„MUSIC IN MOTION“
Ein Weg, indische Musik in ihrem Verlauf zu sehen und zu verstehen. – Als Initiatoren dieser wunderbaren Methode, die keiner Notenschrift im westlichen Sinne bedarf, möchte ich hervorheben: Dr. Suvarnalata Rao und Dr. Wim van der Meer. Näheres erfährt man über die gleich anzuklickende Introduction (Einführungsseite).
Dies ist die Kopie (Screenshot) eines Teils der Einführungsseite
Man rufe den Blogbeitrag, der hier vorliegt, zusätzlich in einem zweiten Fenster auf und klicke auf dieses Bild, um es in Vergrößerung betrachten zu können, so dass man problemlos zwischen dem Text hier und dem vergrößerten Bild dort hin- und herschalten kann. Ich beziehe mich zunächst auf die Worte, die in orangener Farbe zu lesen sind.
Die oberste Zeile („upper part gives the breader view“ etc.) besagt, dass dieser grau unterlegte Bild-Abschnitt eine weiter gefasste Übersicht über den Verlauf der Melodie gibt: diese ist in Gestalt der gezackten Linien wiedergegeben, in diesem Fall in 5 Melodiezügen. Es ist also die verkleinerte Wiedergabe dessen, was im unteren Abschnitt passiert. Die senkrechte blaue Linie („curser“) entspricht genau dem aktuellen Zeitablauf, oben genau so wie unten, man hat oben aber Gelegenheit, mehr vom vergangenen und bevorstehenden (!) Melodieverlauf im Auge zu behalten. Die Punkte über dem unteren Rand des grauen Bereichs bezeichnen den Sekundenverlauf.
Im helleren Teil des Bildes sieht man in der Mitte den senkrechten blauen Strich, der genau den jeweiligen Stand des Melodieverlaufs bezeichnet. Man kann auch nach Bedarf stoppen, um den Verlauf analytisch zu bedenken. Am unteren Bildrand ist der Sekundenverlauf bezeichnet, so dass man beliebige Stellen gezielt ansteuern kann.
Am linken Bildrand die Töne angezeigt, die im Raga (der Melodie) verwendet werden („sargam of notes“), man sieht von unten nach oben die Anfangsbuchstaben der Töne Pa, dann Sa Ri Ga Ma Pa Dha Ni Sa und ganz oben Ma, also der „Singe-Silben“ der Töne; in westlicher Notation (Grundton Sa als Ton C genommen) wären das G, dann C d e f G a h C und E, wobei ich jetzt die möglichen Varietäten (es oder fis u.ä.) außer Acht lasse.
Das Wort „tanpura“ in der Mitte des linken Feldes bezieht sich auf die Stimmung der Grundtonlaute Tanpura; die 3 Pfeile zeigen auf den Grundton Sa, die Quinte Pa und die höhere Oktave Sa. Dies sind auch die Hauptlinien der waagerechten rosafarbenen Linien der Tonhöhen, vor denen sich das Auf und Ab der gezackten Melodielinie abzeichnet („the melodic line“). Außerdem erkennt man die waagerechten grauen Linien, insgesamt eine Linienfolge, die eine Halbtonskala in Vielfachen von 100 Cents erkennen lässt („grey scale position“ etc.).
Irritierend ist vielleicht zunächst, dass die hier ganz mechanisch aufgezeichnete Melodielinie auch „Zacken“ wiedergibt, wo wir nur einen einzigen (nämlich den „gemeinten“) ausgehaltenen Ton wahrnehmen, zuweilen auch kleine Tongirlanden, wo wir („oberflächlich“) nur ein Glissando wahrnehmen. Daran gewöhnt man sich…
Bleibt noch die Zahlenreihe am unteren Bildrand: die Sekundenfolge, die mit dem Einsatz der Aufnahme beginnt.
