„Erhebe dich du Schöne“
Wie lebt man als Sängerin in Addis Abeba? Wie in einem Dorf im Norden, nahe der alten Kaiserstadt Gondar?
Ob man sich dafür interessiert – ohne hinreisen zu wollen oder zu können – hängt davon ab, wie nah man den Menschen, ihrem Lebensgefühl und ihren Themen kommt, also: von der Qualität des Filmes. Ich fand ihn maximal.
Meine Vorprägungen: 1) der Name Ivo Strecker, die Begeisterung für seine ethnographische CD über die Hamar in Südäthiopien. Einmal hat er mich im meinem Kölner Büro aufgesucht (auf der Durchreise; er war auf dem Weg zu seiner Mutter in Halle in Westfalen.) 2 die Sängerin Aster Aweke, deren Gesangsstil mich faszinierte, daran konnte auch ihre westlich aufpolierte Band nichts ändern; ich wusste, dass sie in den USA lebte und durch dortige Produktionen berühmt geworden war.
Ein Interview mit Prof. Dr. Ivo Strecker über seinen Weg in die Musikethnologie HIER
Und nun schauen Sie den folgenden Film an, oder nur die ersten 15 Minuten und versuchen Sie auszusteigen. Es wird Ihnen ergehen wie mir, – ich konnte es schon gestern Abend nicht, war allerdings etwas unglücklich, weil die deutsche Untertitelung der Gesprächen nicht zu lesen waren (mangels Kontrast). Deshalb ging ich gleich anschließend auf die Suche im Internet, fand die Mediathek und kam medias in res – Untertitel lesbar und der Film wiederholbar bis August 2023 ! Situation: Ein Frau, die singt. Aufbruch in Addis Abeba zur Wiederbegegnung mit dem Dorf der Kindheit und der Mutter, die sie einst zu einem besseren Leben weggegeben hatte. Beim Gespräch – „Wie war ich als Kind?“ – fragt man sich mit Blick auf die Mutter unwillkürlich: Was geht in ihr vor? Ihr Miene verrät keinerlei Emotion, wird sie weinen oder lächeln, [sie weint] wer ist im Hintergrund anwesend, intime Situation, Kamera. Heute Nacht habe ich davon geträumt, es gab ein Publikum im Saal, jemand stand auf und sagte mit lauter Stimme: „Ich heiße Mahi Ismail von der DW. Ich war überall dabei!“ Ich wache auf, das ist doch nicht wahr: ihn traf ich zuletzt in Royan … (ich schaue nach: das neue Buch von Garaudy, damals noch voller Zukunft) März 1977 …ah, der Film soll an der richtigen Stelle weitergehen. Wir sind ein halbes Jahrhundert später. Wieder in Addis Abeba, Kirche hinter dem Wald, Choralsingen, Bauarbeiten, Gesänge – wohin soll das führen? Bäume werden gefällt, neuer Stadtteil, „Fendika“ Club Forts. 26:55 Lied mit einem Kreis beteiligter und begeisterter Zuhörer:innen, „Wachs und Gold“, eine neue Form der Poesie, die Kunst der Azmaris, mit Worten zu spielen …
https://www.3sat.de/film/dokumentarfilmzeit/erhebe-dich-du-schoene-100.html
Pressetext
Nardos‘ Lieder handeln vor allem von den Geschichten und der Kraft der äthiopischen Frauen. Ihren Spuren folgend, führt sie die Schweizer Filmemacherin Heidi Specogna durch ein sich rasant veränderndes afrikanisches Land.
Inmitten der Millionenmetropole Addis Abeba, wo chinesische Investoren mit flächendeckenden Hochhausprojekten das Gesicht der Stadt verändern, arbeitet die in einfachen Verhältnissen lebende Nardos daran, den Wünschen von Frauen mit ihrer Musik Ausdruck zu verleihen. Neben ihrem Alltag als Hausfrau und Mutter steht sie jede Nacht bis drei Uhr morgens als Sängerin für traditionelle Azmari-Musik auf der Bühne des Kulturklubs „Fendika“. In ihrem ersten eigenen Lied „Stand Up My Beauty“ spricht Nardos sich und anderen Frauen Mut zu, sich zu erheben und ihren eigenen Weg zu gehen.
