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Mimesis

Zu Erich Auerbachs Buch (und weiteren Begriffsbestimmungen)

Auerbach Mimesis Cover 4. Auflage 1967

Wahrscheinlich im Germanistik-Studium Köln empfohlen von Dorothee Sölle oder Herbert Singer. Lektüre alle paar Jahre wiederholt, ohne letztlich Klarheit über den wegweisenden Entwurf des Ganzen zu gewinnen. Neuer Anlauf 2017, anlässlich der allmählichen Erschließung des Begriffs „Figura“ bei der Beschäftigung mit Dante (hier) und nach dem Eintreffen des Büchleins „Mimesis und Figura“ (mit Auerbachs Aufsatz, der dem Buch Mimesis 1938 voranging).

Auerbach FIGURA cover Vorsatz, MIMESIS neu zu erarbeiten

Auerbach Inhalt Mimesis = Dargestellte Wirklichkeit in der Literatur

Wikipedia-Artikel zu einzelnen Kapiteln:

I Opferung Isaaks, Tora II Titus Petronius III Ammianus Marcellinus IV Gregor von Tours V Rolandslied VI Chretien de Troyes VIII Dante Aligieri IX Giovanni Boccaccio X Antoine de la Sale XI François Rabelais XII Michel de Montaigne XIII William Shakespeare XIV Miguel de Cervantes XV Jean de la Bruyère XVI Abbé Prévost XVII Friedrich Schiller XVIII Stendhal XIX die Brüder Goncourt XX Virginia Woolfe

Wissenswert, was in dem zweiten Buch („Mimesis und Figura“) zu lesen ist über die mindere Bedeutung der Kapitel II – V oder sogar IV:

Eine Reihe von Kapiteln in Mimesis gilt der Lektüre von Autoren und Werken, die wenig kanonisch und die, gemessen an klassischen Stilidealen, einigermaßen disparat und »disproportioniert« wirken, Autoren und Werke, die heute allenfalls von Spezialisten gelesen werden. Ich denke hier an den Roman des Petronius (II. Kapitel) ebenso wie an das historiografische Werk des Ammianus Marcellinus (III. Kapitel) oder die Frankengeschichte Gregor von Tours (IV. Kapitel) oder die Verse der Oxforder Handschrift des Rolandliedes (V. Kapitel).

schreibt Friedrich Balke, und weiter:

Quelle Friedrich Balke: „Mimesis und Figura / Erich Auerbachs niederer Materialismus) (s.o. Buch Mimesis und Figura Seite 13-88)

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Abgrenzung gegenüber der Mimesis in der Musik (oder Versuch der Parallelisierung?) – Anverwandlung  (Darstellung) der musikalischen Wirklichkeit:

Mimesis in Musik Inhalt 1 Mimesis in Musik Inhalt 2

Auszug aus der Inhaltsübersicht des Buches: Forschendes Üben Wege instrumentalen Lernens / Über den Interpreten und den Körper als Instrument der Musik / Renate Wieland & Jürgen Uhde (Bärenreiter Kassel 2002)

Zitat aus dem oben (gelbes Cover!) abgebildeten Buch „Mimesis und Figura“:

Einem Studenten, der sich darüber beklagte, er verstehe ein Gedicht von Mallarmé nicht, riet Auerbach, er solle es auswendig lernen. (Fortsetzung im Folgenden:)

Mimesis und Figura Doppelseite

Ich mache insbesondere auf die Textstelle darin aufmerksam:

Die Beschreibung der pointillistischen Rekonstruktion kann auch als mimetische Neuerschaffung beschrieben werden und schließt als solche Auerbach ein weiteres Mal an rhetorische Traditionen an, in deren Zentrum der Begriff der imitatio steht. Diese von Mimesis zu unterscheiden ist ein traditionell schwieriges Problem (…).

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Wie funktioniert Auerbachs Methode, eine beispielhafte Auswahl zu interpretieren?

Anstelle etwa einer gewaltigen Literaturgeschichte? Mit seinen eigenen Worten so wie die neue Literatur selbst:

(…) den großen äußeren Wendepunkten und Schicksalsschlägen wird weniger Bedeutung zugemessen, es wird ihnen weniger Fähigkeit zugetraut, Entscheidendes über den Gegenstand herzugeben; hingegen besteht das Vertrauen, daß in dem beliebig Herausgegriffenen des Lebensverlaufes, jederzeit, der Gesamtbestand des Geschicks enthalten sei und darstellbar gemacht werden könne; man hat mehr Vertrauen zu Synthesen, die durch Ausschöpfung eines alltäglichen Vorgangs gewonnen werden, als zur chronologisch geordneten Gesamtbehandlung, die den Gegenstand von Anfang bis Ende verfolgt, nichts äußerlich Wesentliches auszulassen bestrebt ist und die großen Schicksalswendungen gleich Gelenken des Geschehens scharf heraushebt. Man kann dies Vorgehen moderner Schriftsteller mit dem einiger moderner Philologen vergleiche, welche meinen, es lasse sich aus einer Interpretation weniger Stellen aus Hamlet, Racine oder Goethe und über die Epochen gewinnen als aus Vorlesungen, die systematisch und chronologisch ihr Leben und ihre Werke behandeln; ja man kann die vorliegende Untersuchung selbst als Beispiel anführen. Etwas wie eine Geschichte des europäischen Realismus hätte ich niemals schreiben können; ich wäre im Stoff ertrunken, ich hätte mich in die hoffnungslosen Diskussionen über die Abgrenzung der verschiedenen Epochen, über die Zuordnung der einzelnen Schriftsteller zu ihnen, vor allem aber über die Definition des Begriffs Realismus einlassen müssen; ich wäre ferner, um der Vollständigkeit willen, genötigt gewesen, mich mit Phänomenen zu befassen, die mir nur flüchtig bekannt sind, so daß ich mir die Kenntnisse über sie ad hoc hätte anlesen müssen, was, nach meiner Überzeugung, eine mißliche Art ist, Kenntnisse zu erwerben und zu verwerten; und die Motive, die meine Untersuchung führen, und um derentwillen sie geschrieben wird, wären unter der Masse von materiellen Angaben, die längst bekannt sind und in Handbüchern nachgelesen werden können, vollständig versunken.

