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Messiaen: Rhythmische Farben?

Was hat es mit dem (Sanskrit-)Begriff „Varna“ in der indischen Musik auf sich? So eindeutig, wie es in Olivier Messiaens „Traité de Rythme, de Couleur, et d’Ornithologie“ (1994) oder in seinem früheren Werk (1949) scheint, ist die Lage nie gewesen. Als erstes stößt man wohl auf die Vorstellung „Kaste“ (von lat. „castus“ – rein!), was alsbald nach Indien zurückführt, wo der Begriff „Varna“ in diesem Sinne gebraucht wird, nämlich im Sinne von „Klasse, Stand, Farbe“. Offenbar weist der Begriff nicht (mehr) auf eine Einteilung nach Hautfarben hin, vielmehr sind den Kasten (sekundär?) verschiedene Farben zugeordnet: Weiß, Rot, Gelb und Schwarz. („Zufällig“ entsprechen die Farben den klischeehaften Rassezuschreibungen.) Der Begriff könnte sich aber zunächst ganz einfach auf ein System der oberflächlichen Einteilung oder Unterscheidung beziehen. (Wie der Begriff Jati, der ebenfalls in der Musik verwendet wird.)

Varna

Quelle Thomas Daniel Schlee, Dietrich Kämper (Hrsg.): Olivier Messiaen La Cité céleste – Das himmlische Jerusalem Über Leben und Werk des französischen Komponisten / Wienand Verlag Forum Guardini Köln 1998 ISBN 3-87909-585-X (Seite 79)

Offenbar hat Messiaen die einmal gefällte Entscheidung nie überprüft: dass „varna“ soviel wie „couleur[s]“ („Farben“) bedeutet und „miçra varna“ – üblicherweise in englischer Umschrift als „mishra“ – folgerichtig „mélange des couleurs“ („Mischung der Farben“). Und nicht genug damit, gerade diese (fragwürdige) Übersetzung verleitet ihn dazu, die Sache – noch poetischer – als „Regenbogen der Dauern“ zu verstehen. Eine eher private Assoziation: „l’arc-en-ciel“ et l’extase coloré des point d’orgue (Vorwort zu „Couleurs de la Cité céleste“), solche Sprachfiguren findet man bei Messiaen nicht selten. Die alten Inder aber hatten dieses rhythmische Phänomen wohl kaum  so poetisch gesehen, sondern eher rein technisch, „systemisch“. In diese Richtung weist auch die Behandlung des Wortes Varnam bei Josef Kuckertz (bitte anklicken):

Varna Kuckertz

Quelle Josef Kuckertz: Form und Melodiebildung der karnatischen Musik Südindiens / Wiesbaden 1970 Band 1 Seite 82

In die Richtung von „Farbe“ weist allenfalls die Bedeutungsvariante „Schmuck“. Jeder südindische Musiker, den man heute nach der Bedeutung des Wortes „varna“ fragt, wird zur Antwort geben: das ist ein Musikstück, ein Übungsstück, vielleicht sogar: eine Art „Konzertetüde“.

In der alten Liste der 108 Tala-Perioden taucht das Wort oder der Wortbestandteil mehrfach auf (21, 27, 28, 29); die von Messiaen aus der Lavignac-Enzyclopädie entnommene Form erscheint als Nr. 29 „Misra varna“. (Quelle – wie bei Kuckertz angegeben – Band IV South Indian Music von P. Sambamoorthy, Madras 1963).

Varnam Tala-Tafel

Der entscheidende Punkt, – so selbstverständlich, dass er nirgendwo speziell hervorgehoben wird – , wäre: dass es sich nicht um konkrete „Rhythmen“ handelt, sondern um eine Übersicht der in der indischen Musik möglichen Talas. Der Tala aber ist eine gegebene metrische Periode, in deren Schema sich die konkreten Rhythmen einpassen, Trommel-Rhythmen (!), – es geht nicht um den rhythmischen Ablauf von Melodien (!), die sich allerdings ebenfalls dem Tala einordnen. Zwischen diesen Talas wird nicht beliebig gewechselt, der Tala gilt für längere rhythmische Zusammenhänge (sagen wir: für eine ganze Varna-Übung), die gegebene oder gewählte Tala-Periode wird unablässig wiederholt, während der konkrete rhythmische Verlauf sein Erscheinungsbild (innerhalb des gegebenen Rahmens) ständig ändert. Das dürfte sich zu Sharngadevas Zeiten genau so verhalten haben wie vor 200 Jahren oder heute. Man darf auch annehmen, dass der einzelne Trommler nicht diese Tafel im Sinn hatte, um sich abwechselnd mal hier mal da zu bedienen, sondern dass er in der Praxis 20-30 Talas verwendete, die er virtuos beherrschte. Ihn haben die Klangfarben der Mrdangam-Trommel oder des Ghatam-Tontopfes interessiert, aber die Vorstellung eines Regenbogens könnte ihm in diesem Zusammenhang ganz überflüssig erschienen sein.

