Ist Bachs Allemande zu lang?
Wie dem auch sei: geben sie einer Versuchsperson, vorzugsweise mit Cello oder Viola vertraut, oder Klavier natürlich, die folgenden Noten, die man durchaus sinnvoll spielen und auch ohne Bachs Hilfe sinnvoll erklären kann. Es handelt sich nur um den ersten Teil dieses Tanzes, und zu diskutieren wäre, ob man ihn mit Hilfe des angegebenen Alternativtaktes etwas kürzen kann. 8 Takte wären ja eine passable Lösung.
Da wir es mit offensichtlich klaren Verhältnissen zu tun haben, frage ich mich, ob wir die zweite Zeile nicht der ersten noch etwas deutlicher anpassen könnten; am Ende der Zeile zeige ich mit dem H, dass ich durchaus noch eine weitere Tonart ansteuern will. Ich könnte durchaus eine plausibel aufgebaute Allemande hinbekommen, vielleicht mit etwas mehr Symmetrie. Aber warum hat Bach es anders gemacht?
Ja, wenn man mich nur ließe! Bach aber will offenbar das H in der oberen Oktave erreichen (siehe oben Takt 5), und außerdem ist er der für mich befriedigenden Tonart G-moll in Takt 3 sogleich mit dem Übergang zu Takt 4 ausgewichen, statt sie zu bestätigen. Um wohin zu gelangen? Am Ende der zweiten Zeile haben wir F-dur, – aber wo genau wäre das Atemzeichen zu setzen, vor der sonderbaren Terz auf Zählzeit 4 (Achtel mit Punkt) oder danach? Mit Blick auf die erste Zeile wäre es logisch nach der Sechzehntelgruppe, die man sich mit einem winzigen Ritardando vorstellen könnte. Wenn ich jedoch den Takt 3 als Muster nähme (das in mir nachwirkt), wo also das hohe D (Achtel mit Punkt) das erste Ziel war, mit den zwei Sechzehntelgruppen vorweg, so hätte ich in Takt 4 die „sonderbare“ Terz als Ziel, wiederum mit zwei ähnlichen Sechzehntelgruppen vorweg. Das klingt komplizierter als es ist: fast unmerklich wird einem klar, um wieviel besser Bachs Lösung ist, weil sie nicht auftrumpft, sondern mit dem hohen D zwar Erwartungen weckt, am Schluss der Zeile aber völlig offen lässt, wohin die Reise geht. Andererseits ist es genau der hier erreichte Terzklang, der schon am Anfang von Takt 1 im Raum stand und jetzt ein ganz anderes Gesicht hat (ein weiches „Dur“-Gesicht).
Um mit einem Blick zu erfassen, was in diesen Takten strukturell abläuft, schaue man auf die folgende Skizze:
Nachdem in der ersten Zeile die D-moll-Skala von mittlerer Höhe bis in die Tiefe dargelegt wird, wird der Umfang in den nächsten Zeilen planmäßig ausgebaut, signalhaft nach dem D7-Akkord auf der 1. Zählzeit hinauf zum hohen D auf der 4. Zählzeit: G-moll, F-dur, D-moll, E-dur, das Ziel A-moll zeichnet sich ab.
Und ehe jetzt der Rest (bis zum Doppelstrich) allzu plausibel wirkt – Dehnung der Kadenz durch Trugschluss, Nachlieferung am Ende des nächsten Taktes E / GIS und am Anfang des Schlusstaktes das endgültige A – ist ein Geständnis fällig. Ich habe die Allemande gefälscht, nämlich um 3 Takte gekürzt, einfach um mir klar darüber zu werden, warum sich Bach soviel Zeit nimmt, die Region A-moll sorgsam auszubreiten. Hatte er nicht schon in Takt 6 mit dem Halbschluss GIS-FIS-E das Ziel fast erreicht? Um dann in der Mitte von Takt 8 das Tor erneut zu öffnen mit GIS-A-H? Und dann die endlich eintretende Kadenz in Takt 9 wiederum zu vereiteln durch das DIS unter dem A? Den Trugschluss, den wir auf keinen Fall missen möchten.
(Fortsetzung folgt)