Quelle Mimesis a.a.O. Seite 509

Ähnliches hat Adorno mehrfach angesprochen, z.B. als er zur „Charakteristik Walter Benjamins“ schrieb:

Die kritische Einsicht des späten Nietzsche, daß die Wahrheit nicht mit dem zeitlos Allgemeinen identisch sei, sondern daß einzig das Geschichtliche die Gestalt des Absoluten abgebe, hat er, ohne sie vielleicht zu kennen, als Kanon seines Verfahrens befolgt. Das Programm ist formuliert in einer Notiz zum fragmentarischen Hauptwerk, daß „das Ewige jedenfalls eher ein Rüsche am Kleid ist als ein Idee.“

Quelle Theodor W. Adorno: Prismen Kulturkritik und Gesellschaft / dtv München 1963 (Seite 235)

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Die Beziehung der Begriffe „Mimesis“ und „Figura“ zur Musik scheint mehr oder weniger zufällig, jedenfalls als eine äußerliche Assoziation, die mit der Sache selbst nicht zu tun hat. Und doch wird man leicht eines anderen belehrt, wenn man in Auerbachs Abhandlung auf den Namen Quintilian kommt, der in der musikalischen Figurenlehre eine Schlüsselstellung einnimmt; sie hat den einfachen Grund, dass die Rhetorik seit dem Mittelalter zu den wichtigsten Schulfächern gehörte und für alle Künste maßgeblich war. Aufgrund dieser Priorität besteht für den Literaten Auerbach noch kein Grund, die Musik zur Notiz zu nehmen, sehr wohl aber für die Musikwissenschaft, die Quellengeschichte dieses Begriffes auch im Blick auf die Musik zu betrachten.

[D]ie Rhetorik erfuhr nicht nur ihre Übertragung in die Musik, sie erlebte in dieser neuen Umgebung auch eine Übersteigerung ihrer Kunstmittel, die in der gewöhnlichen Prosarede, ja wohl auch in der Dichtung unmöglich gewesen wäre. Eine solche Häufung der Figuren, eine derartige Gegensätzlichkeit z.B. im Vortrag, wie es in der Musik nicht nur möglich, sondern sogar erwünscht ist, würde jeden Redner der Lächerlichkeit preisgeben.

Quelle Hans-Heinrich Unger: Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.-18. Jahrhundert / Konrad Triltsch Verlag Würzburg 1941 / Nachdruck Georg Olms Verlag Hildesheim 1985 (Seite 145)

In der Einleitung dieses wichtigen Werkes aus der Schule Arnold Scherings findet sich auch der Hinweis, wie es überhaupt mit der Verbindung zwischen Musik und Rhetorik, die noch bei Beethoven eine Rolle spielte, zuendegehen konnte:

Erst die in der Romantik aufkommende musikalische Laienästhetik hat diese engen Beziehungen zwischen den beiden Künsten Musik und Rhetorik zerrissen; diesen romantischen Ästhetikern war die Musik eine Kunst aus himmlischen Höhen und nebelhaften Fernen, schemenhaft und unbegreiflich, bis schließlich bei Hanslick die musikalische Ästhetik zu bloßem Formalismus erstarrte.

Stellt man diesen Anschauungen die Urteile der Ästhetiker etwa des 18. Jahrhunderts entgegen, so muß sofort die große Klarheit und Sicherheit in allen Fragen des praktischen Musiklebens und seiner ästhetischen Beurteilung in die Augen springen. Man hat sogleich den Eindruck, daß sie für ihre Ansichten und Beurteilungen ein festes, gesichertes Fundament besitzen, das der romantischen Ästhetik fehlt. Die Erklärung für diese Tatsache liegt auf der Hand: die Ästhetiker des 18. Jahrhunderts, wie Heinichen, Mattheson, Scheibe usw., waren mitten im praktischen Musikleben stehende M u s i k e r, die Ästhetiker der Romantik dagegen – Denker und Philosophen, unter deren Einfluß sich die auf festem Boden stehende Musikanschauung oft genug zu bloßer übersinnlicher Spekulation verflüchtigte. (a.a.O. Seite 1f)

Zu beleuchten wäre auch der verhängnisvolle Einfluss Rousseaus auf das romantische Denken, dem sogar Beethoven – obwohl seine kompositorische Wissenschaft noch aus den alten Quellen schöpfte – in dem Motto seiner Missa solemnis huldigte: „Von Herzen – Möge es wieder – Zu Herzen gehn!“ Und irgendwie stimmt das ja auch, wenn man das gesamte Handwerk, das beherrscht wird, verinnerlicht hat. Und schon glaubt jeder Laie, dort tief im Innern stehe es ihm von Geburt an zur direkten Verfügung. Und der Fachmann und Republikaner Beethoven bestätigt es von höchster Warte, – ohne dass es dadurch richtiger wird.

(Fortsetzung folgt)