Übrigens kam Josef Kuckertz bereits 1974 zu dem Fazit: Im Hinblick auf Messiaens Oiseaux exotiques könne

nur insofern von einer Übertragung aus der indischen Musik gesprochen werden, als der Komponist abstrakte Vorlagen zur Bereicherung seines ‚Grundmaterials‘ aufgenommen hat. Er verfährt mit dem fremden Gut nach eigenen Ideen und fügt es damit restlos seinem eigenen Kunstwerk ein.

Quelle Josef Kuckertz: Die klassische Musik Indiens und ihre Aufnahme in Europa im 20.Jahrhundert. Archiv für Musikwissenschaft XXXI. Jahrgang Heft 3 1974 3.Quartal Franz Steiner Verlag Wiesbaden (Seite 170 bis 184)

Tui-Übung

Der TUI ist eine Vogelart in Neuseeland. Wikipedia sagt:

Die Stimme des Tui ist recht laut und kraftvoll, der melodische Klang wird oft von abwechslungsreichen klickenden und schnarrenden Geräuschen unterbrochen. Er ist dem der südamerikanischen Glockenvögel (Procnias) zum Verwechseln ähnlich, die Stimme der Glockenvögel weist jedoch deutlich weniger Resonanz auf.

Ich möchte ihn hören und am liebsten beim Singen auch sehen; hier ist eine Möglichkeit, der Vogel wurde aufgenommen im Orana Wildlife Park, Christchurch, Newzealand:

Interessant, dass der Aufzeichner zunächst eine Version mit verlangsamtem Gesang veröffenlicht hatte, bei dem man jedes Detail in tiefer Lage überdeutlich und genau, aber eben auch verfremdet wahrnimmt. Es sei der erste Teil meiner Übung, zwischen diesen beiden Versionen zu wechseln, bis sie ganz vertraut sind.

Als nächste Stufe folgt der Vergleich mit völlig anderen Quellen des Tui-Gesangs, nämlich hier.

http://nzbirdsonline.org.nz/species/tui

Zur Erinnerung und zur besseren Orientierung kann ich mir mit Hilfe des folgenden Fotos Notizen zu den einzelnen Aufnahmen machen:

Tui Beispiele Tui 12 Beispiel Bild

Der Gesang des Tui-Vogels steht am Anfang der Komposition „Couleurs de la cité celeste“ von Olivier Messiaen. Ich lege die Aufnahme auf einem zweiten geöffneten Fenster bereit und stelle jedesmal, wenn ich den Vogel „real“ gehört habe, die von Messiaen gewählte Eröffnungsphrase dagegen, 7 Sekunden (youtube s.u. von Anfang der Aufnahme bis in die Pause nach 7 Sekunden), sofort ein zweites Mal und noch 10 weitere Male.

Es reihen sich mehrere Vogelstimmen aneinander, der Tui kommt noch einmal ab 0:32 (bis 0:40), dann – nach der kleinen Pause – erklingt zum erstenmal die Alleluia-Melodie ab 0:43 (bis 0:52).  Und damit habe ich schon ein paar wesentliche Dinge ins Gedächtnis eingegraben. Ich sollte sowohl die originalen Vogelstimmen wie auch die Umsetzung bei Messiaen imaginieren können…

(Fortsetzung folgt, wenn ich genügt oft geübt habe)

Weitere Bausteine:

Der BENTEVEO aus Argentinien (leider mit Geräuschen von Baufahrzeugen, aber instruktiv):

„Troglodyte Barré“  bzw. „Thryophylus pleurostictus“

Zu vergleichen mit den schönen Beispielen im folgenden Artikel (siehe rechts: cri & chant)

ZITAT

Chant : C’est l’un des chanteurs les plus accomplis du genre thryothorus. Son chant, qui retient fortement l’attention, est un mélange de sifflements, de glougloutements et de trilles dont certaines phrases rappellent fortement ceux du rossignol européen. Les cris comprennent de courts trilles et un ronflement rauque et nasillard ‚jerr-jerr-jerr‘.

http://www.oiseaux.net/oiseaux/troglodyte.barre.html

Meditation über Messiaens Motive

Was bedeuten ihm Vogelstimmen?

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1) HIER Ohne Ton: Lektüre des Textes einer Radiosendung.

2) Hier Filmausschnitt (0:52): Song Thrush (Grive Musicienne) „à la manière d’une incantation“.

3) Hier Filmausschnitt (1:16): „Voici le rossignol!“

4) Hier Filmausschnitt (6:15): Peter Hill. Ab 4:57 (bis 6:00), s.a. hier, ab 2:01! = Wood Thrush.

5) Hier ein weiterer Ansatz, Vogelstimmen in Messiaens Werk wahr zu nehmen

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Zu 2) Das, was man in dem Moment, wo Messiaen zu sprechen anfängt, gehört hat, ist keine Singdrossel (Schnitt); man hört sie erst Sekunden später hinter seiner Stimme.