War es Heinrich Heine?
Der folgende Ausschnitt gehört zu einer Sendung, die ich am 22. September 2004 für die Musikpassagen in WDR 3 produziert habe (das vollständige Skript finden Sie hier). Rekapituliert also am 7. Juni 2017. Und jetzt noch einmal, mit gutem Grunde, hoffe ich. Am besten, Sie hören vorweg aufmerksam das Schumann-Lied aus der „Dichterliebe“, falls Sie es noch nicht kennen. Mich hat es seit Jugendzeiten verfolgt, wie auch viele andere Lieder und die der „Dichterliebe“ ganz besonders. (Etwas Geduld, falls es nicht sofort „anspringt“: per Hand auf 14:43 einstellen:)
ZITAT (Ausschnitt Sende-Manuskript)
Meine Damen und Herren, passt es Ihnen überhaupt, wenn ich an dieser Stelle zurückkomme auf das Heine-Lied: „Ein Jüngling liebt ein Mädchen…“?
Seit ich es kenne, habe ich es immer nur in der Vertonung Robert Schumanns gehört, ich fand es toll – und habe doch immer verdrängt, dass mir die Logik der Aussage nicht ganz einleuchtete. Um wieviel Personen geht es da eigentlich?
18) Schumann/Heine Dichterliebe Tr. 11 Ein Jüngling liebt… 1’01“
Wieso war jetzt der Jüngling übel dran, er war doch längst aus dem Spiel?
Am vergangenen Freitag war ich in der Kölner Philharmonie, in einem der schönsten Chor-Konzerte, die ich je gehört habe. Mit dem Balthasar-Neumann-Chor. Es war aber nicht nur die Qualität dieses Chores, sondern auch die dramaturgische Gestaltung des Programms, die dichte Kombination von gesprochenen Texten, Chor- und Sololiedern. Michael Heltau sprach, und er sprach unter anderem dieses Heine-Gedicht „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“, das ich bisher eigentlich nur in Schumanns Vertonung kannte und dessen zweite Strophe ich deshalb so gesprochen hätte:
Das Mädchen nimmt aus Ärger / den ersten besten Mann, /
der ihr in den Weg gelaufen; / der Jüngling ist übel dran.
So konnte ich das auch derartig falsch verstehen, als ob der Jüngling aus der ersten Strophe gemeint sei. Der war natürlich übel dran, aber warum jetzt schon wieder?!
Und nun las Michael Heltau folgendermaßen:
Das Mädchen nimmt aus Ärger / den ersten besten Mann, /
der ihr in den Weg gelaufen; / der Jüngling ist übel dran.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: dieser „Mann“, der erstbeste, ist natürlich auch der zuletzt genannte Jüngling, natürlich. Auch er ein Jüngling. Und der muss nun lebenslang den ganzen Frust seiner Frau ausbaden, keineswegs der Jüngling aus der ersten Strophe, der hat vielleicht sogar noch einmal Glück gehabt.
Die Personenzahl bleibt gleich, fünf. Zwei Paare und der erste Jüngling
Sehen Sie, so kann man nach Jahrzehnten des Irrtums durch einen einzigen Gang in die Philharmonie messbar klüger werden!
Wem also bricht das Herz entzwei? Na, jedenfalls nicht uns Rechenkünstlern!
19) Schumann/Heine Dichterliebe Tr. 11 Ein Jüngling liebt… 1’00“
Robert Schumann, Heinrich Heine; vorhin mit Olaf Bär, jetzt mit Fritz Wunderlich.
Ende des ZITATS und freie Fortsetzung nach rund 15 Jahren, anhand eines Buches, das ich damals nicht recht zu schätzen wusste:
Marcel Reich-Ranicki: Ein Jüngling liebt ein Mädchen / Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen / Insel-Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2001
Dieses Büchlein muss ich damals schon besessen haben, aber die Interpretation ergab nichts zu meinem (möglichen) Missverständnis, das der Verfasser offensichtlich nicht geteilt hätte; er kannte von vornherein den realen Hintergrund:
Die Sache ist längst geklärt: Der junge Heine liebte seine Hamburger Cousine Amalie, die von ihm nichts wissen wollte, da sie in einen anderen verliebt war; dieser wiederum gab einem anderen Mädchen den Vorzug – weshalb die verärgerte Amalie eiligst einen John Friedländer aus Ostpreußen heiratete. Heine ging leer aus und war, wie man sich denken kann, enttäuscht und verbittert. Er hat sich darüber in Briefen an Freunde mehrfach geäußert – nicht sehr ausführlich, doch unmißverständlich.
So auf Seite 54. Womit ich meinerseits nichts anfangen konnte, noch weniger mit Reich-Ranickis Vorbehalt gegenüber Robert Schumanns Vertonung; er sagt: „Den düsteren, den alarmierenden Hintergrund hören wir sowenig wie den Aufschrei des Liebenden. Die zwischen den Zeilen verborgene Dramatik hat Schumann übersehen. Da hilft auch nicht das Ritardando bei wem sie just passieret. Nach den letzten Worten kehrt die Begleitung sofort zum ursprünglichen Zeitmaß zurück, dem raschen, dem heiteren.“
Ja, wieso denn nicht?! Wäre ein Trauermarsch passender? Die verborgene Dramatik wird einem auch im gesungenen Text niemals entgehen, wenn man nur weiß, von welchem Jüngling die Rede ist. Beide Sänger, sowohl Bär als auch Wunderlich, dürften allerdings das Wörtchen der vor Jüngling etwas dehnen. Aber auf diese helfende Hervorhebung ist selbst Reich-Ranicki nicht gekommen, auch er denkt nicht nur, dass der Jüngling genau jener ist, mit dem das Gedicht anhebt, er weiß es sogar, und dementsprechend betont er in der Rezitation. Er meint: „Heine ging leer aus“. Der arme!
Und ich? Ich bin enttäuscht, denn ich war – mit Heltau – der felsenfesten Überzeugung, dass es ein John Friedländer aus Ostpreußen war, dessen Namen ich aber nicht kannte und auch jetzt nicht zur Kenntnis nehmen will. Es war ein weiteres Glied in der Kette derer, die – nicht gerade leer ausgehen – die aber ganz übel dran sind. Und am Ende bricht auch ihm das Herz entzwei, wenn auch weniger dramatisch.
Was sagen Sie? Das ist doch eine alte Geschichte!
Wikipedia folgt übrigens der Interpretation von Reich-Ranicki, lesen Sie hier. Dann bleibe ich eben allein mit Michael Heltau…
Und festzuhalten bleibt aus meiner Sicht auf jeden Fall: für die Interpretation von Lyrik spielt der reale (lokale) Ausgangspunkt überhaupt keine entscheidende Rolle. Da würde ich ausgehen von Walter Killy „Wandlungen des lyrischen Bildes“, – bezogen auf das Goethe-Gedicht: „Früh, wenn Thal, Gebirg und Garten…“, das sich wiederum auf den 5. September 1828 bezog, als Goethe etwa in meinem jetzigen Alter war. Einst von mir – einem Jüngling zweifellos – gelesen „im wunderschönen Monat Mai, als alle Knospen sprangen“: 1959. Könnte einem da nicht auch heute noch das Herz im Leib zerspringen?
Zurück in die Schule (des Lebens)! Z.B. hier.
ENDE