Nardos Wude Tesfaw stammt aus einem Dorf in der Nähe der alten Kaiserstadt Gondar im Norden Äthiopiens, wo auch die Tradition der Azmari-Sänger verwurzelt ist. Nardos‘ Vater starb, als sie fünf Jahre alt war. Von klein auf wollte sie Sängerin werden, im Gesang fand sie Freude und Trost. Ihre Mutter widersetzte sich der Tradition, Mädchen in frühem Alter zu verheiraten, und gab Nardos mit sieben Jahren nach Addis Abeba zu ihrer Tante.
Dort erhielt Nardos in der Sonntagsschule ihre erste gesangliche Ausbildung. Als ihr Talent entdeckt und sie bald für öffentliche Auftritte in den Klubs von Addis Abeba angefragt wurde, geriet Nardos in Streit mit ihrer Tante und riss aus. Um ihr Leben zu finanzieren und sich als Sängerin weiterzuentwickeln, verdingte sie sich, wie viele junge Frauen vom Land, als Tagelöhnerin auf Baustellen in Addis Abeba.
Obwohl Nardos inzwischen eine bekannte und gefragte Sängerin ist, hat sie es weiterhin schwer, mit der Musik den Lebensunterhalt ihrer Familie zu bestreiten. Mit der Gruppe Ethiocolor bereist sie regelmäßig internationale Jazzfestivals – oft in Kooperation mit europäischen Bands. Ihr Haupteinkommen bezieht sie aber durch ihre Arbeit als Azmari im Kulturklub „Fendika“. Bei Gefallen steckt ihr das Publikum Geldscheine zu. Mal sind es weniger, mal mehr, aber es reicht selten.
Nardos‘ Musikprogramm entwickelt sich in Azmari-Tradition aus dem Stegreif und richtet sich nach den Wünschen des Publikums oder thematisiert aktuelle Notstände und Probleme. Die Inhalte der Texte entstehen in einer besonderen Form der traditionellen äthiopischen Poesie – „Wachs und Gold“ genannt -, ein Spiel mit Mehrdeutigkeiten und Metaphern.
Nach ihren vielfach ausgezeichneten Dokumentarfilmen „Carte Blanche“ (2011) und „Cahier Africain“ (2016) über die tiefgreifenden Nachwirkungen des Bürgerkriegs in der Zentralafrikanischen Republik widmet sich die Schweizer Filmemacherin Heidi Specogna in „Erhebe dich, du Schöne“ den Geschichten der Frauen eines anderen Landes des afrikanischen Kontinents.
Heidi Specogna, geboren in Biel/Bienne in der Schweiz, studierte Journalismus in Zürich und Filmregie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Seit 2003 ist sie Dozentin für Dokumentarfilm an der Filmakademie Ludwigsburg. Zu ihren zahlreichen Auszeichnungen zählen die Grimme-Preise 2008 und 2018, der Deutsche Filmpreis 2016 und der Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste, Berlin 2019.
