Nur um zu bekräftigen, dass ich ein Buch nicht nur so obenhin empfehle, weil da mal wieder mein Lieblingsthema behandelt wird, Johann Sebastian Bach, will ich eine resümierende Seite zitieren. Sie zeigt, dass nicht nur Fakten aus der Dirigentenpraxis aneinandergereiht werden, sondern eine besondere biographische Sichtweise ermöglicht wird. Eine Bewertung, die Mut und Augenmaß erfordert.
Ich erinnere zunächst an den Beitrag „Ohrdruf 1679“ (6 Jahre vor Bachs Geburt – die Rolle, die der Vetter seines Vaters damals gespielt hat: Johann Christoph Bach 1642 – 1703) Hier.
Und nun dies (ZITAT):
Einige Monate zuvor, kurz nach Sebastians 18. Geburtstag, hatte sich die Familie innerhalb kurzer Zeit zuerst von Maria Elisabeth, der Ehefrau des Eisenacher Christoph, und 14 Tage später vom großen Christoph selbst verabschieden müssen. Und so erlebte der vor Johann Sebastian wichtigste Vertreter der Familie Bach weder die Verwirklichung seines langgehegten Traums von einer neuen Orgel noch die phänomenale Entfaltung des Talents seines jungen Vetters – nicht einmal die ersten, noch unsicheren Schritte einer beruflichen Laufbahn, die er fördern und begeleiten hätte können. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte Johann Sebastian Bach bereits zweifelsfrei bewiesen, dass er aufgrund seiner Begabung ein ernstzunehmendes Mitglied dieser hochmusikalischen Familie war (die Ernennung zum Organisten in Arnstadt war dafür gewissermaßen der schlagende Beweis). Er hatte gezeigt, dass er nicht nur über eine natürliche Begabung verfügte, sondern auch über die nötige Zielstrebigkeit, um Schwierigkeiten zu meistern. Es gibt die weitverbreitete Ansicht, angeborenes Talent sei ein Garant für Höchstleistungen. Doch die Geschichte von Bachs Jugendzeit verdeutlicht, wie sehr die Entfaltung seines Talents von Zufällen und gezielter Planung abhängig war. Ohne die Inspiration durch Christoph den Älteren, die wie eine Initialzündung wirkte, hätte seine musikalische Erziehung sehr viel unspektakulärer verlaufen können. Wäre er nach dem Tod seiner Eltern nicht bei seinem älteren Bruder in die Lehre gegangen, so wäre seine Begabung zum Tastenvirtuosen vielleicht noch jahrelang brachgelegen, und er wäre womöglich nicht selbstbewusst oder spieltechnisch nicht fortgeschritten genug gewesen, seiner Heimat den Rücken zuzukehren und seinen dritten Mentor Georg Böhm zu bitten, ihn unter seine Fittiche zu nehmen. Ohne Böhm wäre es sicher sehr viel schwieriger geworden, sich Zugang zum reichen, kosmopolitischen Hamburger Musikleben, dem neuen Opernhaus und den vielen großartigen Kirchenorgeln zu verschaffen. Hätte er keine Gelegenheit gehabt, dem bedeutenden Orgelbauer Arp Schnitger bei der Arbeit über die Schulter zu schauen und Böhms Lehrer Johann Adam Reincken auf diesen wunderbaren Instrumenten spielen zu hören, so wäre er nicht schon in so jungen Jahren qualifiziert genug gewesen, um bei der Besetzung der Stelle in Arnstadt in die engere Wahl gezogen zu werden. Das sind nur einige Beispiele für die vielen plausiblen Verbindungslinien, die sich zwischen bekannten Stationen in Bachs Leben, seiner Kindheit und Schulzeit, den von ihm studierten und imitierten Werken und der Musik ziehen lassen, die er selbst alsbald komponieren sollte. Über weite Strecken seiner Jugendzeit war er als Waise darauf angewiesen, seine inneren Kraftquellen zu mobilisieren, wurde dabei aber von unverkennbarem Ehrgeiz und unersättlicher musikalischer Neugier angetrieben. Nun, im Alter von 18 Jahren, war es für Johann Sebastian Bach an der Zeit, sich dem Vergleich mit anderen bedeutenden Komponisten zu stellen – mit jener Gruppe von Ausnahmemusikern, die allesamt 1685 oder kurz davor geboren wurde.
Quelle John Eliot Gardiner: BACH Musik für die Himmelsburg / Hanser Verlag München 2016 (Zitat Seite 138) Aus dem Englischen von Richard Barth
Ein großartiger Schluss, der in der Tat auch beim Leser die unersättliche musikalische Neugier weitertreibt, – die Namen neben Johann Sebastian Bach: Domenico Scarlatti, und Georg Friedrich Händel; Jean-Philippe Rameau, Johann Mattheson und Georg Philipp Telemann. Man fragt sich unwillkürlich: Und was ist mit Vivaldi? Pikanterweise fehlt er (nicht im Buch) – nicht im Buch, aber im Register…
Zusatz 1 Jahr später (zu Bachs Persönlichkeit)
Aus der Besprechung des Gardiner-Buches in Musik & Ästhetik
„Als Musiker war Bach ein unergründliches Genie; als Mensch hatte er allzu offensichtliche Schwächen, war enttäuschend mittelmäßig und ist für uns in vielerlei Hinsicht bis heute kaum greifbar.“ Gardiner macht von Beginn an deutlich, dass er den Menschen aus dem Werk heraus verstehen und ihn nicht heroisieren, sondern als konfliktreiche und defizitäre Persönlichkeit zeigen will. Angesichts des weitgehenden Schweigens der Quellen scheint es dabei verständlich, auf das „kollegiale“ Einfühlungsvermögen zu setzen – etwa dann, wenn es um die in Schriftzeugnissen kaum greifbaren Prägungen durch das frühe Dasein als Vollwaise geht. Auch hilft dieses mitfühlende Hineindenken, Bachs notorische Renitenz in seinen Dienstanstellungen zu verstehen. Als deutende Annäherung kenntlich gemacht, vermag dieser Ansatz zu überzeugen; vielleicht wäre auf dieser Linie sogar mehr denkbar gewesen, etwa, was die im Ganzen etwas knapp geratene Darstellung des bachschen Spätwerks betrifft.
Quelle „Musik für die Himmelsburg“ Bachs geistliches Werk in der Sicht John Eliot Gardiners / Von Anselm Hartinger / Musik & Ästhetik Heft 84 Oktober 2017 Klett-Cotta Stuttgart (Seite 109)