Der junge Bach als Theologe, der den Tod besiegen will
Die äußere Form der Kantate BWV 106, „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ (Actus tragicus):
Quelle Alfred Dürr: Die Kantaten von Johann Sebastian Bach Band 2 dtv Wissenschaftliche Reihe Bärenreiter Kassel Basel Tours London Oktober 1971 (Seite 613).
Im folgenden Bild habe ich in dasselbe Schema die Tracks 09 bis 16 eingetragen, die man im nachfolgenden Link der Youtube-Aufnahme mit dem Cantus Cölln anklicken kann. Das Quadrat in der Mitte enthält den Chorsatz „Es ist der alte Bund: Mensch, du mußt sterben“, darin eingewebt das Sopran-Solo „Ja, komm, Herr Jesu“, das auch – zerflatternd – zum ausweglosen Ende führt, – beklommene Stille. Korrespondierend mit der Stille nach Tr. 15, letzte Worte: „Der Tod ist mein Schlaf worden.“
Die Aufnahme mit Cantus Cölln abrufen: Hier Tr. 9 bis 16
09. „Gottes Zeit …“ („Actus tragicus“), BWV 106: 1. Sonatina 20:02
10. „Gottes Zeit …“ („Actus tragicus“), BWV 106: 2a. „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ 22:37
11. „Gottes Zeit …“ („Actus tragicus“), BWV 106: 2b. „Ach, Herr, lehre uns bedenken“ 24:24
12. „Gottes Zeit …“ („Actus tragicus“), BWV 106: 2c. „Bestelle dein Haus!“ 26:26
13. „Gottes Zeit …“ („Actus tragicus“), BWV 106: 2d. „Es ist der alte Bund“ 27:23
14. „Gottes Zeit …“ („Actus tragicus“), BWV 106: 3a. „In deine Hände … meinen Geist“ 30:34
15. „Gottes Zeit …“ („Actus tragicus“), BWV 106: 3b. „Heute wirst du … im Paradies sein“ 32:46
16. „Gottes Zeit …“ („Actus tragicus“), BWV 106: 4. „Glorie, Lob, Ehr und Herrlichkeit“ 36:00
ZITAT Gardiner
Die Art und Weise, in der Bach die angedeuteten theologischen Prinzipien in Musik überführt, ist atemberaubend. (…) Um die theologische Dichotomie zwischen Gesetz und Evangelium zu spiegeln, entwirft er einen symmetrischen Grundriss. Dabei sind die einzelnen Sätze so angeordnet, dass wir als Zuhörer die Talfahrt des Gläubigen durch das Alte Testament (mit seinen apodiktischen Aussagen über die Unvermeidlichkeit des Todes) bis zu ihrem Tiefpunkt nachvollziehen können, und dann, durch das Gebet, sein Aufwärtsstreben hin zu einer spirituelleren Zukunft. Die Einwürfe der Solisten in beiden Abschnitten sind einander paarweise gegenübergestellt, so dass die chiastische Struktur und die bewussten Kontraste leicht nachvollziehbar sind. Beispielsweise enthält das erste der beiden Bass-Soli die respekteinflößende, alttestamentarische Mahnung: „Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben.“ Darauf antworten die Worte, die Christus am Kreuz zu dem Missetäter spricht: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Mit dem zweiten Solo überlappend erklingt Luthers Version des Lobgesangs des Simeon: „Mit Fried und Freud ich fahr‘ dahin: Der Tod ist mein Schlaf worden.“ Wenn Bach irgendwo in diesem Stück mit musikalischen Mitteln die physische Auslöschung darstellen wollte, dann hier, im Verhallen der beiden Gamben am Ende des Chorals – eine Mahnung an den frommen Zuhörer, dass unsere Todesstunde den Teufel zu verstärkter List und Tücke anspornen kann. Und als hätte er nicht bereits genug getan, um die Bibelworte in Musik zu übersetzen, geht Bach noch einen Schritt weiter und stellt dem Gläubigen durch die Abfolge der Tonarten allegorisch das Muster vor Augen, dem sein Leben folgt: Er moduliert von Es-Dur (der Grundtonart) abwärts bis nach b-Moll (die im Quintenzirkel am weitesten entfernte b-Tonart; später, in der Johannespassion, verwendete Bach sie im Rezitativ, das die Kreuzigung beschreibt) und wieder zurück nach Es-Dur (…). So entsteht wiederum eine symmetrische Struktur: für die unerbittlichen Vorschriften des Alten Testamentes ein Abstieg von Es-Dur über c-Moll, f-Moll und den erwähnten Moment absoluter Stille nach b-Moll, dann für die tröstlichen Texte aus dem Evangelium der Aufstieg über As.Dur und c-Moll zurück nach Es-Dur. Vielleicht soll dieses Muster den Zuhörer zum Nachdenken über die Stationen von Christi Leben anhalten, von der Geburt über Kreuzigung und Tod hin zur Auferstehung.
