Wie es begonnen hat und was ich heute noch daran finde
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Ein Teil der Orient-Tournee, die mein Leben änderte.
Marius Schneider, Professor für Vergleichende Musikwissenschaft, drückte mir einen Stapel alter 78er-Schallplatten in die Hand: „Hören Sie sich das mal an, es soll aus Syrien sein!“ Ich wollte eine Arbeit über arabische Musik schreiben, es war im Mai 1967, nach einer Tournee durch viele arabische Länder zwischen Casablanca und Kabul. Bei der Nachfeier eines Konzertes in Tripoli (Libanon) hatte der Leiter des Goethe-Instituts, Dr. Schindler, unsern Dirigenten Günther Kehr gefragt, wer wohl geeignet sein könnte, sich mal zwei Jahre lang um das Musikleben in Tripoli zu kümmern. Kehr zeigte auf mich: Der studiert jetzt Musikwissenschaft. Was denn? „Ich will eine Arbeit über Wagners Tristan schreiben.“ „Ach, Quatsch“, sagte der ziemlich forsche Mann, „bleiben Sie hier, fahren Sie in die syrische Wüste und kümmern Sie sich um Beduinenmusik, – viel interessanter als jeder Wagner!“ Syrische Wüste – das saß. Und so meldete ich mich gleich nach meiner Rückkehr im Musikwissenschaftlichen Institut, ethnologische Abteilung. Der arabisch-israelische Junikrieg 1967 machte zwar bald darauf mein Vorhaben in Tripoli zunichte, aber da hatte mich längst das immerwährende arabische Fieber gepackt. Zuerst war es genau diese Stimme und diese Melodie, die man hier ganz oben im Blogbeitrag hören kann, dann folgten andere große Namen, vor allem die ägyptische Sängerin Oum Kalthoum. Von ihr hatten wir schon damals im Taxi gehört, als wir durch die Straßen von Kairo zum Konzertsaal bugsiert wurden. Mit leuchtenden Augen vermittelte uns der Chauffeur die Botschaft, dass nur auf seiner Cassette die wahre Musik lief. Recht hatte er! Vier Jahre Notenschreiben standen mir bevor, eine ziemliche Plackerei; die arabische Musik will ja gar nicht notiert werden, aber für die Wissenschaft ist nur glaubwürdig, was auf dem Papier objektiviert wurde.
Ich wollte aber gar nicht meine Geschichte erzählen, sondern vor allem die des Sängers, von der ich damals noch nichts wusste. Als ich ihm endlich begegnete – 1969 – lag sein Ruhm schon 30 Jahre zurück, und er war regelrecht totgeschwiegen worden, seine Schallplatten zerbrochen, vielleicht hatten nur diese Exemplare überlebt, dank Marius Schneiders Berliner Zeit im Phonographischen Institut und nun in der Kölner Musikwissenschaft.
Auf den Punkt gebracht: letztlich war es ein Melisma, das mich von Anfang an ergriff und nicht losließ. Weder Libanon-Gebirge noch der im Gedicht genannte Berg Sannin (2628 m) konnten mich irre machen: Die Formel am Anfang und Ende der Strophe und das aus dieser Kadenzwendung entwickelte und weiterweisende Melisma, – für mich war es der minimale Ausdruck der gigantischen Wüste im Hintergrund.
