Was denkt man beim Üben?
Ich weiß durchaus, dass die Hand von Natur aus nicht intelligent ist, aber noch sicherer weiß ich, dass sie durch ihren Tätigkeitsdrang, durch ihre taktile Leidenschaft, die Intelligenz anregt, sich mit ihr verbündet. Ganz besonders, wenn sie dabei Töne erzeugt. Man muss sich die schnellen Préludes von Chopin, Wunderwerke des Ausdrucks und der Intelligenz, natürlich im langsamen Tempo erschließen und dabei das Vertrauen in die eigenen Hände entwickeln. Etwa das Prélude Nr. 5, D-dur, Molto allegro, – im molto adagio! Ein so fabelhaft manuell erfundenes Stück muss nicht in 50 Sekunden vorbei sein, es kann der Hand, beiden Händen, 5 wunderbare Minuten bieten. Man halte die Hände vor sich, entspannt, ein Halbrund, der Daumen berührt nicht ganz die Fingerkuppe des Zeigefingers, er bildet die Gerade, über der sich der Bogen des Zeigefingers wölbt, mit dem Knöchel als höchstem Punkt. Und nun öffne man und spreize die Finger – ohne jede Anspannung. Was macht man nun mit der Figur der linken Hand in den ersten 4 Takten? Man setzt den Zeigefinger auf den Ton G und lässt den kleinen Finger nach links in die Richtung des Tones A weisen, den er „demnächst“ erreichen soll, den Daumen aber nach rechts in Richtung des Tones E, er befindet sich wohl schon in nächster Nähe. Und nun heißt es, an die Tasten zu tasten, ohne den Finger dorthin zu recken, zu spannen, zu zerren – oder was sich an schlimmen Worten dafür anbietet. Man gibt mit der Hand nach, um die Tasten zu berühren. Das ist jedenfalls das Wort und die Vorstellung. Eine durch und durch runde, weiche Bewegung.
Schon mal etwas zum Hören… es geht um die ersten 3 Sekunden…
Es ist merkwürdig: dieses Prélude ist nicht leicht zu analysieren, obwohl so übersichtlich angelegt, und das taktile Erlebnis, das einen besonderen Anreiz bietet, ist schwer zu beschreiben. Im alten Reclam-Klaviermusikführer (1986) steht:
Eine pianistisch knifflige Studie, in der beide Hände weite Intervalle zu überwinden haben und in unbequemer Bewegung gegeneinander und ineinander geführt werden (…).
Unbequem? Nur wenn man es schneller spielen will, als es die Finger gelernt haben. Aber auch langsam braucht es viel Zeit und Geduld, es geht nicht „von selbst“. Man muss es erst lieben.
Tadeusz A. Zielinski sagt:
Das kurze, äußerst bewegte (…) Prélude (…) ist eine Momentaufnahme, ein flüchtiges Gefühl oder eher der blitzschnell vorbeihuschende Schatten derselben: Hier verbinden sich – in Sechzehntelbewegungen beider Hände – die Ansammlung harmonischer Wechsel und schneller Modulationen mit einem zarten Wogen des Ausdrucks. Ungeachtet ihrer scheinbar einheitlichen Bewegung ist diese Miniatur von außerordentlichem musikalischen Reichtum.
Und er benennt auch in aller Kürze den Reiz des metrorythmischen Wechsels, der im ganzen Verlauf des Préludes in Erscheinung tritt. („Chopin“ Lübbe 1999 Seite 585)
Ich finde: gut sehen und verstehen kann man die Zusammenhänge, Beziehungen, Veränderungen nur, wenn man den Notentext sinnvoll anordnet, nämlich so, wie ich es bei ethnologischem Material auch tun würde; denn das Unbewusste ist schwer von Begriff, man darf es liebevoll wie ein Kind behandeln. Zwei Zeilen – die rot markierten, Taktzahlen 5 und 21- habe ich zudem jeweils in Vierer-Taktgruppen durchgezählt, damit offensichtlich ist, dass die untere nicht etwa länger ist als die obere, sie ist nur drucktechnisch in die Länge gezogen. Diese Zeilen bedürfen am ehesten einer verbalen Analyse. (Vielleicht folgt sie noch…) Ansonsten: Rosa bedeutet „Hab-Acht!“, Grün bedeutet „Nachklingeln“ der Zielkadenz.
Man erkennt auch leicht, dass der metrorhythmische Wechsel nur die rosa markierten Abschnitte betrifft, ablesbar an den tiefsten Basstönen der linken Hand, die in der ersten und dritten Doppelzeile mit den Off-Beat-Akzenten der rechten Hand zusammenfallen, in der fünften dagegen nicht, – was die Verhältnisse noch „wackeliger“ macht. Andererseits fallen hier die höchsten und die tiefsten Töne (rechts d“ und links D) viermal zusammen, womit gewissermaßen das Ende eingeläutet wird.
In den Doppelzeilen II und IV (ab Takt 5 und 21) entspricht das Metrum jedoch genau den harmonischen Kadenzierungen von der dritten Zählzeit zur ersten des nächsten Taktes. Die Irritation liegt nur im Wechsel von Hoch- und Tiefton der linken Hand und ihrer schön verzwickten Fingerfolge. – Der merkwürdige psychologische Effekt, dass die Doppelzeile IV (Takt 21 ff) als Steigerung der Doppelzeile II (Takt 5 ff) wirkt, obwohl 5 von 8 Takten völlig identisch sind, liegt an der Molleintrübung verbunden mit kleinen Chromatismen. Dann, rückwirkend, an der unterschiedlichen Reaktion auf den verminderten Septakkord, einmal in Fis-dur, einmal in D-dur:
Der folgende Satz aus einem schwachen Werk über Chopin von Wakeling W. Dry aus London (1926) soll in diesem Hause nicht mehr gelten:
Um zum Schluss auf das anfängliche Finger- oder Handproblem zurückzukommen, das keines geblieben ist, möchte ich doch noch zwei nicht leicht eingliederbare Töne hervorheben, deren man sich bewusst sein sollte: das GIS in der linken Hand gegen Ende von Takt 12, sowie das CIS in der rechten Hand gegen Ende von Takt 29. Im ersten Fall sollte man der Hand schon ab der zweiten Note (EIS) eine leichte Linksdrehung zu geben, die davor bewahrt, das hohe GIS mit einem Ruck erreichen zu müssen: der Daumen muss schon vorher gewissermaßen in der Luft liegen. Bei der anderen Stelle (Takt 29) sollte man beim Fingersatz 1 – 4 – 2 – 5 ( – 1- 5) , falls man beim Übergreifen des 2. Fingers zu einer Linksdrehung der Hand neigt, genau die andere Tendenz einüben, nämlich eine leichte Drehung nach rechts, verbunden mit einem leichten Recken des Daumens in Richtung der Taste CIS, dieses „Recken“ aber nur in der frühen Phase des Übens, als eine Bewusstmachung: der Daumen muss von Anfang des Taktes an wissen, dass er genau dort landen muss.
Quelle der Noten (samt Fingersätzen): Alte Peters-Ausgabe C.F.Peters Leipzig [1879] Bearbeiter: Herrmann Scholtz (1845-1918) IMSLP Petrucci Music Library (hier)
Meine Aufzeichnungen beruhen auf Übe-Erfahrungen, die nicht weiter zurückgehen als auf den 17. März 2015. Vorher kannte ich das Prélude nicht bzw. ich habe es nie beachtet. Jetzt sitzt es mir in den Händen – ich kann nicht sagen, dass ich es beherrsche, aber ich werde nie wieder die Finger davon lassen.