Quelle John Eliot Gardiner: BACH Musik für die Himmelsburg / Hanser Verlag München 2016 (Zitat Seite 208) Aus dem Englischen von Richard Barth.
Ich würde jetzt versuchen, das Gespräch gut zu verstehen, das die drei niederländischen Künstler über den Actus tragicus führen, samt den eingefügten Musikbeispielen, die offenbar aus der Generalprobe mit Publikum stammen. Später erst das Werk als Ganzes hören und die Situation erleben. Der Raum gehört dazu, wie die geschlossene Weltanschauung (und der Weltraum da draußen). Die geschlossene Form und die Momente absoluter Trostlosigkeit. Bitte klicken Sie direkt auf das Wort HIER unten neben dem Foto.
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Was mich an dem sympathischen Gespräch beeindruckt, sind die Ausführungen über die heikle Intonation der Blockflöten (Heiko ter Schegget), sie sei einkalkuliert – wie beim Orgel-Register „Vox humana“; schöner Vergleich der Stimmführung mit dem Händeringen im Schmerz. Die sehr langen, auf einem Bogen unterteilten Notenwerte auf der Gambe: extra schwierig; das lange Schweigen der Blockflöten, ehe sie endlich wieder spielen dürfen: im Paradies, auf dem warmen Bett der Gamben; ein wunderbares Lob auf die Choräle, wie sie über der unbeirrt weitergehenden Musik erscheinen: das ist unglaublich (sagt Mieneke van der Velden). Und plötzlich ist alles still, ein fantastischer Moment! Und man hat auf der Gambe sehr hoch zu spielen, sehr sanft. Der schönste Moment in der Kantate. Der schönste Moment und zugleich der schwierigste. – Und der arme Bass, er muss Christi Worte singen, und gerade zum Wort „Paradies“ muss er Töne singen, die er vorher nie zu singen hatte ( meint Jos van Veldhoven), und nirgendwo hat das Ego etwas zu sagen, alles geht in der Totalität auf. Und dann ist von Disziplin die Rede. Immerhin haben die sanften Flöten das letzte Wort.
Ich würde empfehlen, vor dieser ganzen Kantate, dieser vielfältig „durchbrochenen Arbeit“, doch noch in eine andere Kantate des jungen Bach hineinzuhören, nur die erste Strophe des Chorals, der ihr den Namen gibt: „Christ lag in Todesbanden“, BWV 4. Der Tod ist Thema der einleitenden Sinfonia und des zweiten zweiten Verses, aber es geht mir um den ersten: was ist das für eine Vision, wenn auf der fließenden Textur einer freudigen, kontrapunktischen Bewegung das ungeheure Sternbild des Chorals erscheint, unbeweglicher Urheber aller Bewegung! Luthers Osterchoral. Der Anfang jeder Melodiezeile wird in der bewegten Textur eilig vorweggenommen, „fluchtartig“ fugiert und alles miteinander verflochten, das Nahe und das Ferne… Ich schaue noch einmal in den Artikel über Bachs barocken Bewegungsmodus. Ist Absolutismus das rechte Wort? Absoluter Relativismus, jeder Ton hat gleichen Wert, – wem untergeordnet? Wer herrscht? Etwa der Choral? Oder einfach die unerbittliche Abfolge der kleinsten Werte? Woher nur kommt die Begeisterung, die sich unweigerlich einstellt?
