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Spiegelbilder

Vor drei Tagen

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Pressetext

Die weiblichen Protagonistinnen sind zentrales Element dieses Konzeptalbums. Es präsentiert die Arien als sich gegenseitig spiegelnd: eine Händel-Arie über eine Heldin wird durch eine eher unbekannte Arie über dieselbe Figur komplementiert – so entstand auch der Albumname Mirrors. „Die Hörer:innen können so verschiedene Reflexionen desselben Charakters erleben, als betrachteten sie ihn durch einen zerbrochenen Spiegel“ , erklärt Yannis François, der für die Konzeptualisierung der Aufnahme verantwortlich ist. Die Arien erzählen von Schlüsselmomenten in der psychologischen Entwicklung der Protagonistinnen, beleuchten die Vielfalt emotionalen weiblichen Erlebens und die nachvollziehbaren Perspektiven auf ihr Leben.

Die CD ist eingetroffen:

Beim ersten Hören steigen leichte Befürchtungen auf: Erinnerungen an „Sturm“ – Arien mit Cecilia Bartoli, – das ist hier ebenso bewundernswert wie dort, aber es ist nicht das, was ich mir an einem dunklen Novembertag auflege.

Und dann kommt Track 5. Ein italienischer Topos. Die Entdeckung der schmerzlichen Vorhalte. Ich kenne dies von Pergolesi, natürlich: „Stabat mater“, und von Bach, Praeludium h-moll, Wohltemperiertes Klavier Teil 1, vollendet im Jahr 1722, – da war Pergolesi gerade 12 Jahre alt (1710-1736), ich verzettele mich. Aber dies wunderschöne Werk hier stammt von – Telemann. Erstmals aufgeführt 1704 (Telemann ist im Jahr davor Leiter und Komponist der Leipziger Oper geworden), eine weitere Aufführung folgt zur Herbstmesse 1710. Und woher kommt nun besagter „Topos“ ? Ich dachte an Bachs frühe Kantate 21 „Ich hatte viel Bekümmernis“ , aufgeführt 1714. Schauen Sie auch hier im Blog. Bei Alfred Dürr steht’s:

(Dieses letzte Präludium des WK I) spiegelt unverkennbar den Typus der italienischen Triosonate wieder, wie sie Arcangelo Corelli (1653-1713) in großer Zahl für 2 Violinen und Basso continuo komponiert hat, und die Merkmale der konsequenten Dreistimmigkeit, des melodischen, einander frei imitierenden beiden Oberstimmen sowie des gemessen schreitenden Stützbasses (…) usw. usw.

Natürlich, Corelli, jeder hätte es wissen können, ich sollte es dabei belassen und mich lieber ganz dieser herrlichen Stimme widmen und – wie es mir angeraten wurde – an Händel denken und die entsprechenden Spiegelungen zu schätzen lernen. Ja, aber bin ich nicht gerade dabei? Ich suche einstweilen noch nach den Texten der hier gesungenen Partien… Es dauert eine Weile, ehe ich den entsprechenden Code finde, aber er ist da, unten links:

Photos von Gregor Hohenberg

In der Tat, als ich Jeanine De Bique im Album-Trailer (0:45) von „Barockmusik mit dem ältesten Orchester der Welt“ sprechen hörte, erschrak ich und fragte mich: meint sie unser Ensemble, das Collegium aureum, das noch bis etwa Mitte der 90er Jahre auf Tournee ging? nein, ich sehe junge, sympathische Kollegen, die damals schon erheblich jünger waren als ich, – Freunde, könnte ich fast sagen, die bei Franzjosef Maier in Köln studierten, Markus Hoffmann und Jörg Buschhaus, oder Alexander Scherf, der mir bereits seit Schülerzeiten samt Cello in Solingen begegnete, Jean-Michel Forest (bei Musica antiqua Köln). Ich drifte schon wieder ab. Jetzt geht es also erstmal um die Texte. Der QR-Code links unten führte mich zur Quelle, ohne dass ich sie hier direkt abrufbar machen könnte (aber Sie werden doch wohl Ihr Handy selbst griffbereit haben?) :

Rimembranza crudel / sempre il mio cor fedel / penar farà

Nova Clizia al raggio amante / del suo vago, e bel sembiante / portar lungi il pié non sà.

