sondern die einzelnen Gebilde. Nebenbei erfährt man, dass jenes Stück von Messiaen, das gewissermaßen den ganzen Boom des Serialismus auslöste („Mode de valeurs et d’intensités“), bei ihm selbst ohne entsprechende kompositorische Konsequenzen blieb. Der Komponist selbst meinte, man habe dieser „ganz kleine[n] Arbeit“  viel zu viel Bedeutung beigemessen… Das zu wissen hätte mir Anfang der 60er Jahre einige elementare Gewissensbisse erspart. Ich war ein Verfechter der Neuen Musik, sagen wir: bis Anton Webern. Aber es waren genau diese punktualistischen „Zufalls“-Ergebnisse, durch die ich meine Musikalität in Frage gestellt sah. Zweifellos war sie ja auch mit diesen Mitteln tatsächlich nicht weiter entwickelbar. Ich war – ohne es zu ahnen – anfällig für das Prestige anderer Musikkulturen. Im Tonsatzunterricht gab es heftige Diskussionen mit Traditionalisten wie Max Baumann und Ernst Pepping, die aus meiner Sicht (insgeheim) von Adornos „Kritik des Musikanten“ mitbetroffen waren.

Man lese, was ich damals im Konzertprogramm (mehr über das Boulez-Werk) unterstrichen und mit Ausrufezeichen versehen habe…

Berlin, Januar 1961

Hören? HIER

Solingen, August 2022

Nun also ein neues Werk zum Thema und zu vielen Themen: Claus Kühnl (eigene Website hier) Möglicherweise lege ich mir über kurz oder lang auch noch das von ihm empfohlene Harmonik-Buch von Nordhausen/ Gardonyi zu, und wenn jemanden das bloße Inhaltsverzeichnis schreckt – es gibt darin ja über 400 Notenbeispiele: wenn man nur etwas Klavier spielt, ist das eine unvergleichliche tönende Musikgeschichte: hier.

Doch zur Sache:

s.a. hier, erst kürzlich – dank NMZ bzw. Moritz Eggert – entdeckt …

Zusätzliche Musikbeispiele

Seite 6 – Schönberg Serenade op.24 hier Einzelsätze anklickbar Nr.4 „O könnt‘ ich je der Rach‘ an ihr genesen“

2 Sätze mit Partitur hier

alle Sätze: Mitropoulos-Aufnahme (1949) hier I. 0:00 II. 4:40 III. 11:37 IV. 15:37 V. 18:37 VI. 25:25 VII. 27:23

Seite 8 – Haydn (Nonenakkord) Klaviersonate (1771) XVI:20 Takt 25-26

Seite 9 „…ein früher spektakulärer Fall…“

Recordare:

Seite 10 Beethoven op. 22 (gemeint ist Takt 32 f)

Mir wird klar, dass ich diese „Disharmonien“ früher genossen, aber anders gedeutet habe, nämlich nicht als Klänge für sich, sondern immer als „Zufallsprodukte“, die aus Durchgangsnoten erklärbar, also gewissermaßen aus melodischen Gründen  exculpiert sind. Obwohl als „Reibungen“ eben: genossen. Dass der Orgelpunkt G nach Takt 30 einfach stehenbleibt, bedeutete, dass ich den Akkord der rechten Hand in Takt 32 einfach als Griff eis/gis/h/cis (Dominantseptakkord in Richtung fis-moll/ h-moll) auffassen darf, eine Zwischenstörung, die mit dem Wechsel von cis nach d einen Verminderten einführt, der sich in jede möglich Richtung auflösen kann. Und es wirkt plausibel, dass auf der 1 des nächsten Taktes der gleiche Akkord, – um einen Halbton höher gerückt -, als „gis/h/d/e“ erscheint, der sich nicht nur nach oben schein-auflöst (zum f), sondern auch unten (zum g) und sich damit überraschend zum Orgelpunkt-G bekennt: im nächsten Takt wird die Wendung plakativ im Dominantseptakkord der „vollgriffigen“ linken Hand.

Das heißt: ich habe immer syntaktisch gedeutet, nicht punktuell, den jeweiligen Akkord als Eigenheit, Eigenklang, Eigenwert betrachtend, obwohl ich dies insgeheim – wie gesagt – sehr wohl goustiert habe.

Natürlich könnte man sagen: nun bist du doch reingefallen auf das Punktuelle. Das lasse ich nicht gelten, – soll ich es ablehnen, nur weil ich einmal im Leben nicht damit klargekommen bin? Zu den größten Hör-Erlebnissen in meinem Leben gehört dafür ein Konzert in Darmstadt mit Ligetis „Atmosphère“, da fand ich Punktualität und linienhafte Dauer beispielhaft realisiert. Übrigens gefällt mir Kühnls Behandlung dieses Komponisten, der wegen seiner späteren Entwicklung oft geschmäht wurde (Horntrio), ebenso wie die des Geräuschpolyphonikers Lachenmann, den ich vergeblich „nachzuempfinden“ suchte, – um so einen Ausdruck der veralteten Ästhetik des ältesten Bach-Sohnes zu gebrauchen.

Die Begehrlichkeit wächst (Ausblick)

soeben eingetroffen…

Und was sehe ich dort, Johann Sebastian Bach betreffend??? Kontrapunkt… Choralsatz… und darüberhinaus Melodielehre