Anmerkungen der Regisseurin und Drehbuchautorin Heidi Specogna
„Im Mittelpunkt des Films steht Nardos Wude Tesfaw, eine junge Sängerin aus Addis Abeba. In ständiger Reibung mit Alltagsproblemen, familiären Verpflichtungen und strenger Tradition möchte sie sich als eigenständige Künstlerin verwirklichen. Wie in meinen bisherigen Filmen nimmt ‚Stand up my Beauty‘ (Erhebe dich, du Schöne) einen Gedanken, einen losen Faden oder eine unbeantwortet gebliebene Frage aus dem vorangegangenen Werk zum Ausgangspunkt der neuen Filmreise. Aus ‚Cahier Africain‘ habe ich die Kraft und innere Freiheit getragen, mit der sich die Hauptprotagonistin zum Schluss des Films offenbart: Eine junge afrikanische Frau hat sich trotz Krieg und Trauma eine eigene Vision ihrer Zukunft bewahrt. Diesen Staffelstab nimmt Nardos in ‚Stand up my Beauty‘ auf. Die Entstehung ihres ersten eigenen Liedes, erzählt mit den Stilmitteln eines dokumentarischen Musicals – mit diesem Faden in der Hand beginnt eine über sechs Jahre dauernde Filmreise …
Zu Beginn der Arbeit beschäftigte uns vor allem die Frage der filmischen Haltung. Wie nähert man sich einer fremden Stadt im Umbruch? Addis Abeba, das seine Gestalt bereits während der äußeren Betrachtung quecksilbrig verformt und sich wie eine Krake auszubreiten scheint und dabei rücksichtslos soziale Realitäten schafft. Während der mehrjährigen Recherche- und Drehzeit zu ‚Stand up my Beauty‘ gibt es ein wiederkehrendes Ritual, uns der Stadt anzunähern: Mit dem Kameramann Johann Feindt suchen wir die immer gleichen sieben Plätze und Kreuzungen auf, richten die Kamera an derselben Position ein und halten in gleicher Brennweite fest, welche Veränderungen sich aus diesem Blickwinkel heraus in der Stadtlandschaft beobachten lassen. Frischer Beton, der sich über altes Gemäuer stülpt, ein Wald, der über Nacht abgeholzt worden ist, Häuser und Hütten, die sich in Staub aufgelöst haben und über denen die Frage schwebt: Wohin sind ihre ehemaligen Bewohner verschwunden?
Später, am Schneidetisch montiert der Editor Kaya Inan aus diesem Material die Sequenzen, die wir ‚Lauf der Zeit‘ nennen – eine Montage aus Überblendungen, die ‚Zeit‘ in verschiedenen Dimensionen sichtbar macht: die Beobachtung einer alten, gebückten Frau, die mit über Jahrzehnte eingeübten Handgriffen ein schweres Bündel Reisig auf ihren Rücken wuchtet. Bäume, die eben gerade gefällt, sich nun an als biegsame Baugerüste an chinesischen Wolkenkratzern hochziehen. Gähnende Brachlandschaften, die fragile Flüchtlingsunterkünfte aus Holz und Planen verschluckt haben. Eine Schlange junger Arbeitssuchende, die sich im Moloch Addis Abeba verflüchtigt – wohin bleibt offen.
Im weiteren Arbeitsprozess kreiert der Filmmusiker Hans Koch zu diesen Bildmontagen eine musikalische Haltung: Seine Klarinette stromert durch die von harten Gegensätzen zerklüftete Stadtlandschaft und setzt sich in Dialog mit dabei eingefangenen Tönen und zugeflogenen Geräuschen. Der dabei entstehende, durch virtuoses Sounddesign unterstützte atmosphärische Klangteppich, durchwirkt die ineinander geschichteten Bildmontagen und verleiht ihnen eine eigene Stimme. Die dokumentarische Begleitung der Entstehungsgeschichte Nardos‘ ersten eigenen Liedes webt sich in diese Montagestruktur und wird zum roten Faden des Films.
‚Ich habe einen großen Traum‘, sagt Nardos Wude Tesfaw, die Hauptprotagonistin zu Beginn des Films. Die Sängerin träumt davon, eigene Lieder zu schreiben und vorzutragen – Lieder, welche den Lebensrealitäten äthiopischer Frauen Gehör verschaffen. Nardos sammelt Fragen und begibt sich damit auf eine Reise. Zeile für Zeile schreiben sich die Alltagsbegegnungen mit Frauen und Mädchen in ihre erste eigene Komposition ein. Nardos ist eine gute Zuhörerin und die Gesprächspartnerinnen vertrauen und erzählen ihr bereitwillig – auch wenn die Themen schwer wiegen. Im Laufe des Films entstehen so die Fragmente eines Liedes, das zu Unabhängigkeit und Selbstbestimmung aufruft und Mädchen und Frauen auffordert, sich der sie benachteiligenden Tradition selbstbewusst in den Weg zu stellen. Nardos verleiht ihrem ersten Lied den Titel: ‚Stand up my Beauty‘.“