Die grausamen Erinnerungen / werden mein treues Herz / auf ewig leiden lassen

Wie Klytia, die nach ihrem geliebten Apoll schaut, / vermag ich mich nicht loszureißen / vom Anblick seines schönen Gesichtes.

Eine Kostprobe der ersten Zeile finden Sie hier, im Tracklisting Nr. 5, und wenn Sie es nicht lassen können, schauen Sie dort rechts oben, wie man die CD kostenpflichtig erwirbt. Ich habe es nicht anders gehalten. Habe es aber aufgegeben, weitere Nachforschungen über Opern und deren Plots anzustellen. Händel in Italien, ja, 1709 „Agrippina“ in Venedig (Text: Kardinal Grimani). Telemann 1704 „Germanicus“ , (deutscher ? Text: Christine Dorothea Lachs). Sind beide Agrippinen identisch? Mutter oder Tochter? Ehrlich gesagt: ist mir egal. Allerdings erinnert mich die zweite Zeile der Händel-Arie Tr.4 motivisch an eine Melodie, die ich seit Berliner Liederabenden 1960 (Victoria de los Angeles) kenne und nie mehr wiedergefunden habe: „Violetta graziosa“. Aber auf welche Silben? Eine gute Übung wäre es, „im wildesten Sturm“ den Atem anzuhalten und den rasant skandierten Text zu verfolgen, zur ersten Orientierung im Tracklisting Nr.4, am besten natürlich im Original, als echte Spiegelung im Gehörgang – „al dolce aspetto“ , wie die brillante Oboe als Spiegelung einer ebenso brillanten Stimme:

L’alma mia frà le tempeste / ritrovar spera il suo porto.

Di constanza armato ho io petto, / che d’un regno al dolce aspetto /

le procelle più funeste / son oggetti di conforto.

Inmitten dieser Stürme hofft meine Seele, / ihre frühere Ruhe wiederzufinden.

Ich wappne mich mit Beharrlichkeit, / denn wer den Thron vor Augen hat,

der findet noch im wildesten Sturm /  süßen Trost und Erquickung.

Man kann sich auch prüfen, ob man eigentlich Qualitätsunterschiede feststellt, Personalstile, Zeitstilbrüche (immerhin in einer Spanne zwischen 1704 bis 1745!) – Graun, Telemann, Händel, Gennaro Manna (?), Leonardo Vinci (?), Riccardo Brocchi, und man kann sich einfach freuen, was eine einzige instrumental und expressiv geführte Singstimme im Wechsel mit hervorragenden Instrumentalisten vermag…

ODER? Hätte ich mich dieser CD ganz anders nähern sollen? Nicht als Ahnungsloser mit unberechenbaren Kenntnissen und Vorlieben, Erwartungen und Fehleinschätzungen? Sondern? Natürlich kann ich mich bemühen, den Ideen der Interpreten und Programmgestalter zu folgen. „Über die Musik“ – da steht’s. Mit anderen Worten: ich lese das Booklet und fange mit den letzten Tracks an, 12 und 13. „Vor diesem Hintergrund gibt es wohl keinen geeigneteren Vergleich als ‚Mi restano le lagrime‘ von Broschi bzw. Händel.“ Ach, lesen Sie doch selbst, wenn Ihnen dies Vorgehen nicht zu didaktisch ist. Es ist ja der Aspekt des Dirigenten Luca Quintavalle, und er weiß schon sehr genau, wovon er spricht. Wir aber müssen noch die italienischen Texte nachschauen, ebenso die Übersetzungen, ja, und ihm in seiner irgendwie assoziativen Reihenfolge folgen. Ich habe mir die Tracks hineingeschrieben.