Einziger Hinweis auf die Identität des Sängers war der Name „Youssef Dahertage“, der auf dem Etikett der Baidaphon-Schallplatte steht und der zu Beginn der Aufnahme angesagt wird, wie auch der Name des Dichters „Michèl Trad“, über den ich nur herausfinden konnte, dass er sehr berühmt und im libanesischen Zahlé zuhaus war. Daher meine Idee, dass ich durch ihn den Sänger finden könnte. (Ein Fehlschluss, denn der Sänger verdankte seine Texte der Tradition und dem Zufall, Trads Text hatte er in der Zeitung gefunden und aufbewahrt.) Dank einer glücklichen Verbindung zum Verfasser des großen Arabisch-Lexikons, Prof. Dr. Hans Wehr, – meine Eltern kannten ihn aus Greifswald, wo er 1939 als Dozent begonnen hatte (damals war er in der Arbeit an seinem Lexikon, so hieß es, schon beim Buchstaben K angelangt) -, kam ich schließlich weiter: Er entdeckte das Gedicht, das auch keiner der syrischen Studenten, die ich befragt hatte, so recht verstehen konnte, in einer Sammlung libanesischer Dialektdichtung und überließ mir seine wunderschöne Übersetzung samt einer arabischen Fassung in Umschrift. (Siehe auch in der Transkription oben! Hier das Original aus der Hand von Prof. Wehr:)
Heute ist das Recherchieren in vieler Hinsicht leichter als damals; inzwischen habe ich auf Youtube einen arabischen Film über den Dichter gefunden, wenn auch in fragwürdiger technischer Qualität. Zudem bin ich außerstande, die inhaltlichen Aussagen zu beurteilen. (Keine Haftung!) Nur eins weiß ich mit absoluter Sicherheit: der Dichter rezitiert an einer Stelle genau dieses Gedicht (leider nur Strophe I bis III), und man erkennt sogar, dass sich sein Dialekt von dem des Sängers unterscheidet!
Am besten Sie beginnen das folgende Youtube-Video bei 15:36, so dass Sie den rezitierenden Dichter in seinem Ambiente sehen (mit Klavier in seinem Rücken). Unser Gedicht folgt, wenn anschließend ein Bach dahinrieselt und der Blick sich (vermutlich) zum Berg Sannin hin öffnet: HIER https://www.youtube.com/watch?v=pnwfot2oXm0 (ab 16:05). LEIDER NICHT MEHR ABRUFBAR! [Es gibt nur noch „A tribute to the Lebanese Poet Michel Trad“ mit seinen Lebensdaten (1902-1998), Bildern aus seinem Dorf und vielleicht der authentischen Rezitation eines seiner Gedichte hier.] S.a. hier, hier und hier.
Die Bildeinstellung mit dem Bach könnte darauf hindeuten, dass sich die erste Zeile doch nicht auf das Trippeln (der Frauenfüße) bezieht, sondern (wie Wehrs Bleistift-Notiz in Betracht zieht: „Tröpfeln“, „Brodeln“) auf das murmelnde Wasser.
Die Strophe II mit Youssef Dahertage:
Dies ist die kurze Biographie des Sängers Youssef Dahertage, die ich verfasst habe, nachdem ich ihn Anfang 1969 bei meinem Libanon-Aufenthalt wiedergefunden hatte. Damals ging es mir vor allem darum, ihn und seinen Sohn Bahjat zu bewegen, mir auf Band zu singen; ich hatte vor meiner Reise noch mit Mühe um die Weihnachtszeit ein Nagra-Gerät im WDR entleihen können, im Anschluss an die Reise sollte ich meine erste Radiosendung bekommen! Ich war also stolz und glücklich, als ich meine Aufnahmen im Kasten hatte. Heute aber fixiere ich mich auf einen einzigen Satz im Lebenslauf, der mich damals kaum bewegt hat: was war das für eine Partei, die P.P.S., die für den Sänger zum Verhängnis geworden war? Le „Parti Populaire Syrien“…
Ich finde diese Abkürzung, die man mir damals genannt hatte, gar nicht im Internet, sondern in erster Linie „PSNS“, und diese Buchstabenfolge hätte mich schon damals stutzig machen können; immerhin hatte ich das Jahr der 68er-Studenten nicht ganz verschlafen, über meiner Dissertation (und dem Druck, eine Familie zu ernähren, obendrein mit allerhand Konzerten) . Was ich heute mit zwei Klicks finde, ist die folgende Seite, und was zuerst ins Auge springt, ist das furchtbare Logo der Partei. Kein Zweifel: „Le Parti … connu aussi sous le nom donné par la France de Parti populaire syrien (PPS)“…
Natürlich glaube ich nicht, dass der Mann, der in den 30er Jahren mit Eseln Getreide über die syrisch-libanesische Grenze schaffte, immer nur singend, dass dieser Mann ein gefährliches Parteimitglied war, – vielleicht störte ihn nur die Grenze zwischen den Ländern? Habe ich selbst nicht erst 1968, 10 Jahre nach dem Tod meines Vaters, dringender nachgefragt, wie er sich eigentlich in den 30er Jahren verhalten hat? Er war mit Musik – Klavierüben, Dirigieren – und mit Familiengründung beschäftigt, – wie ich im selben Alter. Er war übrigens nur drei Jahre jünger als Youssef Dahertage.