Ich würde vorschlagen, in der Praxis mit dem Raga Madhuvanti zu beginnen, den wir schon in einem früheren Beitrag (HIER) hervorgehoben haben (die Geigerin Kala Ramnath 2006 in Utrecht) . Man findet diesen Raga in „Music in Motion“ auf folgendem Wege: Auf der oben angegebenen Seite „Introduction“ sieht man links die Spalte „Rags“ mit einer alphabetischen Auflistung der behandelten Ragas. Also: auf „Madhuvanti“ gehen und klicken. Oder auch, bei späterem Bedarf, direkt HIER.
Was nun?
Ein notenkundiger Mensch bei uns wird sich das Tonmaterial des Ragas vielleicht gern in westlichen Noten oder auf der Tastatur des Klaviers vorstellen: (aufwärts) C D ES FIS G H C / (abwärts) C H A G FIS ES D C.
Man beschränke sich zunächst auf die Interpretation mit Ashwini Bhide (Bio hier). Etwas irreführend steht unmittelbar unter ihrem Oszillogramm „Performance by Aslam Khan“, was sich bereits auf die nächste Darstellung bezieht. Während des Hörens auch das über dem Verlaufsbild aufgelistete Protokoll verfolgen, aber nicht um jeden Preis verstehen wollen, vor Sekunde 73 – d.h. bevor die Tabla-Trommel einsetzt – anhalten und die Tala-Markierung studieren, die senkrechten Linien.
Die Aufführung (der Verlauf im Detail)
4-8: die Interpretation beginnt auf dem tiefen Ni (H), einem wichtigen Ton dieses Ragas
20-28: es gibt eine Oszillation, eine Bebung (andol) auf dem GA (ES), sie führt zum erhöhten MA (FIS), welches ausgehalten wird und zum GA (ES) zurückkehrt.
30-51: in den nächsten Phrasen wird zunächst PA (G) gehalten, gefolgt vom mittleren NI (dem eine Terz höheren H). Beachte die Phrase, die über DHA (A) zum PA (G) zurückkehrt.
52-57: die Melodie geht weiter abwärts („sown“ = Druckfehler) zum GA (ES), nachdem sie auf dem scharfen MA (Fis) innegehalten hat. Beachte ein Ornament (murki), das die Töne GA, MA, Pa und Dha (ES-FIS-G-A) umfasst (52-53).
73-105: die erste Zeile der Komposition wird präsentiert und mit einigen Varianten wiederholt. Beachte den akzentuierten Schlag (sam) der 16-Schlag-Periode (rhythmic cycle), der zusammentrifft mit einem melodischen Gleitton S/M (vom C zum FIS)
106: zweite Zeile beginnt [das heißt: mitten im Zyklus. Wir haben bis hier 4 vollständige Zyklen gehört – viermal „sam“, die 1 -, nach dem Beginn des 5. Zyklus beginnt die neue Text(!)-Zeile, eben auf 106]
142: zweiter Teil der Komposition (antara) beginnt, zum hohen SA (C) führend und darüber hinaus
163: Schlusszeile der Komposition
188-255: Ausarbeitungen um das tiefere NI (H) und das mittlere Ga (ES) mit Hilfe des Vokals „aa“. Oszillationen auf dem Ton GA (ES) (238-239)
256-291: Ausarbeitungen um den Ton MA (FIS). Gleitende Tonverbindungen vom tieferen NI (H) und mittleren SA (C) zum MA (FIS) und zurück (275-284)
294: die Bewegungen schließen auch das mittlere PA (G) ein, ein wichtiger Ruheton. Beachte, wie die Phrasen auf GA (ES) enden, nachdem der Ton PA (G) gehalten wurde.
Nachtrag JR zum rhythmischen Zyklus: der Tala also heißt Sitarkhani. (Info z.B. hier). Vorschlag: Zählen üben ab 73 und dabei die Melodie nicht aus dem Sinn lassen (Aufmerksamkeit teilen!).
Und was bringt diese ganze Arbeit? Intensivierung der Wahrnehmung, Kenntnis des Ragas, des Talas, Sinn für die Schönheit der melodischen Linie, das Ebenmaß des Zeitablaufes, der Relation dieser beiden Parameter. Kurz: SINN.