Den Anfang des Textes liefere ich nach und nehme das nette Statement der Sängerin noch dazu:

Nachtrag 19.01.22

Das erwähnte Lied, das ich aus Liederabenden 1960 in Berlin in Erinnerung habe, ist dingfest gemacht!! Christiane Oelze hat mir dank Facebook geholfen, indem sie eine Information aus Neuseeland weitergegeben hat. Es stammt also aus der Oper „Pirro et Demetrio“ (1694) von Allessandro Scarlatti (1659 – 1725).

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Hier eine Aufnahme mit Noten (vorgetragen von einer unbekannten Sängerin), und nachfolgend mit Elly Ameling (ich werde es nie wieder vergessen), vielleicht etwas zu ruhig: Hier.

Wendezeiten der (Musik-)Geschichte

Die Jahre 1000 und 1750

Mit dem ersten Datumbegann die eigentliche Geschichte des Abendlandes, mit dem zweiten die der Aufklärung. Wobei wir maßgebende Gestalten davor probeweise außer Acht lassen, z.B. Karl den Großen und den noch größeren Johann Sebastian Bach.

Duby Cover Duby Inhalt Suhrkamp Frankfurt a.M. 1992

Telemann Rampe CoverTelemann Inhalt a Laaber 2017

Telemann Inhalt b (Fortsetzung Inhalt)

Nach einer Phase des Hin- und Her-Blätterns beginne ich im letzten Teil, zumal festzustellen war, dass ein Punkt, der mich in Telemanns Selbstbiographie (es gibt drei davon!) (gab es nicht vier s.S. 105?) am meisten interessiert hat, zwar auf Seite 134 wiedergegeben ist, aber nirgendwo inhaltlich behandelt wird:

Telemann Polen

Gut, ein Beispiel für Telemanns Weltoffenheit in alle Richtungen, aber er war 1706 erst 25 Jahre alt, und es handelte sich vielleicht um eine Episode auf der Flucht, ohne weitere Folgen. Somit springe ich sofort in die Kapitel, die den Komponisten von seiner menschlichen Seite  her beleuchten, zumal persönliche Zeugnisse über die Selbstbiographien hinaus rar sind. Von seinem „Ehedrama“ (Seite 256) wusste ich nichts. Auch nicht – von seiner Blumenliebe! Also sammle ich als erstes ein paar Zeilen aus dem Kapitel „Persönlichkeit und Charakter“ (Seite 288 ff), Zeilen, die hier und da auch kleine Fragezeichen auf Leserseite ergeben mögen:

Telemanns Persönlichkeit beurteilen zu wollen, ist eine extrem schwierige Aufgabe, weil man eigentlich nur aus seinem Handeln Schlüsse ziehen kann, da private Äußerungen weitgehend fehlen. Wahrscheinlich war er ein Bauchmensch, der wie alle Musiker Komponieren und Spielen nach Stimmungen und Gefühlen ausrichtete und sich von diesen leiten ließ. (…)

Vermutlich war Telemann Sanguiniker. (…)

Telemann war ein Selfmademan, der in seinen Autobiographien nicht müde wurde zu betonen, dass alle seine Fähigkeiten der Natur zu verdanken waren, gepaart mit einer hinlänglichen Portion Wissensdurst und Fleiß, die ebenfalls der Natur entsprangen. Sein Glaube bestand darin, dass die Natur, also Gott, aus ihm einen herausragenden Musiker machen wollte, indem er dieses Talent nicht nur aufgriff, sondern selbst ausbildete und erweiterte. Unter allen Barockkomponisten war Telemann der einzige, der niemals formalen Unterricht gehabt hatte, und er war stolz darauf, weil er seine Gaben allein auf die Natur zurückführte. (…)

Telemann war ein Macher. (…)

Telemann war ein Workaholic (…).