Vater & Sohn: Youssef & Bahjat Dahertage, am 12. Januar 1969 im Orient-Institut Beirut:
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Oben: Der Aufnahmeort (Foto: „Sing“ Wiki Commons)
Damals hieß es wohl noch Institut der Morgenländischen Gesellschaft. Über den Aufenthalt hier habe ich bereits aus anderem Anlass berichtet (siehe hier). Aber einen Kulturschock besonderer Art habe ich da ausgespart. Es gab ja einerseits die Begegnung mit dem Kreis um Marius Schneider, die Teilnahme an den „Maqam-Beratungen“, andererseits mein persönliches Interesse an dem Sänger, den ich hier dank Madame Succar in Broumana fand und mit seinem Sohn nach Beirut holen konnte. Es war die merkwürdig angespannte Atmosphäre, die im Institut von jungen Wissenschaftlern ausging, deren Interessenlage und Forschungsansatz mir völlig neu waren. Sie machten auch keinen Hehl daraus, dass sie von Musik wenig verstanden, jedoch Schneiders grenzüberschreitende Forschungen methodisch absurd fanden. Er verteilte damals einen Sonderdruck mit dem Thema „Pukku und Mükku“, wenn ich mich nicht irre, ein Deutungsversuch zur afrikanischen Mythologie. Und ich erlebte am Rande, wie sie darüber spotteten, als habe das mit Wissenschaft weniger zu tun als mit blühender Phantasie. Ein tiefer Graben tat sich auf. Ich konnte das nicht ignorieren, weil ich Einblick bekam, wie streng die Maßstäbe waren, die sie an die eigene Arbeit anlegten. Was daraus wurde, ist durchaus recherchierbar, denn die Namen habe ich nie vergessen: Vor allem Heinz Gaube und Otto Jastrow. Andererseits der Zweifel, ob diese Arbeitsweise auf die Musik übertragbar wäre. Jastrow verschwand täglich in der Altstadt oder ich weiß nicht wo, um Menschen zu treffen, die seltene Dialekte sprachen; er sprach mit ihnen und nahm sie auf. Manchmal kehrte er verärgert heim, wenn irgendeine aramäisch sprechende alte Dame, auf die er baute, „falsche“ Worte verwendet hatte (ihr Sprachschatz also nicht vertrauenswürdig war). Dann musste er neue Probanden suchen. Er kannte alles, sprach unfassbar viele Sprachen und Dialekte. Meine Sympathie für ihn war damals „begrenzt“ (Erinnerung an die in einer Streichholzschachtel gefangene Kakerlake), meine Bewunderung heute ist riesengroß. Gerade habe ich entdeckt, dass alles, was er gesammelt hat, per Internet abrufbar ist: HIER.
Zurück zur oben erwähnten Partei… hier… Im Internet lese ich auch, dass ihr Gründer Antun Sa’ada in „Brummana“ zur Schule gegangen ist, in der Stadt also, in der Youssef Dahertage zu Hause war. Hier fand ich ihn Anfang 1969. Vielleicht hatte er schon früh den 6 Jahre Jüngeren beobachtet, der mit solcher Energie nach oben strebte? Der von sich reden machte, der in Broumana viele Anhänger hatte, dem man eine große Zukunft voraussagte? Als er 1949 nach der Vollstreckung des Todesurteils bei uns im SPIEGEL stand, las ich noch keine Zeitung: Hier.
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Wie auch immer dieser Artikel weitergeht: ich setze schon mal ein persönliches Ergebnis ein, das mir damals genug Lohn für alle Mühe war, nämlich ein kleiner Platz in einem großen Artikel, den der bedeutende Musikethnologe Harold S. Powers für das Lexikon The New Grove (1980) einbrachte; er betraf alle Facetten des Konzepts Modus , also auch Raga, Maqam, Patet usw.