Sagen Sie es selbst! Gehen Sie zurück zur Aufnahme mit Cantus Cölln; sie beginnt mit „Christ lag in Todesbanden“ – HIER – auf „Mehr anzeigen“ klicken – dann jedoch sofort auf Tr. 2 bei 1:31 (nach der Sinfonia).
Eine eingehende Analyse dieser Kantaten macht deutlich, dass Bach Luthers spätmittelalterliche Sichtweise geerbt hat, wonach das Leben ein täglicher Kampf zwischen Gott und dem Satan ist (BWV 4) (….). Für jedes dieser frühen Werke hat Bach einen ganz eigenen, überzeugenden Zugang ersonnen; jedes stellt eine höchst originelle musikalische Form der Bibelauslegung dar. Im Räderwerk des Glaubens übernimmt die Musik in erster Linie die Funktion, Gott zu loben und die Wunder des Universums widerzuspiegeln.
Quelle John Eliot Gardiner: BACH Musik für die Himmelsburg a.a.O. Seite 183
Und nun endlich sind wir reif für eine vollständige Aufführung der Kantate BWV 106 Actus tragicus, die Trauermusik „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ von Johann Sebastian Bach. Im Kirchenraum, den das Internet für uns öffnet. Eingedenk aller Widersprüche und Paradoxien eines solchen Werkes in unserer Zeit. Ich zitiere noch einmal J. E. Gardiner:
Das eindrucksvollste Merkmal von Bachs Verschmelzung von Musik und Theologie ist allerdings jener Pausentakt im Zentrum der Kantate, zu dem es uns als Hörer unwiderstehlich hinzieht. Bachs Geniestreich, mit dem er die Glaubenskrise des Gläubigen und sein überwältigendes Angewiesensein auf Gottes Gnade illustriert, besteht darin, dass er die unmittelbar vorausgehenden Töne der Sopranistin harmonisch im Unklaren belässt – ihre Stimme verliert sich in einer verzweifelten Klage. Eine Auflösung, die zu einer stabilen Kadenz hinführen könnte, gibt es nicht einmal andeutungsweise. Und so ist es an uns, wie wir diesen Schluss in der nun folgenden Stille interpretieren.
Quelle John Eliot Gardiner: BACH Musik für die Himmelsburg a.a.O. Seite 209
Ein Problem, das sich heute gewiss vielen jungen Hörern stellt, sollte wenigstens erwähnt werden: muss man im christlichen Sinne gläubig sein, um diese Musik in all ihren Dimensionen zu erfassen? Bach hätte wohl heftig zugestimmt, zumindest war es sein Ziel, die zuhörende Gemeinde im (selbstverständlich: vorausgesetzten) Glauben zu stärken. Meine Antwort wäre klipp und klar: NEIN. Ich würde es auch keinem Christen abnehmen, dass er an den Teufel glaubt, den „Leibhaftigen“. Die Theologie steht heute ganz woanders, ich muss es aber – glaube ich – ebensowenig wissen, wie ich Luthers Theologie im Detail kennen muss. Bach jedoch hat sich 1742 die gesammelten Werke Luthers in einer teuren siebenbändigen Prachtausgabe angeschafft, obwohl er schon mehr theologische Bücher als mancher Pfarrer seiner Zeit besaß. Es war ihm ernst! Und heute wie damals gilt: der Tod ist eine ernste Sache, und das Böse ist nach wie vor, ja: mehr denn je in unserer Welt. Ob auch noch Hoffnung, – das ist die Frage. Aber ich würde darüber nicht nachdenken, solange diese Musik zu hören ist.
(In Gardiners Buch könnte man auf Seite 210 zu lesen beginnen, – ich kann nicht weiter abschreiben, wenn diese Musik wartet.)
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