Telemann war Künstler und Manager in Personalunion. Er muss über ein außerordentliches künstlerische Potential verfügt haben, das es ihm täglich gestattete, auf hohem, oft höchstem Niveau Neues zu schaffen und damit genau den Publikumsgeschmack zu treffen. Andernfalls hätte es gerade in Hamburg über Jahrzehnte hinweg Klagen über die Kirchenmusik gegeben (…).

Dass Telemann neben dem harten Kern des Machers und Managers auch eine weiche Seite besaß, beweisen nicht nur seine Dichtungen und viele seiner langsamen Sätze, sondern gerade seine Blumenliebe. es ist bezeichnend, dass er nach Schließung der Hamburger Oper 1738 seinen Verlag nur noch dazu nutzte, seine Schulden abzutragen und dann einstellte, um sich ins Private zurückzuziehen und einem anmutigen Hobby nachzugehen. Dies zeigt, dass Telemann ein vielseitiger Künstler war und dass das Management allein dem künstlerischen Erfolg, nicht aber als Selbstzweck diente. Auch pflegte er die Blumenliebe nicht im Verborgenen, sondern hatte keine Scheu, daran seine Freunde und Bekannten teilhaben zu lassen, indem er sie entweder in seinen Garten lud oder um neue Pflanzen aus aller Welt bat. Die Blumenliebe beweist, dass Telemann im Grunde seines Herzens ein Schöngeist und eben kein harter Brocken war. (…)

Besonders auffallend ist, dass drei von den fünf zeitgenössischen Abbildungen den Komponisten mit offenem Hemd darstellten, was damals höchst ungewöhnlich war, weil sich damit eine legere, aufgeklärte Haltung und Naturverbundenheit offenbarten. (…)

Auf Seite 274f  findet man Näheres von Telemanns „anmutigem Hobby“:

Telemann muss sich einen Garten vor den Toren Hamburgs zugelegt haben, der groß genug war, eine Vielzahl von Pflanzen unterzubringen und auch Gäste zu empfangen. !753 besuchte ihn dort Christlob Mylius (1722-1754), ein Freund Lessings, und notierte: „Den 28. Mai gieng ich zu dem Hrn. Capellmeister Telemann, und besah auch seinen Garten, worin viel fremde und schöne Pflanzen sind. Dieser 70jährige Greis ist noch recht munter und war sehr höflich. Er hat mir zum Andenken meinen Abschied aus Europa componirt.“

Gewiss hatte Telemann Gartenanlagen bereits früher kennengelernt, etwa in Eisenach, Frankfurt am Main und Paris. Nun, offenbar im Anschluss an die Paris-Reise 1737/38, entwickelte er selbst ein botanisches Hobby, vielleicht angeregt durch andere Hamburger Hobbygörtner. Telemann nutzte seine bestehenden Kontakte, um sich aus aller Welt Pflanzen senden zu lassen. Ihre List, die er [in einem Brief an] von Uffenbach versehentlich beigefügt hatte, ist erhalten; sie umfasst nicht weniger als 63 Arten, darunter auch ungewöhnliche wie Chinesischer Hanf und Chinesische Aster. 1743 bat er Lorenz Christoph Mizler (1711-1778), ihm aus Polen Blumen zu senden, 1749 auch den Dresdner Konzertmeister Johann Georg Pisendel (1687-1755) und noch 1750 und 1751 schickten ihm Georg Friedrich Händel aus London und Carl Heinrich Graun (1703-1759) aus Berlin neue Gewächse; darunter befanden sich für die damalige Zeit recht seltene exotische Pflanzen wie Aloen und Säulenkakteen, wie sie in ausgewählten Hofgärten zu finden waren.

(Die Anmerkungszahlen habe ich in dieser Abschrift weggelassen. Darin z.B. Quellennachweis Dokumente zu Georg Philipp Telemann ‚Bluhmen-Liebe‘ . JR )

(Fortsetzung folgt)